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Vorabdruck aus C. Otto Scharmer: "Theorie U. Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik"

Scharmer Theorie U Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2009 (März)

496 S., zahlr. Abb., gebunden

Preis: 49,00 €

ISBN-10: 3896706799
ISBN-13: 978-3896706799

Verlagsinformation: Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge gilt weltweit als eines der kreativsten Institute mit engem Bezug zur Praxis. Sechs Nobelpreise allein in den Wirtschaftswissenschaften belegen das eindrücklich. An der MIT Sloan School of Management bzw. der Society for Organizational Learning (SoL) entstand u. a. Peter Senges Buch "Die fünfte Disziplin", das auch im deutschsprachigen Raum die Organisationsforschung und -beratung maßgeblich beeinflusst hat. Mit der "Theorie U" des deutschen MIT-Forschers und Beraters Otto Scharmer gibt es nun eine zeitgemäße Führungsmethode, die den Erfordernissen von Nachhaltigkeit und globaler Verantwortung im Management gerecht wird und die notwendigen Führungsinstrumente bereitstellt. Scharmers zentraler Gedanke: Wie sich eine Situation entwickelt, hängt davon ab, wie man an sie herangeht, d. h. von der eigenen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. "Von der Zukunft her führen" bedeutet, Potenziale und Zukunftschancen zu erkennen und im Hinblick auf aktuelle Aufgaben zu erschließen. "Presencing" (aus "presence" und "sensing") nennt Scharmer diese Fertigkeit zur Entwicklung, von der sowohl eine Organisation als Ganzes als auch der einzelne Mitarbeiter persönlich profitieren. Anhand von vielfältigen Beispielen aus seiner internationalen Beratungspraxis illustriert Scharmer die Prinzipien und Techniken von Presencing. Das Buch hilft Beratern wie Führungskräften, verbreitete, immergleiche Fehler zu vermeiden und Herausforderungen auf wirklich neue Art zu begegnen.


Über den Autor:
Claus Otto Scharmer ist Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Gründer des Presencing Instituts in Cambridge, Mass. Er lehrt als Gastprofessor an der Helsinki School of Economics und berät globale Unternehmen, internationale Institutionen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) in den USA, Europa, Afrika und Asien. Seine Führungs- und Innovationsprogramme für Organisationen wie DaimlerChrysler, Fujitsu und PricewaterhouseCoopers wurden international ausgezeichnet. Scharmer hat im Bereich Ökonomie und Management an der Universität Witten/Herdecke promoviert. Seine Forschung mit Kollegen am MIT hat zur Entwicklung des Presencing-Ansatzes für grundlegende Erneuerungs- und Innovationsprozesse geführt. Gemeinsam mit Peter Senge, Joseph Jaworski und Betty Sue Flowers ist er Autor des Buches: "Presence: Human Purpose and the Field of the Future" (2004).


Kapitel 22 - Epilog: Eine globale Aktionsforschungsuniversität

Der Kampf der Kräfte in unserer Zeit • Einen globalen Umbruch inspirieren • Infrastrukturinnovationen • Das Presencing Institute • Die Kraft der Orte • Geburt im Wintersturm • Auf den Flügeln der anderen fliegen

