Jürgen Hargens: Ein Stück Bescheidenheit und Demut
Beeindruckende Begegnungen … So oder so ähnlich hat Tom Levold seine Einladung gerahmt. Ich habe lange nachgedacht, ob ich mich beteiligen sollte. Dann ließ ich viele Begegnungen „an meinem inneren Auge“ vorbeiziehen, wobei ich natürlich gestehen muss, dass ich nicht mehr jede Begegnung sehen konnte - Gedächtnisausfall. Je länger ich schaute, desto mehr merkte ich, dass gerade die Begegnungen im professionellen Feld mit hoch angesehenen oder „ganz normalen“ KollegInnen immer auch Beeindruckendes für mich zeigten, doch das waren, glaube ich inzwischen, nicht die Begegnungen, die mich nicht nur beeindruckt, sondern auch geprägt haben. Das waren für mich ganz andere - und es hat Dekaden gedauert, bis ich das so für mich nicht nur respektieren, sondern auch akzeptieren konnte. Je älter ich geworden bin, je mehr ich in die „übliche Sozialisation“ geraten bin (Schule, Ausbildung, Beziehung, Kinder = Familie, berufliche „Karriere“, soziale Absicherung etc.), desto stärker machten sich Zweifel breit - Zweifel, ob ich mich wirklich so sehr von meiner Herkunftsfamilie, von meinen Eltern unterschied, wie ich es mir meist und immer wieder gewünscht und erhofft hatte. In den Momenten, wo ich das Gefühl hatte, ziemlich ehrlich mir gegenüber zu sein, stellte ich fest, dass ich sehr, sehr vieles machte, was genau dem entsprach, was meine Eltern auch gemacht hatten und was ich nicht unbedingt und eindeutig positiv bewertete. Wobei - das ist Teil der Geschichte - das, was ich machte, für eine „fremde BeobachterIn“ nun durchaus nicht genau so aussah, wie das, was meine Eltern taten. Denn das konnte nur ich erkennen und darüber erschrak ich. Das betraf, wie ich meine Beziehung(en) lebte und später - da fing ich an, mir Vorwürfe zu machen - wie ich mit meinen Kindern umging. Der äußere Schein sah „gut“ aus, nur in mir grummelte es, weil ich Sachen machte, die mir zuwider waren … und die ich trotz stärkstem Bemühen nicht abstellen konnte. Klar, solche grundsätzliche Fragen und Selbstzweifel sind nicht ständig präsent, tauchen immer wieder zwischendurch auf - eher störend. Es dauerte, bis ich für mich eine Möglichkeit fand, das zuzulassen und damit zu leben. Das war zeitlich etwa dann, als ich merkte, dass meine Eltern alt geworden waren. Alt bedeutet, sie konnten sich nicht mehr so verhalten, wie ich es dachte - so körperlich fit, aktiv, unternehmungslustig. Sie mussten ihr Leben an ihre körperlich-biologische Entwicklung „anpassen“. Das führte zu ganz anderen und neuen Fragen bei mir, der ich noch „in der Blüte meines Lebens“ stand - denn ich konnte ja nicht ausschließen, mich auch „so“ zu entwickeln. Und ich begann, mir andere - wie ich heute weiß und erlebe: hilfreichere - Fragen zu stellen. Eine dieser Fragen betrifft das, was Tom mit „beeindruckenden Begegnungen“ meinen könnte. Ich fragte mich, wenn ich der Sohn dieser Mutter und dieses Vaters bin, was habe ich - neben all dem, was ich nicht wollte - von ihnen gelernt und übernommen, was einfach „gut“ war und wofür ich ihnen dankbar sein kann. Da veränderte sich mein Blick, meine Achtung und mein Respekt wuchsen - und ich habe auch gelernt, einen anderen Blick „hinter die Kulissen“ zu werfen, einen Blick, der im systemisch-lösungsorientierten Bereich mit dem Begriff der „guten Gründe“ für das, was Menschen tun, belegt wird. Das half, und je mehr ich darüber nachdachte, desto gelassener wurde ich. Das war eine beeindruckende Begegnung, die ich jahrzehntelang machen durfte und bei der es fast genau so lange dauerte, ehe ich merkte, wie beeindruckend sie war. Davon profitiere ich und dafür bin ich dankbar. Ja klar, ich habe natürlich nicht das gesagt, was ich alles daraus gelernt habe. Das wäre auch, glaube ich, vermessen. Ein Stück Bescheidenheit und Demut, einen großen Respekt vor den Lebensentwürfen anderer Menschen und die Bereitschaft, öfter einmal einen Schritt zurückzutreten - das ist es dann auch schon auf der allgemein-grundsätzlichen Ebene. Alles andere behalte ich für mich. Glaub ich. Diese Beschreibungen, all diese Gedanken „sind“ durchaus nicht wahr oder objektiv, sondern bleiben für mich eingebettet in systemisch-konstruktivistisches Denken - sie „sind“ eine Geschichte, eine Erzählung, ausgewählt aus vielen möglichen anderen (gleichermaßen gültigen) Geschichten. Jay Efran hat es sehr pointiert auf den Punkt gebracht: „Menschen sind unverbesserliche und geschickte GeschichtenerzählerInnen – und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen.“ (1992, S. 115) Dabei bevorzuge ich bestimmte Geschichten, nämlich solche, die Howard mit dem schönen Satz rahmt: „Einige Geschichten sind einfach ‚hoffnungsvoller’ als andere“ (1989, S. 141).
Efran, Jay S. et al. (1992). Sprache, Struktur und Wandel. Bedeutungsrahmen der Psychotherapie. Dortmund: modernes lernen Howard, George S. (1989). A Tale of Two Stories. Excursions into a Narrative Approach to Psychology. Notre Dame, IN
|