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Vorabdruck aus Haim Omer & Eli Lebowitz: Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion

Omer & Lebowitz: Ängstliche Kinder unterstützen Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012 (Frühjahr)

207 S., broschiert

Preis: 19,95 €

ISBN-10: 352540218X
ISBN-13: 978-3525402184

Verlagsinformation: Ängste gehören zur Entwicklung eines Kindes und können in Übergangsphasen, nach seelischen Erschütterungen oder Krisen auftreten. Bei manchen Kindern halten diese Angstzustände jedoch länger an oder werden sogar zu dauerhaften Begleitern. Im Unterschied zu Angststörungen von Erwachsenen wirken sich die Ängste bei Kindern nicht nur auf sie selbst aus, sondern auch die Eltern sind mit ihren Reaktionen und Umgehensweisen stark einbezogen. In der systemischen Perspektive stellen die Eltern die Schlüsselfigur dar, die einerseits unbeabsichtigt zur Verstärkung und zum Fortbestehen der Ängste beitragen oder aber dem Kind helfen können, Entwicklungskrisen durchzustehen und die Störungen zu überwinden. Es ist daher schwierig, die Ängste eines Kindes zu verstehen und zu behandeln, ohne nicht auch die elterlichen Reaktionen zu begreifen und zu verändern. Mit dem zentralen Bild der Ankerfunktion befürworten die Autoren, dass neben Schutz und Sicherheit durch elterliche Präsenz auch fördernde Unterstützung unabdingbar ist. So kann das Kind seine Kräfte sammeln und lernen, das Problem selbständig zu bewältigen.



Über die Autoren:
Prof. Dr. phil. Haim Omer ist Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv. Dr. Eli Lebowitz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Yale Child Study Center der Yale University.

Viertes Kapitel: Die Zusammenarbeit der Eltern

Jeder Elternteil übt unabhängig vom anderen Elternteil eine Ankerfunktion für das Kind aus. Gleichzeitig ist die Ankerfunktion eine unverzichtbare Aufgabe der Eltern als Einheit. Die elterliche Zusammenarbeit beeinflusst ihre Fähigkeit, diese Funktion auszuüben. Häufig beschuldigen sich die Eltern gegenseitig, für die entstandenen Probleme des Kindes verantwortlich zu sein oder eine Lösung des Problems zu verhindern. Oft zieht sich ein Elternteil ganz zurück und behauptet, dass er keine Möglichkeit habe, die Lage zu beeinflussen, solange der andere Elternteil sich in seiner Weise verhalte. Dieser Rückzug schwächt die Fähigkeit der Eltern, das ängstliche Kind zu unterstützen. Auch wenn dieser Rückzug aus positiven Beweggründen geschieht, wie zum Beispiel aus dem Wunsch heraus, zu Hause eine angenehme Atmosphäre zu bewahren, oder weil dem Elternteil die notwendige Zeit fehlt, so wirkt er sich nachteilig aus.

In anderen Fällen wiederum untergräbt ein Elternteil den Standpunkt des anderen. Das Kind bemerkt, dass sich die Diskrepanzen zwischen seinen Eltern vertiefen, sobald sie versuchen, seine Ängste anzugehen. Die Ängste des Kindes lösen also Unstimmigkeiten aus und drängen die Eltern in entgegengesetzte Richtungen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern schwächen wiederum ihre elterliche Verankerung und damit ihre Fähigkeit, ihrem ängstlichen Kind Halt zu bieten.