Der Kampf der Kräfte in unserer Zeit

Dieses Jahrhundert beginnt mit einer zunehmenden Spannung zwischen zwei Bewegungen bzw. Kräften. Auf der einen Seite beschleunigt sich dramatisch die Kraft des Fundamentalismus, der Manipulation und der Zerstörung. Täglich dominieren die Symptome dieser Tragödie die Medien. Ein Sterbeprozess beschleunigt sich, der Verfall des alten sozialen Körpers (Skulptur 1 in Kapitel 21) ist eigentlich überall zu besichtigen. Auf der anderen Seite werden wir Zeugen eines weitreichenden Öffnungsprozesses, der rund um den Globus stattfindet. Immer mehr Menschen nehmen ihr Umfeld bewusster wahr und verbinden sich existenzieller mit dem tieferen Sinn ihres Weges. Neue soziale Netzwerke und Felder der gemeinsamen Gegenwärtigkeit entstehen (Skulptur 2 in Kapitel 21). Täglich verstärkt sich der Kampf zwischen diesen beiden Kräften. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die erste Kraft, die des Fundamentalismus, der Manipulation und der Zerstörung, darauf beruht, dass sie die Freiheit der betroffenen Menschen reduziert.
Im Gegensatz dazu erweitert die zweite Kraft die Freiheit der Menschen – dadurch, dass sie ihnen erlaubt, den inneren Ort, von dem aus sie handeln, zu verändern, d. h., zusätzliche Möglichkeiten zu sehen, wie Akteure auf Anforderungen reagieren können. Der Unterschied liegt, einfach gesagt, darin, dass die erste Form den Menschen als Objekt ansieht, das durch die Umwelt und die Vergangenheit konditioniert ist. Infolgedessen – konsequent in dieser Richtung weitergedacht – kann der Mensch beeinflusst, manipuliert und durch externe Mechanismen gesteuert werden. Die zweite Perspektive sieht Menschen als Freiheitswesen, die die Fähigkeit in sich tragen, sich mit der tieferen Quelle der Kreativität und des Wissens zu verbinden. Mit Hilfe dieser Fähigkeit können Menschen sich mit einer im Entstehen begriffenen Zukunft verbinden und helfen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Das zentrale Merkmal des Menschseins ist die Fähigkeit, sich als Mensch mit der eigenen höchsten zukünftigen Möglichkeit zu verbinden, mit dem eigenen, authentischen Selbst, und zu beginnen, von dort aus zu handeln.
In der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Sichtweisen geht es um viel. Es geht um unseren kollektiven evolutionären Weg. Es besteht die Gefahr, dass wir uns als Menschheit zu einer Mechanisierung des gemeinsamen globalen Feldes hinbewegen, wie in dem Film Matrix als Fiktion dargestellt. Entwicklung friert dann in dem Schattenraum der Antiemergenz fest. In diesem Szenario werden die Quellen von Güte, Schönheit und Wahrheit eingefroren und abgetrennt, genauso wie es Hitlers Sekretärin, Frau Junge, so eindrucksvoll beschrieb.
Oft wird argumentiert, dass es angesichts starker Zerstörungskräfte, wie beispielsweise des Nationalsozialismus zum Höhepunkt seiner Macht, nicht ausreiche, sich auf gewaltfreie Strategien à la Gandhi zu verlassen. Genau das aber taten Hunderte unbewaffneter Frauen im Februar 1943. In Berlin in der Rosenstraße standen sie der mit Maschinengewehren bewaffneten Gestapo gegenüber und forderten die Freilassung ihrer Ehemänner.
Charlotte Israel war eine der Frauen, die bei Temperaturen um den Gefrierpunkt vor dem Jüdischen Gemeindezentrum an der Rosenstraße 2–4 ausharrten, um verzweifelt etwas über den Verbleib ihres Mannes zu erfahren. Charlotte Israel kam jeden Tag, seit die Polizei ihren Mann inhaftiert hatte. Julius Israel gehörte zusammen mit 100 weiteren Fabrikarbeitern zu den letzten Juden, die gefangen genommen wurden – die meisten anderen waren bereits aus Berlin deportiert worden. Charlotte Israel erinnert sich:
»Ohne Vorwarnung hoben die Wachen plötzlich ihre Maschinengewehre. Sie zielten auf die Menge und riefen: ›Wenn ihr jetzt nicht weggeht, schießen wir.‹ Die Menge bewegte sich nach hinten. Aber dann, zum ersten Mal, begannen wir zu rufen. Jetzt hat uns nichts mehr geängstigt … Jetzt werden sie sowieso schießen, also können wir auch rufen, dachten wir. Wir riefen: ›Mörder, Mörder, Mörder, Mörder!‹« (Stoltzfus 2001; Übers.: C. O. S.).
Die Frauen in der Rosenstraße protestierten erfolgreich, fasst der Historiker Nathan Stoltzfus in seinem Buch über diese Geschichte zusammen, weil Frauen wie Charlotte Israel so motiviert und mutig waren, dass sie ihr Leben riskierten, obwohl es keine gemeinsame Organisation des Protestes gab. »Wir handelten aus dem Herzen – und seht, was passiert!«, berichtete eine weitere der Frauen, Eliza Holzer, Stoltzfus fast ein halbes Jahrhundert, nachdem sie gegen die Verhaftung ihres Ehemanns protestiert hatte. Der Mut und die Leidenschaft der Frauen siegten am Ende. Während Tausende von Berliner Juden in Waggons nach Auschwitz transportiert worden waren, kamen die 1700 Juden, die in der Rosenstraße gefangen gehalten worden waren, frei.

Einen globalen Umbruch inspirieren


Was wäre passiert, wenn mehr Menschen »vom Herzen her« gehandelt hätten, so wie die Frauen in der Rosenstraße? Für uns Deutsche ist diese Geschichte unangenehm, denn sie zeigt auf, dass eine andere Form des Widerstands gegen Hitler möglich gewesen wäre, sogar auf dem Höhepunkt seiner Macht und sogar in der Mitte von Berlin.
Was lässt sich von den Frauen der Rosenstraße in Bezug auf unsere heutigen Herausforderungen lernen? Wie können wir lernen, wenn es darauf ankommt, vom Herzen her zu handeln?
Von der Systemtheorie wissen wir, dass, wenn ein System einen Schwellen- oder Bifurkationspunkt erreicht, ein sehr kleiner Unterschied die Richtung des zukünftigen Weges bestimmt. Wenn unsere Gegenwartszeit eine solche Schwellensituation für das globale System darstellt – wie viele Menschen, die von ihrem Herzen her handeln, bräuchten wir, um eine gemeinsame Gegenwärtigkeit, um einen globalen Umbruch zu inspirieren? Oft wird berichtet, dass die gewaltigen Umbrüche der Renaissance von einer Kerngruppe aus nicht mehr als ungefähr 100 Menschen geschaffen worden sind. Die Kerngruppe der Bauhausbewegung war sogar noch viel kleiner, vielleicht etwa ein oder zwei Dutzend Menschen im inneren Kern der Bewegung. Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir benötigen, um zu Beginn unseres Jahrhunderts einen globalen Umbruch zu initiieren. Vielleicht 50, vielleicht 100 Menschen, wenn diese Menschen sich wirklich verbinden und durch die richtigen Infrastrukturen miteinander in Beziehung stehen.
Wenn die in diesem Buch beschriebene soziale Technologie ein Hebel ist, was wäre der beste Hebelpunkt? Wo können wir ansetzen? In meinen Augen sind es vor allem zwei Mängel, die unser augenblickliches System in alten Mustern gefangen halten: Was fehlt, sind Infrastrukturen für Innovationen und eine Kerngruppe, die sich als Vehikel einer globalen Bewegung für zivilisatorische Erneuerung von innen heraus versteht.

