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Vorabdruck aus Fritz B. Simon: Einführung in die Theorie des Familienunternehmens

Simon: Einführung in die Theorie des Familienunternehmens Verlag Carl Auer Heidelberg 2012 (Frühjahr)

126 Seiten, brosch.

Preis: 13,95 €

ISBN-10: 3896708430
ISBN-13: 978-3896708434

Verlagsinformation:
Familienunternehmen stellen mehr als zwei Drittel aller Unternehmen in Deutschland. Trotz ihrer unbestritten großen volkswirtschaftlichen Bedeutung bieten die zuständigen Wissenschaftsdisziplinen wie Betriebswirtschaftslehre oder Soziologie bisher keine tragfähigen Modelle zur Beschreibung dieser besonderen Kopplung von Familie und Unternehmen. Fritz B. Simon legt mit dieser Einführung eine verständliche Theorie für alle vor, die praktisch und wissenschaftlich mit Familienunternehmen zu tun haben, sei es als Familienmitglied, als Angestellter eines solchen Unternehmens, als Berater oder Forscher. Auf Grundlage der System- und Gesellschaftstheorie Luhmann‘scher Prägung und des Konstruktivismus werden Familie und Unternehmen als soziale Systeme mit je eigener Kommunikation und Dynamik beschrieben, deren Zusammentreffen in einem Familienunternehmen die Beteiligten vor eine Reihe von Paradoxien und Doppelbindungen stellt. Auf diese Weise gelingt es, die Spielregeln der Systeme zu verstehen, Widersprüche zu managen und Erfolg versprechende Handlungsanweisungen abzuleiten. Das Buch bietet Orientierung für den Führungsalltag bis hin zum Mehr-Generationen-Familienunternehmen, für den Umgang mit Konflikten und Machtkämpfen und nicht zuletzt für eine erfolgreiche Nachfolgeregelung.

Über den Autor:
Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut. Mitbegründer der Management Zentrum Witten GmbH und der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 240 wissenschaftlichen Fachartikeln und 27 Büchern, die in 13 Sprachen übersetzt sind.

Kap. 5: „Das Unternehmen“ (S. 85-98)


5.1 Entscheidungsprämissen

Unternehmen sind ja wundersame Gebilde. Da arbeiten eine Menge von Menschen zusammen, manchmal nur eine Handvoll, manchmal Hunderttausende, und es gelingt ihnen gemeinsam, Produkte und/oder Dienstleistungen zu entwickeln, zu produzieren, zu verkaufen usw., die ein Einzelner nie hätte herstellen können. Diese Form auf Arbeitsteilung beruhender Leistung erscheint uns heute selbstverständlich. Aber »selbstverständlich« heißt ja im täglichen Sprachgebrauch nicht, dass irgendjemand etwas versteht, sondern nur, dass er es als gegeben hinnimmt. Auf die Frage, wie es gelingt, solch eine große Zahl autonomer Menschen zu einer sinnvollen, sachdienlichen und zielführenden Zusammenarbeit zu bringen, sucht die Organisationstheorie Antworten.

Die systemische Organisationstheorie bzw. die Systemtheorie der Organisation (Luhmann 2000; Simon 2007) liefert die für unsere Zwecke nützlichsten Modelle. Denn sie betrachtet Organisationen (wie auch Familien) als Kommunikationssysteme, allerdings mit anderen, spezifischen Spielregeln. Da Unternehmen als Organisationen kategorisiert werden können, kann das, was für Organisationen im Allgemeinen gesagt werden kann, auch für Unternehmen gesagt werden. Im Unterschied zur Familie wird man in diesen Typus sozialen Systems nicht hineingeboren, sondern es bedarf der doppelten Entscheidung. Auf der einen Seite muss eine Organisation (repräsentiert durch Personen, die dazu im Namen der Organisation autorisiert sind) die Entscheidung treffen, einem Menschen eine Arbeitsstelle zu geben, und dieser Mensch muss seinerseits entscheiden, sie anzunehmen. Die Mitgliedschaft in einer Organisation ist immer an eine Einigung, einen Vertrag, eine gemeinsame Entscheidung gebunden.

