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Vorabdruck aus Fritz B. Simon: Einführung in die Systemtheorie des Konflikts

Fritz B. Simon: Systemtheorie des Konflikts Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2010 (September)

128 S., broschiert

Preis: 12,95 €

ISBN-10: 3896707469
ISBN-13: 978-3896707468


Verlagsinformation: "Was sind Konflikte? Die Definition ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint, bereits die Lektüre der Tageszeitung eröffnet eine Vielzahl von Antworten auf diese Frage. So findet man den Konfliktbegriff in Bezug auf Auseinandersetzungen zwischen Nationen oder Völkergruppen in Form von Kriegen, Verhandlungen oder militärischer Abschreckung mit einer oft jahrzehntelangen Dauer. Als Konflikte gelten aber auch Auseinandersetzungen zwischen Personengruppen, zum Beispiel der Streit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen. Systemtheoretisch betrachtet, ist ein Konflikt nichts anderes als eine bestimmte Art der Kommunikation, die sich als ein eigenes System etabliert hat. Fritz B. Simon stellt in dieser Einführung Konflikte aller Art aus systemtheoretischer Sicht dar. Er versucht dabei, die Logik anschaulich zu machen, der psychische und soziale Prozesse in Konflikten folgen. Die Frage nach den Ursachen, Funktionen und Regelungsmöglichkeiten von Konflikten hilft nicht nur bei der Systematisierung: Wer an einem Konflikt beteiligt ist, kann daraus eine Idee seines Handelns bzw. Nichthandelns entwickeln. Für außenstehende Berater oder Schlichter werden Konflikte durchschaubarer und leichter lösbar. Ziel der Einführung ist es, für beide Gruppen Handlungsanweisungen und Ratschläge zu entwickeln, wie Konflikte bewältigt werden können."

Über den Autor: Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut. Mitbegründer der Management Zentrum Witten GmbH und der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 240 wissenschaftlichen Fachartikeln und 25 Büchern, die in 13 Sprachen übersetzt sind.


Die Funktion von Konflikten (S. 184-200)

Dass Sachkonflikte eine positive Funktion auf die Qualität von Entscheidungen haben können, ist bereits mehrfach betont worden, so dass dies hier nur der Ordnung halber nochmals erwähnt werden soll. Die meiste Aufmerksamkeit wird ihres destruktiven Potenzials wegen zu Recht Beziehungskonflikten gewidmet. Sie werden üblicherweise negativ bewertet. Das entspricht zu einem guten Teil dem Erleben vieler Menschen, die durch sie sehr beunruhigt werden. Auf der anderen Seite gibt es offensichtlich genügend Leute, die Freude am Kämpfen haben und sich vielleicht schon deswegen immer wieder in Streit verwickeln. Davon abgesehen scheint es ein Aspekt der Political Correctness zu sein, solche Konflikte zu verdammen. Denn sie stören die gegebene soziale Ordnung.
Das dürfte aber genau der Grund sein, warum diejenigen, die mit einem gegebenen Status quo nicht einverstanden sind, Konflikte anzetteln. Grund genug, Konflikte nicht von vornherein konfliktfrei zu bewerten und sie im Folgenden mit angemessener Ambivalenz zu betrachten.

Parasiten

Zu denen, die Konflikten überwiegend kritisch gegenüberstehen, gehört Niklas Luhmann. Er bezieht sich auf das Konzept des „Parasiten“ bei Michel Serres (1980) und hat offenbar eher die destruktive Dynamik von Eskalationen vor Auge, wenn er schreibt:

„Jeder kann alle Möglichkeiten aktualisieren, die den anderen benachteiligen, und je mehr dies geschieht, um so mehr ist es plausibel. Das System erreicht zu hohe Interdependenz: ein Wort gibt das andere, jede Aktivität muss und kann mit irgendwelchen anderen beantwortet werden. Die destruktive Kraft des Konfliktes liegt nicht in ihm selbst und erst recht nicht in den Schäden an Reputation, Handlungspotenzial, Wohlstand oder Leben, die er den Beteiligten zufügt; sie liegt in dem Verhältnis zum System, in dem der Konflikt Anlass und Ausgang gefunden hatte – etwa im Verhältnis zum Nachbarn, in der Ehe oder Familie, in der politischen Partei, im Betrieb, in den internationalen Beziehungen usw. Insofern eignet sich die Metapher der parasitären Existenz von Konflikten; aber das Parasitentum ist hier typisch nicht auf Symbiose angelegt, sondern tendiert zur Absorption des gastgebenden Systems durch den Konflikt in dem Maße, als alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen für den Konflikt beansprucht werden“ (Luhmann 1984, S. 525).