Infrastrukturinnovationen

Wenn ein globales oder gesellschaftliches System sich von einer Entwicklungsstufe zu einer nächsten weiterbewegt, braucht dieser Schritt die Ausbildung entsprechender Infrastrukturen (siehe Kapitel 19). Welches sind Infrastrukturen, die uns in der jetzigen Situation den Schritt zu einer nächsten Entwicklungsstufe ermöglichen?
Ich sehe drei mögliche Infrastrukturen, die die Akteure in verschiedenen Institutionen und Systemen darin unterstützen, von einem entstehenden Ganzen her wahrzunehmen und zu handeln. Diese Infrastrukturen sind:

Innovationen in ökonomischen Infrastrukturen

Dieser Typ von Infrastrukturen schafft Plattformen, die Akteuren helfen, sich über organisatorische Grenzen hinweg zu verbinden, wahrzunehmen und dann entsprechende Innovationen zu erproben. Diese Plattformen würden Akteure entlang einem Wertschöpfungsprozess zusammenbringen, vom Konsumenten bis hin zu Nutzergruppen. Gewöhnlich ist die Kommunikation zwischen Unternehmen und den Konsumenten durch milliardenschwere Marketingbudgets beeinflusst und manipuliert. Im Falle dieser neuen Plattformen würde die Kommunikation mehr zwischen gleichgestellten Gesprächspartnern verlaufen – als Dialog – mit dem Ziel, das ganze System zu sehen und das eigene Handeln vor diesem Hintergrund zu adjustieren.
Eine andere Innovation im Rahmen der ökonomischen Infrastrukturen wäre ein Grundeinkommen, so wie in Kapitel 19 diskutiert. Diese ökonomische Grundsicherheit würde es Menschen ermöglichen, ihre eigene Arbeit weiterzuentwickeln und schneller und besser unternehmerisch tätig zu werden.

Innovationen in politischen Infrastrukturen

Orte schaffen, in denen sich die Demokratie durch fortgeschrittene Methoden der partizipativen Entscheidungsfindung weiterentwickeln kann. Diese Orte bringen diverse Stakeholder zusammen, die bereits de facto dadurch miteinander verbunden sind, dass sie im gleichen System handeln. Ziel wäre es, die Formen der Kommunikation, die auf Runterladen (Downloading) basieren, durch offenere, transparentere und dezentralisiertere Prozesse des gemeinsamen Wahrnehmens, Gegenwärtigens und Erneuerns zu ersetzen. Mit politischen Infrastrukturen dieser Art würden die Dominanz der Sonderinteressen eingeschränkt und die Wahrung des Einzelnen im Kontext des ganzen Systems gestärkt.

Innovationen in kulturellen Infrastrukturen

Die Schulen und Hochschulen müssen erneuert werden. Tabelle 22.1 beschreibt neun verschiedene Kontexte des Wissens und des Lernens, die eine erneuerte Form der Schule oder Hochschule für die Studierenden bereitstellen müsste. Die Tabelle skizziert eine Landkarte der gegenwärtigen Ansätze in der Ausbildung, indem sie zwei Unterscheidungen aufbaut; dies sind: drei kreative und menschlich-soziale Grundfähigkeiten (offenes Denken, offenes Herz und offener Wille) und drei Formen des Wissens (W1: Wissen ohne Selbstreflexion; W2: Reflexion nach dem Handeln; W3: Reflexion in der Handlung). Diese Grundfähigkeiten und Wissensformen habe ich in früheren Kapiteln dieses Buches erläutert. Die Krise unseres augenblicklichen Ausbildungssystems kann einfach zusammengefasst werden. Die Herausforderungen, mit denen unsere Kinder als Individuen, als Gruppen und als Gesellschaft in Zukunft konfrontiert werden, erfordern, dass sie die Grundfähigkeiten entwickeln, ihr Denken, ihr Herz und ihr Selbst zu öffnen. Aber wir helfen unseren Kindern nicht, diese Fähigkeiten jetzt, während sie noch offen sind und lernen, auszubilden. Das ist so, als ob ich einen Samen in Beton drücken und sagen würde: »Ich will, dass du schnell stark wirst, aber ich werde dir kein Wasser, keine Nahrung und keine Erde geben. Viel Erfolg!«
Die Art und Weise, wie wir unsere Kinder »erziehen«, ist eine der größten Irrationalitäten unserer Zeit, eine Irrationalität, die paradoxerweise auch noch im Namen der Rationalität und des Verstands auftritt.


 Wissen

Intelligenz
W1

nichtreflexives Wissen
Wissen ohne Selbst-
reflexion
W2

selbstreflexives Wissen:
Reflektion nach dem
Handeln

W3

Selbsttranszendie-
rendes Wissen:
Reflektion in der
Handlung

 offenes Denken
IQ
dynamische
Komplexität
 Vorlesung:
explizites Wissen
»Lernen heißt, ein
Fass zu füllen.«
 Training:
Übung + Feedback
»Lernen heißt, Übungen
zu reflektieren.«
 kreative Praxis:
z. B. Theater
»Lernen heißt, in
Echtzeit zu
improvisieren.«
 offenes Fühlen
EQ
soziale Komplexität
 Erfahrungslernen:
Entdeckungsreisen,
Projekte, Empathy Walk
verkörpertes Wissen
Case Clinics, reflek-
tierendes Schreiben,
Dialogue Walk:
Reflection on
Embodied Knowledge
 Übungen für
verkörperte Gegen-
wärtigkeit;
die eigene Intention
vortragen; Aikido
Inspiration-in-Action
 offener Wille
SQ
emergente
Komplexität
 existenzielles
Erfahrungslernen
und Storytelling,
Eintauchen in andere
Kontexte, Kulturen
Selbstwissen anderer
tiefe Reflexions-
praktiken;
Presencing Practices;
selbstreflektierendes
Schreiben, eigenes
Selbstwissen

 Raum der Stille,
Solo in der Natur,
Praktiken für
gemeinsame
Gegenwärtigung
Intuition-in-Action

Tab. 22.1: Neun Lernumfelder


Mehr als 90 Prozent unserer Ausbildungsressourcen werden in das Feld 1 investiert, d. h. in das Runterladen von alten Wissenskontingenten ohne jegliche Selbstreflexion (offenes Denken, W1). Die verbleibenden 10 Prozent werden zumeist in das nächste Feld investiert: übungs- und trainingsbasierte Wissensvermittlung (offenes Denken, W2). Die verbleibenden sieben Bereiche der obigen Tabelle sind im gegenwärtigen Ausbildungssystem, von kleinen Ausnahmen abgesehen, blinde Flecke.
Was nötig ist, ist eine kleine Kulturrevolution. Eine kulturelle Revolution oder, besser: Evolution bzw. Erneuerung, die diese sieben blinden Flecke in dem jetzigen Ausbildungssystem erhellt, d. h. zum Zentralgeschehen der unterschiedlichen Lernprozesse macht. Schulen und Ausbildungsinstitutionen müssen entlang den neun Wissens- und Lernbereichen neu erfunden werden.