Jedes Individuum, das einen Arbeitsvertrag mit einer Organisation unterschreibt, verpflichtet sich, ab nun seine Handlungen an charakteristischen, vorgegebenen Prämissen zu orientieren (= »Entscheidungsprämissen«). Man gibt sehenden Auges und »freiwillig« Teile seiner Freiheit und Autonomie auf, und im Gegenzug erhält man eine finanzielle Honorierung dafür, dass man seine Entscheidungen nach Prämissen trifft, die man sich nicht selbst ausgesucht hat (Luhmann 2000, S. 222 ff.).

Das Akzeptieren solcher Entscheidungsprämissen (kein schöner Begriff, aber er ist nun mal in der Organisationstheorie eingeführt) entspricht der Bereitschaft, bestimmte Spielregeln nicht infrage zu stellen, wenn man ein (anderes) Gesellschaftsspiel spielt. Auch beim Skat, Monopoly oder Mensch-ärgere-dich-nicht gelingt die Koordination der »an sich« autonomen Mitspieler nur, wenn sie bestimmte Spielregen (= Entscheidungsprämissen) akzeptieren, die ihnen verbieten, den anderen in die Karten zu schauen, mehrmals zu würfeln oder, beispielsweise, sich nur dann nach den Würfeln zu richten, wenn die zu den eigenen Zielen passenden Zahlen geworfen werden …

Im Einzelnen lassen sich vier Typen von Entscheidungsprämissen in Organisationen (Unternehmen) benennen, die ausreichen, um auch Tausende von Akteuren bzw. deren Aktionen zu koordinieren und zu gemeinsamem, zielgerichteten Handeln zu befähigen.

1. Personen:

Wenn Menschen zusammen arbeiten, dann lernen sie sich gegenseitig kennen (bzw. sie glauben nach einiger Zeit zumindest, einander zu kennen). Sie entwickeln Bilder voneinander, über den Charakter und die Persönlichkeit des anderen – und lassen sich im Umgang miteinander von diesen Bildern leiten.

Um hier Missverständnissen vorzubeugen: Auch wenn man jemanden zu kennen meint und eine lange Geschichte mit ihm durchlaufen hat, man kann niemals in ihn und seine Psyche hineinschauen. Deren Dynamik ist jedem selbst ja nur begrenzt durchschaubar und bewusst. Worauf man reagiert, ist immer nur das Bild des anderen. Dies ist gemeint, wenn davon gesprochen wird, dass Personen als Entscheidungsprämissen im Unternehmen fungieren. Es ist das Image, das jemand hat.

Das gilt nicht nur für Kollegen, sondern auch (und ganz besonders) für Chefs. Wenn ein Vorgesetzter das Image hat, ein »scharfer Hund« zu sein, dann werden seine Mitarbeiter dies bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Gilt er als fürsorglicher Patriarch, ist dies eine Prämisse, die andere Entscheidungen zur Folge hat.

Man stellt sich auf die Personen, mit denen man es zu tun hat, und ihre (unterstellten/erlebten/aus dem Verhalten abgeleiteten) Eigenschaften ein, wenn man in einem Unternehmen arbeitet.

2. Strukturen:

Die Kommunikation in Organisationen ist kanalisiert, das heißt, es muss nicht jeder mit jedem kommunizieren (anders als in der Kleinfamilie oder in einem Team), sondern es gibt vorgeschriebene Kommunikationswege. Untergebene haben Vorgesetzten zu berichten, die wiederum ihnen was »zu sagen« haben usw. Es gibt hierarchische Über- und Unterordnungsbeziehungen, die mit Rollen und Positionen verbunden sind, und es gibt die Bildung von Untereinheiten, Abteilungen, Bereichen usw.