Selbst wenn die Zusammenarbeit der Eltern nur teilweise verbessert wird, kann dies ihre Fähigkeit, sich mit der Angst des Kindes auseinanderzusetzen, wesentlich fördern. Sobald das Kind merkt, dass die Eltern sich einander annähern, anstatt sich von einander zu entfernen, ist dies für das Kind eine positive Erfahrung. Es muss keine völlige Übereinstimmung der Eltern erreicht werden. Eine Annäherung in gewissen Bereichen reicht aus. Dieses Kapitel beschäftigt sich damit, wie diese partielle Annäherung erreicht werden kann. In unserer Arbeit mit Eltern streben wir weder eine Lösung möglicher Eheprobleme noch eine Einigung über die grundsätzliche Bedeutung von Erziehung an. Eine gründliche Aufarbeitung der Eheprobleme als Voraussetzung für eine Verbesserung der elterlichen Aufgabenbewältigung ist häufig ein unrealistisches Ziel, das den Weg für realistische Teillösungen blockiert. Demgegenüber ist der bescheidenere Versuch, dem Kind die Erfahrung einer teilweisen Annäherung seiner Eltern zu vermitteln, meist durchführbar. Erfahrungsgemäß wirkt sich bereits eine geringe Annäherung der Eltern deutlich auf das Kind aus und verbessert die Fähigkeit der Eltern, als Anker zu dienen und sich mit den Ängsten des Kindes auseinanderzusetzen.

Gängige Differenzen zwischen Eltern

Josef: »Von Anfang an hat meine Frau unseren Sohn Ralph verwöhnt. Sie macht alles für ihn, lässt ihn noch nicht einmal sein Bett allein richten. Wie soll er sich entwickeln, wenn sie ihn ständig unter ihre Fittiche nimmt? Als er bei Freunden schlafen wollte, hat sie ihn beinahe nicht gehen lassen und hat dann im Laufe des Abends 10 Mal dort angerufen. Sie ist diejenige, die eine Angststörung hat! Sie muss ihn nur lassen, dann wird er schon lernen, die Dinge selbst zu meistern. In seinem Alter habe ich meinem Vater schon nach der Schule bei der Arbeit geholfen, um ihn bei der Finanzierung der Familie zu unterstützen. Ralph dagegen schläft häufig immer noch nachts in unserem Bett!«
Dena: »Er versteht einfach nicht, dass sich die Dinge verändert haben. Heutzutage muss man den Kindern die Kindheit lassen. Man muss sie vor den vielen Gefahren draußen schützen und ihnen ermöglichen, sich in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln. Er will, dass Ralph ein ›Mann‹ ist, so wie er. Was will er denn von ihm?! Soll das Kind uns etwa am Ende hassen? Oder zerbrechen? Oder verrückt werden?«

Noam: »Sie verlässt kaum ihr Zimmer, trifft keine Freunde, spricht nicht am Telefon. Und ihre Mama schaut tatenlos zu, stellt keine Forderungen an sie. Ganz im Gegenteil: Sie lässt das einfach Tag für Tag durchgehen. Wäre ich zu Hause, sähe die Situation ganz anders aus.«
Shira: »Er hat es einfach. Er kommt abends nach Hause, isst sein Abendessen, schaut Fernsehen und geht schlafen. Ich würde ja gern sehen, wie er mit diesem Mädchen fertig wird. Was denkt er sich? Dass ich ihr nicht helfen will? Ich habe doch schon alles probiert. Tag für Tag muss ich das Kind ertragen. Ständig leidet sie unter Ängsten, sie fürchtet sich vor allem. Soll er mich mal arbeiten gehen lassen, und er kann ihr helfen, wenn er alles besser weiß. Kritik üben kann jeder!«

Ilan: »Mein Sohn kommt ganz nach mir! Ich verstehe ihn. In seinem Alter hatte ich auch Angst. Die ganze Zeit habe ich mich um alle gesorgt: meine Eltern, meine Freunde. Sogar um den Hund habe ich mir Sorgen gemacht. Ich war mir sicher, dass der Hund überfahren würde, sobald ich etwas Böses täte oder dächte. Ganze Nächte lang konnte ich nicht schlafen. Ich hatte Angst, allein zu bleiben. Mein Sohn ist auch so. Das ist sicherlich genetisch veranlagt. Als er anfing mit seinen Rechnungen und seinen komischen Verhaltensweisen habe ich mich sofort mit ihm hingesetzt und ihm erklärt, dass ich das auch kenne. Die Welt ist wirklich ein sehr Angst einflößender Ort, und er muss sich wegen seiner Ängste nicht schämen. Bei mir hat sich das irgendwann gelegt, und sicherlich werden die Ängste auch bei ihm mit der Zeit nachlassen. Das muss man nicht an die große Glocke hängen. Wenn meine Frau auch solche Ängste gehabt hätte, würde sie ihn sicherlich verstehen. Aber sie kann sich einfach nicht in ihn hineinversetzen.«
Sheli: »Erst einmal muss gesagt werden, dass sich die Ängste bei Ilan nicht gelegt haben. Er hat immer noch viele Ängste, und er vollzieht deswegen im Laufe des Tages alle möglichen Zeremonien. Das und das darf man nicht sagen, und dies und jenes nicht tun. Und wenn etwas nicht an seinem Platz ist – oh je, dann geht die Welt unter. Ich liebe ihn und akzeptiere ihn, wie er ist. Aber warum sollte ich zulassen, dass er alle seine Ängste an unseren Sohn weitergibt?«