Solch eine negative Bewertung von Konflikten kann dazu führen, ihre für das Überleben des jeweiligen „Wirtssystems“ nützlichen Funktionen zu übersehen. Sie können nämlich anzeigen, wo bzw. wenn ein soziales oder psychisches System an die Grenzen seines Aktionsraumes trifft, sein Überleben gefährdet ist und seine Freiheit endet. So gewinnen Widersprüche, die in den Fokus der Aufmerksamkeit treten, ihre Funktion als Auslöser von „Immunreaktionen“. Auch die Metapher des Parasiten hat dann eine neutralere Bedeutung. Denn im Französischen wird dieser Begriff nicht nur in der Biologie für schmarotzende Lebewesen, die sich in und von fremden Organismen nähren, verwendet, sondern auch in der Informationstheorie, wo er synonym für „Störung“ gebraucht wird. Systemtheoretisch gesehen haben Störungen (Irritationen, Perturbationen) eine ambivalente Wirkung. Sie beeinträchtigen zwar die bis dahin funktionierenden Prozesse und Strukturen, aber sie initiieren gerade dadurch Veränderungen. Ohne solche Störungen kein Lernen, keine Entwicklung, keine Umstrukturierungen, keine Reformen, keine Revolutionen …
Konflikte haben deshalb als Störungen eine „Alarmierfunktion“ (Luhmann 1984, S. 525) und signalisieren, dass etwas geschehen muss. Sie verweisen auf eine prekäre System-Umwelt-Beziehung, die zu entgleisen droht, wenn nicht darauf reagiert wird. Wenn der Widerspruch beseitigt wird und der Konflikt sich in Nichts auflöst, kann das System so bleiben, wie es war. Wenn dies nicht gelingt, dann wird das System sich verändern oder im Extremfall in einen Desintegrationsprozess gleiten: sich spalten, sich auflösen etc. Die Chance, die in jedem Konflikt (bzw. Widerspruch) liegt, besteht in der Systemveränderung, der Entwicklung – sei es des psychischen, sei es des sozialen Systems. Aber darin liegt auch das Risiko, denn Entwicklung ist ja nicht immer positiv zu bewerten.

Veränderung des Beziehungsmusters

Wenn eine Partei meint, die Beziehung zu einer anderen Partei müsse neu definiert werden, und diese nicht einverstanden ist, kommt es zum Konflikt. Dabei lassen sich mehrere Konstellationen unterscheiden.
Im ersten Fall wird versucht, aus einer symmetrischen eine komplementäre Beziehung zu machen. Es soll beispielsweise eine Machtbeziehung, eine Hierarchie etabliert werden, bei der einer dem anderen übergeordnet ist. Wenn etwa ein Unternehmen ein anderes, das bis dahin autonom war, im Rahmen einer „feindlichen“ oder „freundlichen“ Übernahme (ein wichtiger Bewertungsunterschied) kaufen will, dann ist damit ein radikaler Wandel der Beziehung verbunden. Aus zwei nebeneinander und unabhängig voneinander agierenden Organisationen werden voneinander abhängige Organisationseinheiten, bei denen eine die Leitlinien der Politik vorgibt, die von der anderen umzusetzen sind (nicht die einzige denkbare Form der Übernahme, aber eine, die sich hier als Beispiel eignet). Wenn das zu übernehmende Unternehmen bzw. deren Eigentümer zustimmen, so verläuft solch eine Neustrukturierung ohne Konflikt (wenn auch nicht ohne Probleme). Man ist sich einig über die neuen Machtverhältnisse und die Komplementarität der Beziehung. Ein Partner, der sich freiwillig auf eine solche Abhängigkeitsbeziehung einlässt, verspricht sich dadurch einen Gewinn oder zumindest die Vermeidung eines Verlustes oder einer negativ wirkenden, zu erleidenden Sanktion.

„Wir beschränken […] den Machtbegriff auf den Fall, der mit dem (allerdings erläuterungsbedürftigen) Begriff der negativen Sanktion gemeint war. Macht wird nur dann angewandt, wenn gegenüber einer gegebenen Erwartungslage eine ungünstigere Alternativenkombination konstruiert wird. Die Unterscheidung ungünstiger/günstiger ist erwartungsabhängig und damit auch zeitpunktabhängig. Die Ausgangslage kann sehr wohl auf positiven Leistungen des Machthabers beruhen – etwa auf Schutzversprechen, Liebeserweisen, Zahlungsversprechen; sie wird in Macht aber nur dann transformiert, wenn nicht schon die Ausgangslage selbst, sondern ihr Entzug vom Verhalten des Unterworfenen abhängig gemacht wird“ (Luhmann 1975, S. 23).