Formale Strukturen, wie sie etwa in einem Organigramm dargestellt werden, dienen ebenfalls als Entscheidungsprämissen. Wer in einem Unternehmen arbeitet, hat zu akzeptieren, dass er im Zweifel an die Entscheidungen seiner Vorgesetzten gebunden ist. Wenn er dies nicht berücksichtigt, hat er mit Sanktionen zu rechnen.

Durch die Einrichtung von Hierarchien lassen sich hochkomplexe, soziale Strukturen bilden, die es erlauben, die Handlungen nicht nur von Einzelnen, sondern von ganzen Abteilungen, Bereichen oder anderen Organisationseinheiten arbeitsteilig zu organisieren. Eine Abteilung sorgt für Forschung und Entwicklung, eine andere für den Vertrieb usw., aber die Funktionen beider werden für das Überleben des Unternehmens benötigt.

Neben den formalen Strukturen entwickeln sich aber – selbstorganisiert und nicht zielgerichtet – informelle Strukturen. Man kennt sich, trifft sich am Fotokopierer, geht gemeinsam kegeln, knüpft Kontakte … Deshalb bildet sich in jedem Unternehmen neben den offiziellen Kommunikationswegen ein davon abweichendes Netz von Kommunikationskanälen, das ebenfalls die Entscheidungen des Einzelnen beeinflusst. So bilden formale und informelle Strukturen gemeinsam den zweiten Typus von Entscheidungsprämissen.

3. Programme:

Organisationen haben mit Menschen gemeinsam, dass sie Rezepte anwenden können und sie wiederholen, wenn sie sich als erfolgreich erweisen. Wie bei Kochrezepten bestehen die Programme in Organisationen darin, dass ziemlich genau festgelegt wird, was wann in welcher Reihenfolge getan werden muss. Üblicherweise wird dies in Handbüchern etc. festgelegt oder aber als Routine praktiziert.

Als Beispiel können hier bestimmte Prozesse in der Produktion betrachtet werden. Die beteiligten Mitarbeiter folgen einem vorgegebenen Handlungsschema, das mit einiger Sicherheit gewährleistet, dass ein erwünschtes Ergebnis erzielt wird, etwa die Herstellung einer Ware, die vorgegebenen Qualitätsstandards entspricht. Auf diese Weise können sachliche Ziele erreicht und immer wieder reproduziert werden, obwohl die beteiligten Mitarbeiter wechseln (im Urlaub sind, krank werden, in den Ruhestand gehen usw.).

Solche Programme werden üblicherweise eingeführt, um bestimmte Zwecke zuverlässig zu erreichen (= »Zweckprogramme«) oder um auf bestimmte Umstände, deren Eintreten wahrscheinlich, aber zeitlich nicht vorhersehbar ist, zu reagieren (= »Konditionalprogramme«). Zweckprogramme folgen einer »Um … zu …«-Logik (um einen Kirschkuchen zu backen, muss man …), Konditionalprogramme einer »Wenn …, dann …«-Logik (wenn das Haus brennt, dann muss man …).

Was beide Typen von Programmen gemeinsam haben: Es sind die Entscheidungsprämissen, welche den Handlungsspielraum ihrer Anwender am meisten einschränken. Nur so ist die große Austauschbarkeit der konkreten Akteure zu erreichen, die auf der Sachebene (Produkte, Dienstleistungen, Prozesse) zur Einhaltung zuverlässiger Ergebnisse nötig ist (dass es im konkreten Alltag trotzdem einen Unterschied macht, wer solche Programme anwendet, sei angemerkt: Auch wenn unterschiedliche Köche nach demselben Rezept kochen, schmeckt das Essen nicht völlig gleich).