Das Presencing Institute: Ein Feld für soziale Erneuerung

Wie könnte eine solche kleine Kulturrevolution aussehen? Was würde geschehen, wenn wir erfolgreich Wissenschaft, Aufmerksamkeitsschulung und tiefgreifende soziale Erneuerung zum Ausgangspunkt einer Neuerfindung unserer Universitäten und Schulen machten?
Einer der wichtigsten Ausgangspunkte hierfür wäre die Entwicklung von Orten, wo Individuen und Gemeinschaften zusammenkommen, um sich gegenseitig als Teil einer größeren, weltweiten Bewegung wahrzunehmen und zu inspirieren. An diesen Orten würden unterschiedliche Kreise von Veränderern und Erneuerern zusammenfinden. Man würde sich vielleicht drei- bis viermal im Jahr für jeweils zwei bis drei Tage treffen. Bei diesen Treffen würden die Teilnehmer ihre persönlichen und gemeinsamen Quellen vergegenwärtigen, die es ihnen erlauben, besser in ihren jeweiligen Arbeitskontexten einen erweiterten Raum für gemeinsame Selbstwahrnehmung zu schaffen und zu halten. Diese Orte würden als »Akupunkturpunkte« für ein sich entwickelndes globales Energie- und Beziehungsfeld dienen.
Das Bild, das entsteht, ist das einer sich entwickelnden Bewegung: Akteure kommen aus allen Ecken der Welt zusammen, vertiefen die gemeinsamen Grundlagen (Einatmen) und gehen dann anschließend wieder zurück, um die jeweilige Arbeit fortzuführen (Ausatmen).
Drei Elemente machen dieses Bild konkret und umsetzbar.
Das erste Element ist, dass eine solche global verteilte Gemeinschaft einen Dialog ermöglichen würde, der kulturelle, sektorale und generationsbezogene Grenzen überschreitet, indem die Führungskräfte und Veränderer von globalen Unternehmen, internationalen Institutionen und von Bürgerbewegungen zusammengebracht werden.
Ein weiteres Element, das ich in diesem Projekt sehe, ist eine sich immer weiter verbessernde professionelle Infrastruktur, die über institutionelle Grenzen hinweg die vielfältigen Sensing-, Presencing- und Prototyping-Aktivitäten weltweit unterstützt und verbindet. Diese Infrastruktur bestünde aus unterschiedlichen Orten: virtuellen Orten (= webbasierte Infrastruktur), Orten in Städten und Metropolen und Orten in abgeschiedenen Gebieten der Natur, wo die Kraft der Natur und der Erde wahrnehmbar und erlebbar werden kann.
Als ich kürzlich mit Studierenden am MIT das Global-Classroom-Projekt getestet habe (das ist ein Seminar, an dem Studierende aus mehreren Orten der Erde gleichzeitig teilnehmen und per Video und andere Techniken diskutieren), hat mich am meisten überrascht, wie stark diese wenigen Sitzungen mit den Studierenden aus aller Welt auch gerade die MIT-Teilnehmer inspiriert haben. Dies, obschon doch alle reichlich Energie darauf verwendet hatten, die technischen Schwierigkeiten eines solchen Erstversuches zu überwinden, um sich via Skype mit den Studierendengruppen in China, Indien oder Südafrika zu verbinden. In der Nachbesprechung habe ich dann auch genau diese Frage gestellt: »Warum diskutiert ihr lieber hier mit Leuten aus Indien und Südafrika, anstatt mit euren Kommilitonen aus diesen Ländern hier am Campus gemütlich einen Kaffee zu trinken?« Die Antwort: »Weil uns das Global Classroom mit völlig unterschiedlichen Leuten in Kontakt bringt, Menschen, die wir nie hier auf dem Campus treffen würden.« Diese Antwort hat mir die Augen geöffnet. Je unterschiedlicher und entfernter die Akteure und Perspektiven eines gemeinsamen globalen Feldes sind, die man in einem Gespräch zusammenbringt, desto größer ist die mögliche gemeinsame Bewusstseinserweiterung. Sprich: Solange ich nur mit den Eliten aus den je unterschiedlichen Ländern der Welt zusammensitze, so lange erfahre ich eigentlich nichts Wirkliches über den Gang der Dinge und den Lauf der Welt. Gelingt es aber, wirklich radikal unterschiedliche Perspektiven eines größeren sozialen Feldes miteinander in Berührung und in Bewegung zu bringen, dann kann die daraus resultierende Bewusstseinserweiterung neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Beispielsweise erfuhr ich kürzlich, dass eine der am Global Classroom teilnehmenden Studentengruppen (eine Gruppe aus Indonesien) ihre Projektidee, die sie im Seminar entwickelt hat, mittlerweile als eine erfolgreiche Firmengründung in die Praxis umgesetzt hat.
Diese drei Elemente – Dialog, globale Bewusstseins- und Handlungsfelder sowie eine professionelle Infrastruktur für gemeinsame Wahrnehmung, gemeinsame Willensbildung und gemeinsame Gegenwärtigung des entstehenden Neuen – sind die Samenkörner und kleinen Anfänge für eine global vernetzte Presencing-in-Action Leadership School. Eine solche neue Schule, von der alle wesentlichen Elemente in kleinem Umfang bereits erprobt sind, wäre ein Prototyp für ein Lernumfeld der Zukunft (siehe Table 22.1). Dieses Lernumfeld verkörpert alle neun oben beschriebenen Bereiche und erlaubt es, die individuelle und gemeinsame Grundfähigkeit des Presencings zu bilden. Ein solches Projekt wäre global (Global Classroom), praxisorientiert (Prototyping-Projekte) und persönlichkeitsentwickelnd (Aufmerksamkeitsschulung und Willensbildung). Die Lehrenden dieser virtuellen Schule umfassen Innovatoren und Veränderer aus unterschiedlichen Kulturen, Sektoren und Bereichen des Lebens.
Damit eine solche Presencing-in-Action-Schule oder -Bewegung Erfolg haben, d. h. einen Umbruch von globalem Ausmaß inspirieren kann, müssen m. E. sieben Voraussetzungen gegeben sein.
  1. Lebendige Beispiele für Feld-3- und -4-Innovationen in allen wesentlichen Bereichen der Gesellschaft (Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Gesundheit, Ökologie, Landwirtschaft, Konflikttransformation, Politik, Medien etc.).
  2. Eine Theorie, die eine Sprache entwickelt, die das, was geschieht, sichtbar macht und reflektiert. Diese Sprache sollte es auch ermöglichen, die Forschungsergebnisse bezüglich der Innovationen in leicht verständlicher Weise zu veröffentlichen.
  3. Eine soziale Technik, die Initiativen dabei hilft, praktische Kontexte und »Gefäße« für gemeinsame Wahrnehmung, gemeinsame Willensbildung, gemeinsame Gegenwärtigung und für gemeinsames Erproben zu entwickeln.
  4. Unterschiedliche, breit zugängliche Plattformen des Lernens, die die Entwicklung der praktischen Presencing-Kompetenzen über alle Kulturen, Berufsgruppen und sozialen Schichten hinweg möglich macht.
  5. Eine neue Kunstform, die ich als Soziales Presencing-Theater bezeichne und durch die die Feld-4-Ereignisse in einem Kulturkreis (wie beispielsweise das Ende des Apartheidregimes in Südafrika) für die übrigen Kulturkreise zugänglich und erlebbar und zum Ausgangspunkt eigener Transformationsprozesse gemacht werden – wobei Elemente von Aktionsforschung, Theater, kontemplativen Praktiken, intentionaler Stille, schöpferischem Dialog und Open Space zu einer kollektiven Technik verbunden werden.
  6. Eine globale Kerngruppe von Praktikern und Aktionsforschern, die sich intentional als Vehikel dafür verstehen, der weltweiten Bewegung von Praktikern zu dienen, die durch Presencing-Praktiken ihre Arbeit und ihr Selbst vertiefen, erweitern und vergegenwärtigen.
  7. Eine Konstellation von Kraft-Orten, die als »Akupunkturpunkte« und als praktische Infrastruktur eines entstehenden globalen sozialen Feldes fungieren, wo die Prozesse des gemeinsamen Wahrnehmens, des gemeinsamen Gegenwärtigens und des gemeinsamen Erprobens effektiv unterstützt und verdichtet werden können.
Diese sieben Elemente zusammen würden ein Entwicklungslabor für Veränderer über alle Sektoren hinweg bilden und auf einer Integration von Wissenschaft, Bewusstsein und praktischen Veränderungsprozessen basieren.
   