Im Fall von Josef und Dena vertreten die Eltern verschiedene Ansichten über Kindererziehung. Josef ist für klare Forderungen und eine Auseinandersetzung mit der Außenwelt. Dena will ihren Sohn beschützen und ihn in einem mitfühlenden Milieu groß werden lassen. Diese Unterschiede sind ganz natürlich, und viele Kinder entwickeln sich prächtig trotz ähnlicher Differenzen zwischen ihren Eltern. Wenn nun jedoch das Kind unter Ängsten leidet und die Eltern die Initiative ergreifen müssen, können sich solche unterschiedlichen Standpunkte zu einer immer größer werdenden Kluft entwickeln. Ralph, ihr Sohn, möchte allen Forderungen ausweichen, um Angst auslösende Situationen zu vermeiden. Er weiß nur zu gut, dass die Kluft zwischen seinen Eltern tiefer wird, wenn er sein Leid noch stärker zum Ausdruck bringt. Dies kann er zu seinen Gunsten nutzen, die Eltern gegeneinander ausspielen und auf diese Weise verhindern, dass Anforderungen an ihn gestellt werden.

Zwischen Noam und Shira spielt ein anderer Faktor eine wichtige Rolle: die Zeit! Auch heutzutage sind die Bürde der Kindererziehung und die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, bei vielen Paaren nicht gleichmäßig verteilt. Shira verbringt die meiste Zeit mit ihrer Tochter und fühlt sich erschöpft. Sie ist der Ansicht, dass Noam das nicht versteht, weil er kaum mit den alltäglichen Problemen konfrontiert wird. Diese unterschiedliche Aufgabenverteilung ist häufig anzutreffen: Mütter verbringen mehr Zeit zu Hause mit ihren Kindern. Aber sogar wenn die Väter anwesend sind, wenden sich die Kinder mit ihren Wünschen oder ihren Problemen eher an ihre Mutter. Forschungsergebnisse zeigen, dass 70 % der konfliktbeladenen Fragen an die Mutter gerichtet sind, selbst wenn der Vater anwesend ist! (Patterson, 1980). Es ist daher nicht verwunderlich, dass Mütter meist erschöpfter sind als Väter. Shira glaubt, die Dinge könnten sich ändern, wenn Noam sich alltäglich mit seiner Tochter auseinandersetzen müsste. Dieser Gedanke spiegelt die Vorstellungen vieler Mütter wider.

Bei Ilan und Sheli wird ein weiterer Faktor deutlich, der oft für Differenzen zwischen den Eltern sorgt: Einer der Eltern identifiziert sich mit den Ängsten des Kindes. Ilan glaubt, dass nur er sich in seinen Sohn hineinversetzen und ihn verstehen kann. Sheli hingegen ist überzeugt davon, dass Ilan seine eigenen Probleme auf das Kind projiziert. Welcher von beiden darf nun die Richtung der elterlichen Erziehung gegenüber dem Kind vorgeben? Ein Elternteil sagt: »Wie kannst du ihm helfen, wenn du überhaupt nicht weißt, wie er sich fühlt?« Der andere Elternteil erwidert: »Wie kannst du ihm helfen, wenn du genauso reagierst wie er?«

Bei keinem der angeführten Beispiele kann erwartet werden, dass sich ein Elternteil nach dem entgegengesetzten Standpunkt des anderen Elternteils ausrichtet. Die Hoffnung, der eine Elternteil möge einsehen, dass der andere mit seiner Meinung Recht hat, ist eine Illusion. Der Versuch, den anderen von seiner Meinung zu überzeugen, die Kritik und die Beschuldigungen, die meist mit solchen Versuchen einhergehen, führen zu einer Verhärtung der Standpunkte. Trotzdem ist es möglich, die Eltern dazu zu bringen, dass sich ihre Standpunkte annähern, und dadurch ihre gemeinsame elterliche Verankerung zu verbessern.