4. Unternehmenskultur:

Wenn Menschen miteinander leben bzw. arbeiten, dann gibt es nicht nur die Notwendigkeit, sich in Sachfragen miteinander abzustimmen, sondern es bedarf einer Unmenge von stillschweigenden Übereinkünften, um das Zusammenleben zu regeln und den Alltag zu überstehen. Das beginnt bei der Kleiderordnung (man kommt nicht im Schlafanzug zur Arbeit), man grüßt sich und wünscht sich gegenseitig einen guten Tag (obwohl es einem eigentlich vollkommen egal ist, wie die Qualität der Tage der anderen ist), man spricht bestimmte Themen an, andere nicht (»Sie sehen ja toll braun aus. Waren Sie im Urlaub?« vs. »Was haben Sie denn da für einen scheußlichen Pickel auf der Nase? Haben Sie schon wieder zugenommen?«). All dies ist nicht sach-orientiert, sondern dient dem friedlichen Zusammenleben – nicht nur in Organisationen, sondern auch in größeren kulturellen Einheiten (Regionen, Nationen etc.). Solche Spielregeln des sozialen Lebens sind mit der Grammatik einer Sprache vergleichbar. Sie bestimmen die Formen, die im Verhalten als selbstverständlich erwartet werden. Diese Selbstverständlichkeit sorgt dafür, dass einem die Regeln der eigenen Kultur erst auffallen, wenn man mit Leuten konfrontiert ist, die einer anderen Kultur angehören.

Unternehmenskulturen entwickeln sich im Laufe der Geschichte selbstorganisiert, ohne dass sie beschlossen werden. Dennoch sind sie bindend als Entscheidungsprämissen, denn wer sich gegen die mit ihnen verbundenen Erwartungen vergeht, kickt sich selbst aus dem System, das heißt, er signalisiert sein Nicht-Dazugehören.

Unternehmenskulturen können sich über lange Zeit stabil erhalten, denn sie fungieren auch als Prämissen bei der Rekrutierung des Personals. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden nur Mitarbeiter eingestellt, die sich mit der jeweiligen Kultur identifizieren können, weil sie mit ihren persönlichen Vorlieben, Anlagen und Präferenzen zu ihr passen. So stabilisiert die Unternehmenskultur das Selbstbild der Mitarbeiter, die ihrerseits die Kultur am Leben erhalten.

Dass Unternehmenskulturen in Familienunternehmen sich von der in börsennotierten Konzernen unterscheiden, sei hier vorweggenommen. Die enge Kopplung an die Unternehmerfamilie hinterlässt Spuren.

Dass kulturelle Muster selbstorganisiert entstehen, hat zur Folge, dass über sie nicht entschieden werden kann. Das verbindet sie mit den informellen Strukturen. Sie werden gelebt, und wenn das Topmanagement beschließen sollte, dass es nunmehr andere informelle Strukturen und eine andere Kultur im Unternehmen geben sollte, so ist das naiv. Denn beides sind Kommunikationsmuster, die sich durch das Zusammenwirken vieler Akteure ergeben, ohne dass irgendjemand einseitig die Kontrolle über sie hat (= »nicht entscheidbare Entscheidungsprämissen«).

Über Programme, formale Strukturen und Personen kann hingegen entschieden werden. Es können Hierarchieebenen abgebaut oder eingebaut, Departments aufgelöst oder neu begründet, Über- und Unterordnungsverhältnisse verändert werden usw., das heißt, formale Strukturen können bewusst und ziel-orientiert konstruiert werden. Das gilt auch für Programme, wenn z. B. neue Prozesse beschlossen werden. Und auch über Personen kann entschieden werden, indem die eine auf den Posten X, die andere auf die Stelle Y gesetzt und die dritte entlassen wird.

Über diese »entscheidbaren Entscheidungsprämissen« lassen sich Unternehmen trotz all ihrer Komplexität »steuern«. Und im Blick auf sie lässt sich auch untersuchen, was Familienunternehmen von anderen Unternehmen unterscheidet.


5.2 Das Gründerunternehmen

Die Person des Gründers (der Gründerin) ist für die Anfangszeit des Unternehmens von zentraler Bedeutung. Die von ihr gezeigten Persönlichkeitsmerkmale wie Initiative, Ideenreichtum, Autonomie, Zuversicht, Risikobereitschaft sind es, an denen die anfangs wenigen, später manchmal auch Tausende von Mitarbeitern ihre Entscheidungen orientieren. Insofern ist in der Anfangszeit zwischen der Person und der weitgehend von den Gründern geprägten Unternehmenskultur als Entscheidungsprämisse nicht klar zu unterscheiden.