Die Kraft der Orte

Aus den 150 Interviews, die ich im Rahmen der Forschungsarbeit für dieses Buch durchgeführt habe, stachen zwei besonders heraus: Sie machten den blinden Fleck des Interviewers deutlich. Das eine davon war das mit dem Physikprofessor Arthur Zajonc. Am Ende unseres Gespräches fragte Arthur danach, was Katrin und mich an den Ort gebracht hatte, wo wir heute sind. Und dann sagte er etwas, das ich nie vergessen werde: »Nimm an, dass all das, was du bis hierhin gemacht hast, eine Vorbereitung gewesen ist für deinen zukünftigen Weg.« Das fühlte sich ein wenig so an, wie sich einem Schwimmbecken rückwärts zu nähern: Du schaust auf den Boden, aber nur, um herauszufinden, wie nah du dich wohl schon am Wasserrand befindest. Diese Form des In-die-Vergangenheit-Schauens hat mir viel genutzt. Es geht dabei weniger um das Festhalten an Dingen, die positiv oder auch negativ sind, sondern eher darum, den Weg der Vergangenheit aus der Per¬spektive der Zukunft anzuschauen. Was kann uns die Geschichte der Vergangenheit für den Weg nach vorne sagen?
Das zweite Interview war das mit Eleanor Rosch. Am Ende des Interviews sprach ich mit ihr über die Qualitäten von Orten. Sie schlug mir daraufhin vor, ich solle doch über die Orte, an denen ich bisher gelebt habe, nachdenken. Ich war überrascht von ihrer Idee, bedankte mich, wusste aber nicht genau, was ich mit ihrem Vorschlag tun sollte. Bis heute. Jetzt ist ihr Vorschlag eine Möglichkeit für mich, über die Qualität von Orten auf meinem Weg nachzudenken.
Der erste Ort, an dem ich längere Zeit gelebt habe, ist der Hof meiner Familie: Hof Dannwisch. Was ich dort gelernt habe, ist, dass ein Hof nicht nur ein Unternehmen ist, sondern zuallererst ein lebendiger Organismus, eine Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft hat sichtbare und weniger sichtbare Elemente. D. h., sie umfasst die Mineralien, Pflanzen, Tiere, die Menschen auf dem Hof, die Kunden, Kinder, Freunde und alle, die im Umfeld des Hofes den sozialen, ökonomischen und geistigen Raum halten. Gemeinsam bildet diese Gemeinschaft der auf und um den Hof Lebenden ein Gefäß für das Anwesendwerden des landwirtschaftlichen Gesamtorganismus, für die Essenz dieses Ortes durch die Zeiten hindurch. Während ich jetzt, anlässlich eines Kurzbesuchs, auf diesem Hof diesen Epilog schreibe, spüre ich einmal mehr die sinnliche Qualität des Anwesendwerdens dieses landwirtschatlich-ökologisch-sozialen Gesamtsystems.
An diesem Ort aufzuwachsen schenkte mir das Erleben einer vertikalen Erdung, also einer Verbindung mit der Natur, der Gemeinschaft und der Anwesenheit des Ganzen. Das ist es, was einen Hof ausmacht: Man lernt, dass man gleichzeitig der Hüter einer größeren Gemeinschaft von Tieren, Pflanzen, der Erde und der Menschen im Umfeld ist, die alle von dir und deinem Dienst an der Erde abhängig sind. Mein Bruder fasste dies einmal so zusammen: Die Aufgabe ist, sich zu kümmern »um dieses kleine Stückchen Erde«.
Der nächste Ort, dem ich eine horizontale Erdung verdanke, waren die Straßen von Brokdorf, Berlin, Budapest und Bonn, auf denen die Antiatom-, Antikriegs-, Bürgerrechts- und Friedensbewegung in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren stattgefunden hat. Hier habe ich eine mehr horizontale Beziehung wahrgenommen, die mich mit einem Netz von Gleichgesinnten und gleich empfindenden Menschen aus allen Generationen, Klassen, Ländern und Kulturen verbunden hat. Diese erst europäische und später auch globale Verbindung hat in mir eine neue Form von Bewusstsein in Bezug auf die Teilnahme an einem globalen Beziehungsnetz geweckt: Das kurzzeitige Einssein mit einem emergenten kollektiven Körper, ausgelöst durch einen Widerstandsimpuls direkt aus dem Herzen, öffnete einen neuen Raum der kollektiven Selbstwahrnehmung, in dem du dich als Teilnehmer eines im Entstehen begriffenen globalen Feldes erlebst.
Der dritte Ort war viel kleiner, eine alte, verfallene Villa am Ufer der Ruhr in Herdecke. Das ehemals wunderbare, für einen Krupp-Direktor gebaute Haus sollte abgerissen werden, als ein Kommilitone und ich es fanden. Der Besitzer gab uns einen Mietvertrag für ein Jahr, plante aber, das Gebäude dann abzureißen (verschiedenen Probleme mit den Abrissplänen führten dann dazu, dass dieser Mietvertrag fast 15 Jahre lang Jahr für Jahr verlängert wurde, bevor das Haus dann wirklich abgerissen wurde). Wir zogen mit zehn weiteren Studierenden ein. Wir inspirierten uns gegenseitig und unterstützten uns in einer Weise, die ich vorher nicht gekannt hatte. In dieser Gemeinschaft zu leben war eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens.