Annäherung von Gegensätzen

Shai ist in einem kinderreichen Elternhaus aufgewachsen. Seine Eltern hatten einen strengen Erziehungsstil, der von Höflichkeit und Disziplin geprägt war. Shai versucht, seinen Kindern einen ähnlichen Ansatz zu vermitteln. Er leitet seine Kinder an, achtet auf klare Grenzen und bestraft sie im Notfall auch. Gili ist demgegenüber in einem Haus groß geworden, in dem Offenheit und Demokratie als oberstes Gebot galten. Sie ist davon überzeugt, dass ein Kind sich am besten in einer offenen und liberalen Atmosphäre entwickelt. Worte wie »Nein« oder »Das ist verboten!« engen das junge Gemüt nur ein, das doch heranwachsen und gedeihen soll.

Ihre Ehejahre wurden immer schon von Meinungsverschiedenheiten begleitet. Mit der Geburt ihres ersten Sohnes schienen die beiden jedoch eine erfolgreiche Mischung ihrer unterschiedlichen Ansätze gefunden zu haben. Doch seit der Geburt ihrer Tochter Meli, die jetzt 7 Jahre alt ist, gehören die Streitereien zur Tagesordnung. Meli ist ein sorgenvolles und ängstliches Mädchen. Das bisschen Sicherheit, das sie hat, schöpft sie aus der Nähe zu ihren Eltern. Shai hat das Gefühl, dass sie verwöhnt und anmaßend ist und keine Grenzen kennt. Gili meint demgegenüber, dass Shai seine Tochter kalt und unnachgiebig behandelt. Sie wirft ihm vor, alle Kinder über einen Kamm zu scheren und nicht bereit zu sein, die Schwächen ihrer Tochter zu akzeptieren.

Während einer Sitzung mit dem Therapeuten fand folgendes Gespräch statt:


Gili: Warum ist er so streng?

Therapeut: Wie hätten Sie denn gern, dass er sich verhalten soll? Was würden Sie an ihm verändern wollen?
Gili: Ich hätte gern, dass er unserer Tochter zeigt, dass er sie versteht und annimmt, wie sie ist.
Therapeut: Haben Sie in der jetzigen Lage das Gefühl, dass nur Sie Meli verstehen?
Gili: Ja, genau. Deswegen muss ich ihr so viel Nähe und Zärtlichkeit wie möglich geben. Manchmal würde ich auch gern Grenzen setzen. Dann fällt mir aber wieder ein, dass sie nur von mir dieses Verständnis und diese Wärme erhält. Da muss ich dann nachgeben.
Therapeut: Und Sie, Shai, wie hätten Sie gern, dass Ihre Frau sich verhalten sollte?
Shai: Leider bin ich der Einzige zu Hause, der die Realität sieht und Grenzen setzt.
Therapeut: Wenn Gili deutlicher Grenzen ziehen würde, meinen Sie, dann könnten Sie von Ihrem Standpunkt ein wenig abrücken?
Shai: Ich wünschte es! Wenn Gili manchmal auch die Verantwortung übernehmen würde, müsste ich nicht immer der »böse Papa« sein!

Im oben beschriebenen Fall nähern sich Shai und Gili an und können damit ihre Zusammenarbeit verbessern. Beide sehnen sich danach, ihre festgefahrene Position zu lockern. Gili möchte auch die Möglichkeit haben, Grenzen zu ziehen. Shai möchte auch Liebe und Wärme vermitteln. Mehr noch möchte aber jeder, dass der andere seinen Standpunkt einnimmt. So ist ein paradoxer Kreislauf entstanden: Die Überzeugungsversuche erzielen genau das Gegenteil beim Partner. Je mehr die Mutter Druck ausübt, um ihren Mann zum Nachgeben zu zwingen, desto mehr fühlt er sich verpflichtet, seine Forderungen zu bekräftigen. Das verstärkt in ihm das Gefühl, dass nur er diese Forderungen vertritt. Andersherum glaubt die Mutter, noch nachgiebiger mit ihrer Tochter umgehen zu müssen, je mehr ihr Mann sie unter Druck setzt, Forderungen zu stellen.