Diese familienartige Personenorientierung ist ein wichtiger Grund für den Erfolg des Gründers. Er oder sie umgibt sich mit Leuten, die zu ihm oder ihr passen. Die persönliche »Chemie« stimmt. Das gilt sowohl für Gründer, die sich – wie in der Vergangenheit eher üblich – mit zuverlässigen Zuarbeitern umgeben, wie auch für diejenigen, die – heute weit zeitgemäßer – ein kompetentes Team um sich herum scharen. In beiden Fällen entwickelt sich eine Kultur, die Ähnlichkeiten mit den Interaktionsmustern in Familien hat. So, wie die Familienstrukturen vor 100 oder 150 Jahren anders waren als heute (man sagte z. B. noch »Sie« zu seinen Eltern), bedeutet Familienartigkeit heute etwas anderes als damals. Die Umgangsformen sind weniger formal, die Distanzen zwischen den Beteiligten geringer, die gezeigte Emotionalität ist größer usw.

Insgesamt kann jedenfalls festgestellt werden, dass in der Gründungssituation formale Strukturen keine große Bedeutung haben. Eine Gruppe von Vertrauten baut gemeinsam das Unternehmen auf. Man kennt sich gut, jeder kann die Kompetenzen und Vorlieben des anderen einschätzen, und diesen persönlichen Qualitäten und Defiziten entsprechend werden die Aufgaben verteilt: ein personenorientierter Selbstorganisationsprozess. Die Verteilung der Zuständigkeiten und Pflichten erfolgt aufgrund der aktuellen Zusammensetzung der Gruppe.

Das ändert sich und bleibt trotzdem irgendwie als Konstante erhalten, wenn das Unternehmen wächst. Wenn die Zahl der Mitarbeiter die Größe einer Gruppe (ca. zwölf Personen) überschreitet, in der jeder mit jedem alltäglich in Face-to-Face-Kommunikation eintreten kann, bedarf es der Bildung formaler Strukturen und damit einer Organisation.

Aus der um den Gründer versammelten Gruppe von Individuen wird mit der Zeit ein Leitungsteam, wobei jeder um sich – d. h. an seiner Person orientiert – Organisationseinheiten bildet. Sie stellen so etwas dar, wie die Erweiterung der eigenen Person und Persönlichkeit. Die Folge ist, dass das Unternehmen – auch wenn es schließlich Tausende von Mitarbeitern hat – eine vollkommen unverwechselbare Struktur aufweist. Sie ist nicht (!) von der Sach- oder Funktionslogik des Geschäfts, beispielsweise der Funktionalität von Forschungs- und Entwicklungsprozessen, der Produktion, des Vertriebs usw. bestimmt, sondern von einer Beziehungslogik, die mehr oder weniger zufällig von der personellen Zusammensetzung des Gründungs-Leitungsteams bestimmt ist (1).

Das kann über lange Jahre ein Erfolgsmodell sein, aber es birgt Risiken. Das größte ist, dass ein so organisiertes – in seiner Struktur einzigartiges – Unternehmen langfristig nicht nur ein Nachfolgeproblem hat, sondern viele. Denn keine der genannten Personen, um die irgendwelche auf Maß geschneiderte Organisationseinheiten geschaffen wurden, kann ohne Weiteres ersetzt werden. Man müsste gewissermaßen nicht nur den Gründer klonen, sondern auch seine engsten Mitarbeiter. Denn es ist unwahrscheinlich, auf dem Arbeitsmarkt Menschen zu finden, die dasselbe Kompetenzprofil aufweisen, wie die einzelnen Mitglieder des Gründerteams. Sie sind schlicht und einfach nicht austauschbar. Das aber ist für jedes Unternehmen langfristig tödlich. Jeder einzelne Mitarbeiter – auch der oder die Chefs – müssen austauschbar sein, damit das Unternehmen die Chance hat, älter als der Gründer oder einzelne wichtige Mitarbeiter zu werden.