Die Universität, die ich besuchte, die damals neu gegründete Universität Witten/Herdecke, war zu weiten Teilen durch das vom Gründungsdekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Ekkehard Kappler, entwickelte Konzept von Lernen und Studium inspiriert. Seine Idee einer neuen Universität basierte auf den Prinzipien von Aktionsforschung, Selbstreflexion und studentenzentriertem Lernumfeld. Er fasste diese Ideen einfach zusammen: »Studieren«, sagte er, »ist die Praxis der Freiheit.« Ich war damals Student des Gründungsjahrgangs, und meine Mitbewohner in der Villa studierten zum größten Teil an der medizinischen Fakultät. Gemeinsam schufen wir in der Villa einen Ort, der zu einem schöpferischen Gefäß für die unterschiedlichsten Initiativen und Veränderungsimpulse dieser jungen Universität wurden. »Die Villa« wurde zu einem Ort, an dem wir uns auf verschiedensten Ebenen gegenseitig anregten und inspirierten, das reichte vom gemeinsamen Lesen von Plato-Texten bis zu in die Morgendämmerung dauernden postmodernen Partys. Mein Freund Kai Reimers und ich gingen, nach der Lektüre von Plato-Texten, spazieren und improvisierten philosophische Dialoge, die immer wieder um die fundamentalen Fragen von Wissen und Sein kreisten. Kai argumentierte als Plato, ich argumentierte von der Position des Aristoteles (1) her.  Einmal im Semester veranstalteten wir eine Party in der Villa, für die wir Kabarettvorführungen vorbereiteten, auf der Musik gespielt und bis zum Morgen getanzt wurde. Die Villa war immer ein offener Ort. Gastprofessoren, wie der Begründer der Friedensforschung und Empfänger des Alternativen Nobelpreises Johan Galtung, wohnten regelmäßig in der Villa, wenn sie an der Uni waren.
Was für mich an diesem Ort besonders war, war, dass er sich lebendig anfühlte. Das Ganze der Gemeinschaft war immer anwesend. Es gab uns Kraft und Energie. Projekte und Initiativen wurden von uns mühelos umgesetzt. Es hat Spaß gemacht. Diese Qualitätsmerkmale lassen auf ein schöpferisches Gefäß – oder einen schöpferischen Kokon – schließen, das – oder den – dieses einzigartige Umfeld darstellte: »Die Villa«.
Der vierte Ort ist nicht ein einzelner Ort, sondern ein verteiltes Netzwerk von Orten. Es umfasst meine Familie in Boston, aber auch Orte und Gemeinschaften in anderen Ländern und Kulturen, wo ich regelmäßig anwesend bin. Meine Arbeit umfasst die Unterstützung dieser Initiativen und Gruppen in Nordamerika, Asien, Afrika und Europa.
Vor einer Weile nahm ich an einer zweitägigen Konferenz am MIT mit dem Dalai Lama sowie einer Reihe von führenden westlichen Gehirnforschern teil (2). Am Ende der Konferenz war ich voller Energie und vorgefühlter zukünftiger Möglichkeit. Ich war begeistert von der Möglichkeit, ein Feld zu erforschen, das die Welt der Wissenschaften (Perspektive der 3. Person) und Veränderungen in der Struktur des Bewusstseins (Perspektive der 1. Person) ins Gespräch bringt. In den Gesprächen zwischen Wissenschaftlern und Buddhisten während dieser zwei Tage fehlte mir jedoch eine Dimension, die meines Erachtens notwendig ist, will man diese Erkundung gemeinsam definieren und beschreiben: die Dimension der sozialen Transformation und Veränderung.
Als ich das MIT-Auditorium verließ, konnte ich für einen Augenblick genau sehen, was in meinem augenblicklichen Leben falsch lief. Ich rannte in zu viele unterschiedliche Richtungen, war in zu vielen Projekten an zu vielen verschiedenen Orten gleichzeitig tätig, wovon jedes Projekt an sich Sinn ergab, aber all das war kein Ganzes, es fehlte die Mitte.
In diesem Augenblick, als die Botschaft – Du brauchst eine neue Mitte; du musst Dein Leben ändern! – für mich deutlich wurde, konnte ich auch plötzlich sehen, worauf ich mich konzentrieren sollte. Nämlich auf ein einziges Projekt: einen Ort und eine lebendige Gemeinschaft schaffen, die ihre Energie darauf verwendet, Grundlagen für eine erweiterte Wissenschaft zu entwickeln, in der Aktionsforschung, Aufmerksamkeitsveränderung und angewandte soziale Transformation als Aspekte eines einheitlichen Grundvorganges integriert werden.