Hier möchten wir eine Parallele zu unserer Annahme der Vielstimmigkeit des Kindes ziehen. Wir mutmaßen, dass in der Seele eines ängstlichen Kindes nicht nur eine Stimme wohnt, die die Angst zu vermeiden sucht, sondern auch Stimmen, die eine Überwindung der Ängste ersehnen. Diese Stimmen können sich unter günstigen Bedingungen Gehör verschaffen. Ähnlich gehen wir von einer inneren Vielstimmigkeit jedes Elternteils aus. In jedem Elternteil wohnen Stimmen, die die Hauptstimme in Frage stellen. Der beschützende Elternteil hat auch innere Stimmen, die Grenzen ziehen wollen. Der fordernde Elternteil hat auch innere Stimmen des Mitgefühls und der Wärme. Diese Annahme hat sich in den therapeutischen Gesprächen mit den Eltern bestätigt. Ein Therapeut, der empfindsam und respektvoll gegenüber beiden Elternteilen ist, kann die verborgenen Stimmen an die Oberfläche holen. Der beschützende Elternteil kann dann seinen Wunsch nach einer besseren Grenzsetzung zum Ausdruck bringen, während der fordernde Elternteil seine Sehnsucht äußern kann, dem Kind nahe zu stehen und eine Stütze zu sein. Um diese verborgenen Stimmen zu entdecken, müssen die Eltern zuerst das Gefühl vermittelt bekommen, dass ihre vorherrschenden Überzeugungen legitim sind. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass ihre Ansichten angegriffen werden, werden sie sich in ihrer Meinungen verhärten.

Bela hatte Schwierigkeiten, arbeiten zu gehen, da ihre 12-jährige Tochter Iris extreme Ängste entwickelt hatte, allein zu bleiben. Obwohl Bela deswegen bereits in Teilzeit arbeitete, fehlte sie an vielen Arbeitstagen wegen der Angstattacken von Iris. Ihr Mann Rolf beschuldigte sie, dass sie mit ihrem übertriebenen Schutz Iris’ Lage nur verschlechtere. Er kritisierte sie auch dafür, dass sie ihre Arbeit nicht ernst genug nehme und dass sie am Ende gefeuert werde. Seine energischen Forderungen erzeugten – wie erwartet – nur eine wachsende Wut in Bela. Sie versteifte sich mehr und mehr auf ihre Position. Iris fühlte sich durch ihren Vater bedroht und entfernte sich immer mehr von ihm.

Der Therapeut ging jedoch davon aus, dass jeder Elternteil auch andere Stimmen in sich hat. Er war sich sicher, dass Bela sich danach sehnte, die Bürde der endlosen Forderungen von Iris abzulegen, und dass Rolf das warme Verhältnis, das er früher zu seiner Tochter gehabt hatte, vermisste. Bela konnte ihre verborgenen Wünsche jedoch in keiner Weise äußern. Würde sie auch nur ansatzweise zugeben, dass sie sich gern stärker von Iris’ Forderungen abgrenzen würde, würde Rolf sie sofort belehren: »Aber das sag ich doch schon die ganze Zeit! Siehst du, selbst du siehst ein, dass ich Recht habe!« Rolf war in einer ähnlichen Lage gefangen: Er befürchtete, dass, wenn er zugeben würde, dass er Iris’ Nähe vermisse, Bela ihn sofort für die Kluft zwischen ihm und Iris zur Verantwortung ziehen und ihn beschuldigen würde, dass er sein Vatersein verraten habe.