5.3 Unternehmenskultur

Je älter das Unternehmen wird und je größer der Abstand zu seiner Pionierphase ist, umso mehr passen sich seine Strukturen denen an, die auch in anderen Unternehmen zu finden sind. Im Einzelnen braucht deshalb hier nicht auf die unterschiedlichen Organisationsmodelle – von der klassischen Differenzierung nach Funktion bis zur Prozessorganisation (»from order to cash«) – eingegangen zu werden. Auch in Bezug auf Programme als Entscheidungsprämissen lassen sich bei Familienunternehmen keine spezifischen Unterschiede beobachten. Was aber als zentrales Charakteristikum vieler (nicht aller) Familienunternehmen angesehen werden muss, ist ihre spezifische Unternehmenskultur.

Hier werden Traditionen aus der Gründungsphase fortgeschrieben, die den einzelnen Personen – seien es Mitarbeiter, Lieferanten oder Kunden – einen hohen Stellenwert einräumen. Der Einzelne fühlt sich nicht gleichermaßen austauschbar wie in anderen Unternehmen. Wenn eine Familie als Eigentümer in der Verantwortung für ein Unternehmen ist, fließen – bewusst oder unbewusst – familienartige Werte in die Unternehmenskultur ein. Das Unternehmen wird von der Familie und die Familie wird durch das Unternehmen (seine Mitarbeiter) beobachtet. Deshalb können im Unternehmen auf Dauer keine Entscheidungen getroffen werden, die dem Selbstverständnis der Familie zuwiderlaufen. Falls das Unternehmen obendrein noch den Namen der Familie trägt, ist es im Interesse jedes Familienmitglieds, dass das Ansehen des Unternehmens nicht Schaden nimmt.

Ein anderer Aspekt ist der Führungsstil. In der Gründungsphase vieler heute schon alter Familienunternehmen herrschte ein Patriarch, der sich »um seine Leute« kümmerte. Das hat auch heute noch Nachwirkungen. Dazu gehört, dass die Fürsorge für Mitarbeiter und die Verantwortung für die Region zur Identität des Unternehmens gehört.

Der Vorteil, der dem Unternehmen aus solch einer Kultur erwächst, besteht in der Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen. Auch in schlechten Zeiten bleiben sie dem Unternehmen treu und sind gegebenenfalls auch bereit, Opfer zu erbringen, um sein Überleben zu sichern. Auf der anderen Seite besteht das Risiko, dass das Unternehmen es nicht schafft, sich von Mitarbeitern zu trennen, wenn dies ökonomisch unverzichtbar und (über)lebensnotwendig ist.

All dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die zentrale Bedeutung von Personen als Entscheidungsprämissen zu einer gewissen Familienartigkeit der Unternehmenskultur führt.


5.4 Fremdmanagement

Wer als Manager in einem börsennotierten Unternehmen seine Karriere begonnen hat und gelernt hat, sich und seine Entscheidungen am Shareholder-Value zu orientieren, scheitert erfahrungsgemäß in Familienunternehmen (das ist nicht verpflichtend: Ausnahmen bestätigen die Regel). Es klingt paradox, aber wer sich an der Familie orientiert, darf nicht dem Modell des Shareholder-Value folgen, obwohl bzw. weil die Familie die Shareholder stellt.