Sind diejenigen, die zu Wohlverhalten (Unterwerfung) motiviert werden sollen, nicht einverstanden – Unternehmen sind hier ja nur ein Beispiel für ähnliche Konstellationen –, so kommt es, um das noch einmal zu unterstreichen, zum Machtkampf, und die Spirale wechselseitiger negativer Sanktionen macht jede Eskalation zum Machtkampf.
Wird der Angriff erfolgreich abgewehrt, so bleibt der symmetrische Status quo entweder erhalten, oder aber es entsteht eine komplementäre Beziehung mit umgekehrtem Vorzeichen: Der Angreifer findet sich in der Rolle des Verlierers. Das war bei vielen kriegerischen Konflikten im Laufe der Geschichte zu beobachten (z. B. im Ersten und Zweiten Weltkrieg). Aber auch in der Wirtschaft passiert das gelegentlich, wie etwa beim Versuch Porsches, den VW-Konzern zu übernehmen: Am Ende wurde Porsche von VW geschluckt.
Doch es ist nicht immer nur der Versuch, in die Machtposition zu kommen, der zu Konflikten führen kann, es geht auch umgekehrt: Ein Akteur versucht, in die untergeordnete Position zu gelangen, um etwa auf diese Weise in den Genuss von Aufmerksamkeit, Mitleid, Versorgungsansprüchen etc. zu gelangen.
Im zweiten Konflikttyp, bei dem es um die Veränderung des Status quo geht, wird versucht, aus einer komplementären Beziehung eine symmetrische Beziehung zu machen. Auch hier kann wieder vorausgeschickt werden, dass diese Änderung der Beziehungsdefinition kein Problem darstellt, wenn die beteiligten Parteien sich darüber einig sind. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn aus einer Chef-Angestellten-Beziehung eine zwischen Partnern wird. In Anwaltskanzleien oder Unternehmensberatungsfirmen ist dies ein bewährter Weg der Nachwuchssicherung bzw. Karriere. Nach den Lehrjahren wird aus dem Lehrling ein Meister, der nun „auf Augenhöhe“ mit seinem alten Vorgesetzten partnerschaftlich zusammenarbeiten kann. Wenn solch eine Neudefinition der Beziehung nicht gelingt oder von demjenigen, der die formal mächtige Position innehat, verweigert wird, dann kommt es entweder zum Konflikt oder zur Trennung. In Familienunternehmen ist diese Art von Konflikt z. B. oft mit der Nachfolgefrage verbunden.
Generell kann man sagen, dass in komplementären Beziehungen das Riskieren eines Konfliktes für denjenigen, der eine symmetrische Beziehung anstrebt, ein nützlicher Weg ist, den Status quo infrage zu stellen. Denn solange der Konflikt in Gang ist, besteht de facto zwischen den Konfliktparteien eine Symmetrie, bei der beide Seiten ihre gegenseitigen Erwartungen negieren. Wie die Angelegenheit ausgehen wird, ist unentschieden, und solange das nicht entschieden ist, herrscht Symmetrie.
Solch eine Konfliktstrategie ist wahrscheinlich kein sehr erfolgreiches Karriererezept, aber in Hinblick auf die Symmetrisierung der Beziehung unschlagbar. Dass sie nützlich in Bezug auf die Inhalts- oder Sachebene ist, muss ebenfalls bezweifelt werden. So ist das Ergebnis solcher Konfliktstrategien oft, dass der Krieg zwar gewonnen wird, aber erobert ist dann nur verbrannte Erde.
Wenn die Prämissen der Beziehung zwischen den Akteuren sich so weit verändert haben, dass eine Verschiebung der Machtverhältnisse droht, wird manchmal, um Konflikten vorzubeugen, versucht, durch Machtdemonstrationen (negative Sanktionen, Verweigerung positiver Gratifikationen) den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Doch wenn das nötig ist, ist die Macht schon verloren. Denn die Paradoxie der Macht besteht darin, dass Macht dem Mächtigen immer von denjenigen gegeben wird, die sich ihr unterordnen. Der „Untertan“ bestimmt, ob jemand „Herrscher“ ist – zumindest langfristig.
Wenn wir auf die Alarmierfunktion von Konflikten schauen, dann zeigen sie an, dass die internen Beziehungsdefinitionen der Mitglieder oder Subsysteme eines sozialen Systems nicht mehr stimmig sind und einer Neuaushandlung bedürfen.
Beispielhaft sind hier, um ein alltägliches Konfliktfeld zu wählen, Eltern-Kind-Konflikte. In der Pubertät, einem Alter, in dem Kinder sich schon sehr erwachsen und selbstständig fühlen, kommt es fast zwangsläufig zu Konflikten mit den Eltern, die sich immer noch verantwortlich fühlen für das, was ihren Kindern widerfährt und was sie tun oder nicht tun. Ist die Eltern-Kind-Beziehung mit fast volljährigen Jugendlichen noch eine Oben-unten-Beziehung, in der die Eltern „wissen“, was für den Jugendlichen gut oder schlecht ist? Oder ist es eine Beziehung zwischen Erwachsenen, die sich sachlich über gegenseitige Pflichten und Rechte auseinandersetzen können? Meist bedarf diese Neudefinition der Beziehung, anders als bei der gesetzlichen Mündigkeit, Jahre mehr oder weniger konfliktreichen Aushandelns, ehe man sich einig darüber ist, was wer von wem zu erwarten hat und was nun anders ist als in der Kleinkindphase. Und manchmal gelingt es überhaupt nicht, solch eine Einigung zu erlangen …

Literatur:

Luhmann, N. (1975): Macht. Stuttgart (Enke).
Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main (Suhrkamp).



(Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages)



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