Um diesen Teufelskreis der gegenseitigen negativen Reaktionen zu durchbrechen, schlug der Therapeut vor, eine Therapiesitzung mit besonderen Regeln abzuhalten. Die Sitzung sollte geteilt werden. Während der ersten Hälfte würde er mit Rolf in Anwesenheit von Bela sprechen, die aber nicht intervenieren dürfe. Bela müsse nur zuhören, auch wenn sie das Gefühl habe, dass Dinge gesagt würden, die nicht der Wahrheit entsprächen. Während der zweiten Hälfte der Sitzung würden sie die Rollen tauschen. Rolf müsse dann schweigen, während der Therapeut mit Bela spreche. Die Eltern willigten in diese Regeln ein. Der Therapeut hoffte, auf diese Weise eine Situation zu erzeugen, in der die Eltern ihre verborgenen Stimmen zum Ausdruck bringen könnten, während die Reaktionen des Partners aufgefangen würden.

Während des Gespräches mit Rolf betonte der Therapeut, dass dessen Rolle zwar erforderlich sei, dass er aber als Vertreter der »täglichen Forderungen« eine undankbare Aufgabe erfülle. Rolf glaubte, den Weg für eine weitere Verschlechterung zu ebnen, sollte er von seinen Forderungen auch nur ein wenig ablassen. Seine Rolle sei schwer und frustrierend, da er als der »böse Papa« die Feindseligkeit von Iris auf sich zog. Der Therapeut fragte, ob er manchmal den Wunsch verspüre, anders zu handeln, sich von der Rolle des »bösen Papas« zu befreien und seiner Tochter wieder näher zu stehen. Rolf erwiderte, dass er das mehr als alles andere wolle. Als der Therapeut ihn fragte, ob er glaube, dass auch Iris ihn vermisse, war Rolf den Tränen nahe. Zum Schluss meinte der Therapeut, dass durchaus Voraussetzungen geschaffen werden könnten, um Rolf und seine Tochter wieder einander näher zu bringen. Er solle nicht mehr der einzige Verantwortliche sein, der die »täglichen Forderungen« stelle. Während des Gespräches mit Rolf versuchte Bela zu intervenieren, aber der Therapeut unterbrach sie höflich.

Das Gespräch mit Bela begann der Therapeut damit, dass er ihre mütterlichen Gefühle für Iris hervorhob. Deswegen könne sie dem Leid ihrer Tochter nicht tatenlos zuschauen. Danach befragte er sie zu der schwierigen Entwicklung, wie sie Schritt für Schritt auf ihr persönliches Leben verzichtet habe, um Iris Schutz und Unterstützung geben zu können. Er fragte, ob es auch Momente gebe, in denen sie sich ein anderes Verhältnis zu Iris wünsche. Bela verlieh ihrer Sehnsucht Ausdruck, dass Iris ihr ein eigenes Leben ermöglichen möge. Der Therapeut hatte trotz der Schwierigkeiten den Eindruck, dass die Grundlagen der Ehe gut seien. Er fragte daher, ob die Probleme mit Iris auch das Eheleben beeinträchtigten. Bela antwortete daraufhin, dass sie sehr gern wieder mit Rolf ausgehen würde, selbst nur für kurze Unternehmungen.

Der Therapeut fasste die Sitzung wie folgt zusammen: »Ich habe mich davon überzeugt, dass Sie beide Eltern mit einem tiefen elterlichen Pflichtgefühl sind. Beide haben Sie mit ihrem Standpunkt Recht. Sie, Bela, haben das Gefühl, dass Iris viel Liebe und Zuwendung braucht, um Selbstsicherheit entwickeln zu können. Sie glauben, dass sie sonst keine Chance im Leben hat. Sie möchten, dass Rolf dies versteht und diesem Bedürfnis von Iris gerecht wird. Sie, Rolf, sind überzeugt, dass Iris’ Lage sich weiter verschlechtern wird, wenn sie nicht mit den täglichen Anforderungen des Lebens konfrontiert wird. Sie möchten, dass Bela dies versteht, und drängen sie manchmal auch, Schritte in dieser Richtung zu unternehmen. Beide Dinge sind unersetzlich.