Dieser scheinbare Widerspruch resultiert daraus, dass die Shareholder börsennotierter Aktiengesellschaften entweder irgendwelche Finanzinvestoren, Pensionsfonds oder auch Individuen sind, die unabhängig voneinander ihren Partikularinteressen gemäß ihre Entscheidungen treffen. Wer für solch ein Unternehmen Führungsverantwortung trägt, hat es aufseiten der Eigentümer mit einem Markt (dem Kapitalmarkt) zu tun, d. h. einer unüberschaubaren Zahl einzelner Akteure, die keine dauerhafte Bindung an das Unternehmen haben. Sie können von einer Minute zur anderen ihre Anteile verkaufen und zeigen – im schlechtesten Fall – ein Herdenverhalten, bei dem ihre Entscheidungen nicht von fundamentalen ökonomischen Daten bestimmt werden, sondern von Moden, Ängsten und Hoffnungen, von Gerüchten und Trends, denen gegenüber sie sich nicht verschließen können (oder auch von der Eigendynamik computerisierter Kaufs- und Verkaufsprogramme an der Börse).

Es geht also für das Management eines börsennotierten Unternehmens immer auch darum, um Investoren zu konkurrieren, d. h. eine vielversprechende »Story« zu kreieren, die ein Investment in gerade dieses Unternehmen attraktiv erscheinen lässt.

Im Familienunternehmen hingegen geht es nicht um die Interessen einer großen Zahl individueller Shareholder und ihre kurzfristigen Renditeerwartungen, sondern um das Interesse der Familie, das Unternehmen für weitere Generationen am Leben und damit als Ressource für die Familie zu erhalten.
Wer seine berufliche Sozialisation als Manager in einem börsennotierten Unternehmen erfährt, passt sich als Individuum in seinem Weltbild und seinem Entscheidungsstil mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an die dort vorherrschenden, auf Konkurrenz und auf kurzfristige Erfolge setzenden Karrieremuster an. Es geht um individuelle Profilierung, um Image-Aufbau, um »performance« (was, wörtlich übersetzt, interessanterweise, ja sowohl »Leistung« als auch »Vorstellung«, »Aufführung« heißen kann).

Wer auf dem Ego-Trip ist, mag Analysten beeindrucken und damit womöglich auch die Aufsichtsräte einer Aktiengesellschaft, in einem Familienunternehmen hat er wenig Chancen. Familien sind generell Orte, wo persönliche Eitelkeiten nicht goutiert werden (siehe die skizzierten Gleichheitsideen). Wer sich in den Vordergrund spielt, weckt Misstrauen. Und man achtet darauf, dass Fremde, denen man das eigene Vermögen anvertraut, sich ihrer Stellung bewusst sind (nach der Entlassung des Vorstands eines großen Familienunternehmens hieß es: »Er kannte den Unterschied zwischen Gutsherr und Verwalter nicht«). Außerdem müssen sie nicht nur die impliziten oder auch öffentlich proklamierten Werte und Ziele der Familie akzeptieren und vertreten, sondern sie müssen auch als Personen zur Familie passen.

Diese »weichen« Faktoren (soziale Kompetenz, Einfühlungsvermögen etc.) haben »harte« Konsequenzen, deshalb bedarf es meist einer langjährigen Sozialisation in Familienunternehmen, um hier die entsprechenden persönlichen Qualitäten zu erwerben. Fachliche Kompetenz ist unabdingbar, aber sie reicht nicht: Wer sich in einem Familienunternehmen im Topmanagement behaupten will, muss sich darüber hinaus auch als »nett und normal« zeigen (wie es einmal das Familienoberhaupt eines großen deutschen Familienunternehmens formulierte). Für ihn wie für jede aus der Familie stammende Führungskraft gilt: Er wird nur Autorität gewinnen und von Familie wie Unternehmen akzeptiert werden, wenn er durch sein Verhalten zeigt, dass er das Interesse des Unternehmens (und damit der Familie) über seine eigenen, egoistischen Ziele setzt.


5.5 Diversifizierung

Der Vergleich mit börsennotierten Aktiengesellschaften ist natürlich nur für relativ große Familienunternehmen angebracht, nicht für den kleinen Handwerksbetrieb oder den Gemüsehändler an der Ecke. Dennoch hilft die Gegenüberstellung, einige charakteristische Merkmale von Familienunternehmen im Allgemeinen zu verdeutlichen.