Geburt im Wintersturm

Im Dezember 2005 traf sich eine kleine Gruppe, um die Gründung des Presencing Institute vorzubereiten. Ein Dutzend Menschen traf sich in einem Hotel in Cambridge, USA. Von dort aus liefen wir MIT-Angehörige zu unserem Treffpunkt in der Society for Organizational Learning (3).  Es schneite stark, so dass dieser kurze Weg mehr Zeit als gewöhnlich beanspruchte. An diesem Tag türmte sich der Schnee auf der Straße auf, und man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Kein Auto fuhr. Es war so, als wären wir alleine irgendwo in Sibirien. In Zeitlupe natürlich, da die ganze Stadt plötzlich entschleunigt war. Später an diesem Tag begann dann noch ein starkes Gewitter. Eine seltene Kombination, ein Schneesturm, durchzuckt von Blitzen und übertönt von Donnern.
Während unseres Treffens kam Judith Flick aus Südafrika via Telefon für einen Teil des Treffens hinzu. Wir sprachen darüber, welches unsere größten Hoffnungen in Bezug auf die Gründung des Presencing Institute seien.
Judith beschrieb ihre augenblickliche Rolle als Verantwortliche für HIV/AIDS-Projekte innerhalb von Oxfam GB und wie diese Arbeit ihr persönliches und professionelles Leben verändert hat. Eine der Teilnehmerinnen, Ursula Versteegen, fragte sie nach einem Beispiel. Judith schilderte die Erfahrungen einer ihrer Mitarbeiterinnen, die gerade zu einer Beerdigung im Familienkreis gehen musste. Der Verstorbene hatte AIDS gehabt. Nach der Beerdigung war der Zeitpunkt gekommen, sich um den Nachlass zu kümmern und vor allem darum, was mit den beiden Kindern geschehen solle. Keiner bot an, die Kinder zu nehmen. Während der Stille blickte die Mitarbeiterin zu ihrem Mann, und sie sah, dass sie beide den gleichen Gedanken hatten. Sie konnten nicht einfach nach Hause gehen. Sie nahmen die Kinder auf und vergrößerten so die Zahl ihrer Kinder von zwei auf vier. Ein paar Wochen später wiederholte sich diese Szene auf der nächsten Beerdigung. Nach einem weiteren schmerzvollen Moment der Stille brachten die beiden zwei weitere Kinder zurück nach Hause. Einige Monate später nahmen sie dann noch drei weitere Kinder auf. Als sie dann eine Familie mit zehn und nicht mehr mit zwei Kindern waren, wurde es zunehmend schwierig, die Komplexität zu Hause zu handhaben, und auf der nächsten Beerdingung blieben auch sie, wie die anderen, still. Sie hatten ihre Grenzen der Belastbarkeit erreicht – so wie auch viele andere Familien, Dörfer und Gemeinschaften in den südafrikanischen Ländern. Vielleicht sogar in vielen Ländern. Warum, so fragte Judith, gibt es keine globale Verantwortlichkeit und Mitsorge?
Wir verharrten nach dieser Frage in einem Moment der Stille. Uns wurde bewusst, dass es neuer Orte für die tieferen systemischen Fragen heutiger Transformationsprozesse bedarf. Es entstand die gemeinsame Intention, mit der späteren Gründung des Presencing Institute einen praktischen Beitrag in diese Richtung zu leisten: eine globale Gemeinschaft von Praktikern und Forschern aufbauen, die sich über die tieferen Aspekte ihrer Veränderungsarbeit austauschen und die durch die gemeinsam weiterentwickelte Presencing-Praxis eine soziale Technik in die Welt bringen, die den Menschen und den Beteiligten in allen Kulturen und Bereichen der Gesellschaft hilft, von der Opferrolle in den Zustand der gemeinsamen Wahrnehmung, Gegenwärtigung und Gestaltung zu kommen.