Das Management muss in seiner langfristigen Strategie und in seinen aktuellen Entscheidungen die Ziele der Eigentümer im Blick behalten, weil es sonst nicht lange im Amt bleibt. Schließlich haben die Anteilseigner einen bestimmenden Einfluss auf die Politik des Unternehmens, und den machen sie in der Regel durch die Wahl des Topmanagements geltend. Das gilt für Familienunternehmen ebenso wie für Publikumsgesellschaften, deren Aktien im Streubesitz oder in der Hand von Finanzinvestoren sind. Das gemeinsame Ziel ist, eine gute Rendite zu erwirtschaften und das Risiko des Vermögensverlustes zu begrenzen. In Familienunternehmen mag es noch darüber hinausgehende ideelle Ziele und Renditen geben, aber die finanzielle Ertragskraft und die Sicherung des Vermögens sind auch für sie unabdingbar, wenn die Zukunft von Unternehmen und Familie gesichert werden soll.

Ein bewährtes Mittel zur Reduktion des Risikos ist, »nicht alle Eier in ein Nest zu legen«. Was dieses Prinzip betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen Familien als Eigentümern und Investoren wie, beispielsweise, angelsächsischen Pensionsfonds. Doch seine Realisierung könnte kaum unterschiedlicher sein. Denn die Pensionsfonds streuen ihr Risiko, indem sie in viele verschiedene Unternehmen investieren, die in unterschiedlichen Märkten unterwegs sind. Ihr Portfolio ist gemischt und umfasst Unternehmen aus diversen Branchen, deren Märkte möglichst unabhängig voneinander funktionieren. Da stehen dann Banken und/oder Versicherungen neben Automobilherstellern, Konsumgüterproduzenten neben Versorgern, Pharmafirmen ne-ben Logistikern und Telekommunikationsunternehmen. Der Branchenmix wird durch eine Mischung der nationalen Märkte bzw. Währungen ergänzt usw. Ziel ist es, ein Portfolio aufzubauen, das nichtsynergetisch ist, d. h. in dem unterschiedliche Konjunkturzyklen sich gegenseitig ausgleichen. Auf diese Weise können flaue Phasen im einen Markt durch florierende Geschäfte im anderen kompensiert werden und über die Zeit einigermaßen gleichbleibende Renditen erwirtschaftet werden.

Dieses Interesse der großen Investoren, ihr Risiko zu streuen, ist auch der Grund dafür, dass Analysten, die den Wert von Unternehmen einschätzen, Konglomerate, die sich nicht klar einer bestimmten Branche zuordnen lassen, negativ bewerten. Wer sich nicht eindeutig für die potenziellen Anleger »schubladisieren« lässt, wird von der Börse abgestraft.

Das wiederum ist der Grund, warum Familienunternehmen meist wenig Appetit auf einen Börsengang haben. Denn sie folgen demselben »Nicht-alle-Eier-in-ein-Nest-Prinzip«, nur dass sie dies in der Regel innerhalb ihres Unternehmens tun. So findet man Familienunternehmen, die vom Puddingpulver bis zur Bank, von der Brauerei bis zu Reederei ein buntes Gemisch von Produkten in ihrem Portfolio haben.

Diversifizierung in nichtsynergetische Produkte und Märkte, so lautet hier das Prinzip der Risikostreuung.

Diese Diversifizierung hat zur Folge, dass die Kursentwicklung von Familienunternehmen, wenn sie (meist nur mit einem Minderheitsanteil) an der Börse notiert sind, oft zu wünschen übrig lässt. Angemerkt sei noch, dass es auch Familienunternehmen gibt, die als Holding wie Investmentfonds strukturiert sind und in Unternehmen unterschiedlicher Branchen investieren. Das Prinzip der Risikostreuung bleibt dabei unverändert.

Anmerkung:

(1) Eine Beobachtung, die ich Rudolf Wimmer verdanke.

Literatur:

Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Frankfurt (Suhrkamp).
Simon, F. B (2007): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg (Carl-Auer Verlag) 3. Aufl. 2011.


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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages Carl-Auer-Systeme



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