Auf den Flügeln der anderen fliegen

Einige Wochen nach dem Presencing-Institute-Treffen in Boston moderierte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Beth Jandernoa einen Workshop in Südafrika. Gemeinsam mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen sprachen wir über persönliche Beispiele, an denen praktische Erfahrungen mit dem Handeln, das von einer tieferen Quelle herkommt, anschaulich wurden. Ein junger Mann stand auf und erzählte uns seine Geschichte.
Martin Kalungu-Banda wuchs in einem kleinen Dorf in Sambia auf. Nach verschiedenen faszinierenden Entwicklungsabschnitten seines Lebens war Martin in einem Managementjob bei einem globalen Energieunternehmen gelandet. Kurze Zeit später fand er sich in der Rolle eines engen Beraters für den Präsidenten von Sambia verantwortlich dafür, die Rolle des Kabinettschefs einzurichten und vorübergehend zu bekleiden. Später arbeitete er als Moderator und Berater in dem Global Learning Center von Oxfam. Er hielt zudem Vorträge und leitete Seminare an verschiedenen Universitäten in Afrika und England, unter anderem an der Cambridge University. Er hat außerdem ein wunderbares Buch über Nelson Mandelas Führungsansatz geschrieben (Kalungu-Banda 2006).
Martin berichtete uns von der folgenden Situation. Während einer Radiosendung über sein neues Buch konnten die Zuhörer live Fragen stellen. Eine der Fragen kam von einem Jungen aus einer ländlichen Gegend:
»Martin, was hat es dir ermöglicht, als Junge von einem entlegenen Dorf in Sambia, so wie ich es auch bin, an berühmten Universitäten Vorträge zu halten, den Präsidenten zu beraten und für internationale Organisationen zu arbeiten? Wie geht das? Was hat dir das möglich gemacht?«
Martin zögerte eine Weile. Dann antwortete er:
»Du wirst vielleicht etwas enttäuscht sein, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht wusste, was ich tue. Ich hatte keinen Plan. Anstatt meine Zukunft zu planen, wurde ich immer wieder in Situationen hineingezogen. In Situationen, die irgendwie auftauchten und sich dann weiterentwickelten. Aber ich habe immer darauf vertraut, dass, wenn ich in eine Situation hineingezogen wurde, jemand mir auch helfen würde. In diesen Momenten habe ich realisiert, dass ich dann manchmal auf den Flügeln der anderen fliegen konnte … Wenn ich jetzt nach vorne blicke, wünsche ich mir, dass ich mich mehr intentional in die Zukunft ziehen lasse.«
Als ich Martin zuhörte, merkte ich, dass dieses »in die Zukunft ziehen lassen« auch meine eigene Lebensreise beschreibt. Über die letzten zehn Jahre wurde ich immer wieder in neue Projekte und Möglichkeiten hineingezogen, die ich nicht wirklich jemals geplant hatte.
In all dieser Arbeit habe ich wesentliche Prototypen der Presenc¬ing-in-Action-Schule entwickelt und erprobt. Heute arbeite ich in den verschiedensten Projekten, in denen der U-Prozess angewendet wird. Dies sind Projekte globaler Unternehmen wie Daimler oder Google, landesweite Veränderungsprojekte wie in Namibia oder neuartige Ausbildungsprogramme wie ELIAS (Innovation für Nachhaltigkeit)  oder das Presencing Global Classroom. Der Ort, der dies alles zusammenführt, ist das Presencing Institute , das sich gegenwärtig noch in der Gründungsphase befindet, aber schon heute auf mehreren Kontinenten mit unterschiedlichen Projekten vertreten ist. All dies hat sich realisiert. Es gibt aber noch etwas, das fehlt: erstens eine Kerngruppe von Menschen, die sich intentional als Vehikel für eine entstehende Bewegung versteht; zweitens eine Konstellation von Kraftorten, die all die oben beschriebenen Aktivitäten in die Welt bringen und unterstützen. Diese Orte wären »Akupunkturpunkte« für ein entstehendes globales Feld. Sie müssten u. a. den Raum für Workshops mit 100 bis 150 Menschen bieten. Diese Orte hätten die Einfachheit, Offenheit und Klarheit einer leeren Fabriketage oder eines japanischen Zen-Tempels. Sie wären miteinander verknüpft, böten Platz für Künstler, hätten die technische Ausrüstung für Multimedia- und gemeinsame Global-Classroom-Veranstaltungen mit Partnerinstitutionen an anderen Orten in der Welt. Es gäbe eine flexible Minibühne, die u. a. auch für Theatervorstellungen und Social Presencing Theatre genutzt werden kann.
In diesem Buch habe ich versucht, eine Zukunftsmöglichkeit auszuformulieren. Ich gebe gerne zu, dass sich diese Zukunftsmöglichkeit manchmal klarer anfühlt, als sie aussieht. Ich verstehe die skeptische Frage, ob das alles wirklich funktionieren wird. Aber das Herz weiß oft mehr als der Verstand. Und auch der offene Wille weiß mehr. Während links und rechts die alten Strukturen um uns und in uns zusammenbrechen, freue ich mich, auf dem Plan zu sein und einen Unterschied machen zu können. Dies ist der Anbruch einer neuen Zeit. Unserer Zeit. Die Frauen der Rosenstraße haben einen mutigen Schritt getan, sie sind ihrem Herzen gefolgt, bewusst und gemeinsam. Sie haben damit ein Beispiel dafür gesetzt, welche Kraft das authentische Selbst in die scheinbar schwierigsten und festgefahrensten Konfliktsituationen bringen kann. Wie mein Kollege aus Sambia, Martin Kalungu-Banda, es so treffend auf den Punkt gebracht hat: auf den Flügeln der anderen fliegen. In unserer Zeit und in unserem Land, wo das Alte mit der Berliner Mauer sichtbarer als irgendwo sonst in die Brüche gegangen ist, ist diese Fähigkeit, sich auf den Flügeln der anderen zu erheben, vielleicht überhaupt die wichtigste Grundfähigkeit dafür, wieder zu den wirklichen inneren Quellen zurückzugehen und einen echten Beitrag für die globale Gemeinschaft in unserem Jahrhundert leisten zu können.

Anmerkungen:
 
(1) Kai Reimers ist heute Professor für IT und Ökonomie an der RWTH Aachen und Visiting Professor für Economics und Management an der Tsinghua-Universität, Beijing. Siehe auch Johannes Wiek, Macht doch, was ihr wollt! (2006).
(2) Siehe unter: http://web.mit.edu/newsoffice/2003/dalailama.html [9.11.2008].
(3) Siehe unter: www.solonline.org [9.11.2008].

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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages



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