Mit Ihrer jetzigen Haltung erzielen Sie jedoch genau das Gegenteil. Rolf, wann immer Sie Bela drängen, glaubt sie, dass sie die Einzige ist, die Iris Liebe und Zuneigung gibt, und dehnt deswegen ihren Schutz und ihre Nachgiebigkeit aus. Wann immer Sie, Bela, Rolf drängen nachzugeben, meint er, dass er der einzige Vertreter der täglichen Forderungen und Verpflichtungen ist. Dadurch hat er das Gefühl, dass er keine andere Wahl hat, als die Forderungen zu verschärfen. So kommt es, dass Sie Ihren Partner dazu bringen, genau das Gegenteil von dem zu tun, was Sie erreichen wollen.


Hinzu kommt, dass Sie, Rolf, Bela kritisieren und Iris gegenüber finster auftreten. Auf diese Weise haben Sie sich von Iris entfernt. Das ist sicherlich das Letzte, was Sie beabsichtigten. Und Sie, Bela, fühlen sich in die Ecke gedrängt und meinen, dass Sie Iris’ Forderungen keine Grenzen setzen können. Sie vernachlässigen deswegen Ihr Privatleben und Ihr Eheleben. Sie sagen, dass Sie für Iris sogar auf Ihr eigenes Leben verzichten würden. Damit tun Sie ihr aber keinen Gefallen: Wenn Sie auf Ihr eigenes Leben verzichten, wird es Iris nicht besser gehen, sondern schlechter.


Ich schlage vor, dass wir in unseren Sitzungen gemeinsam einen Plan erstellen, damit Iris Sie als Eltern erleben kann, die sich aneinander annähern, anstatt dass Sie sich voneinander distanzieren. Wir werden gemeinsame Ausflüge für Sie beide planen und eine Liste zusammenstellen, welche klaren Forderungen Sie an Iris richten können. Außerdem dürfen wir Ihre Ehe nicht vernachlässigen: Wenn Sie nicht gemeinsam Dinge unternehmen, geben Sie in gewisser Weise Iris auf! Ich werde mir im Verlauf der Sitzungen erlauben, jeden von Ihnen zu ermahnen, sollten Sie mit Ihrer ›alten Leier‹ kommen! Ich bin davon überzeugt, dass sowohl Iris als auch Sie davon profitieren werden!«


Diese Botschaft schuf die Basis für eine partielle Zusammenarbeit der Eltern. Rolf schaffte es, sich Iris wieder anzunähern, und Bela musste keinen Arbeitstag mehr fehlen. Schrittweise machten sich auch klare Anzeichen einer Verbesserung bei Iris bemerkbar.



Verheimlichung und Absprache

Der 15 Jahre alte Dan litt in der Schule unter Panikattacken. Diese Panikattacken zeichneten sich durch Atemnot, erhöhten Herzschlag und Zittern aus. Dan fürchtete, dass er die Kontrolle über sein Handeln verlieren und sich unangebracht verhalten könnte.

So litt er also unter der Angst selbst als auch unter der Angst vor der Angst, dass er eine Panikattacke erleiden könnte. Jedes Mal, wenn er das Gefühl hatte, dass eine Angstattacke bevorstehe, rief Dan seine Eltern an, damit sie ihn von der Schule abholten. In Absprache mit einem Therapeuten entschieden die Eltern, David und Martha, ihren Sohn in diesen Fällen nicht mehr von der Schule abzuholen. Wenn er doch anriefe, sollten sie ihn daran erinnern, dass er in der Schule bleiben müsse. Ihm war erlaubt, das Zimmer der Vertrauenslehrerin aufzusuchen und dort zu bleiben, bis er sich beruhigt hatte. Die Vertrauenslehrerin war in diesen Plan eingeweiht, und Dan hatte selbst in ihrer Abwesenheit freien Zugang zu ihrem Zimmer.

Zwei Tage nach dieser Ankündigung rief Dan seine Mutter an und meinte, dass er vor einer Panikattacke stehe. Martha erinnerte sich an die Abmachung und sagte sich, dass sie die Situation als Herausforderung der elterlichen Grenzsetzung betrachten müsse. Sie antwortete ihm: »Dan, auch wenn es dir schwerfällt, bin ich sicher, dass du mit der Situation fertig werden kannst. Wenn es sein muss, dann geh zum Zimmer der Vertrauenslehrerin und rufe mich von dort aus in einer viertel Stunde noch einmal an!« Sofort rief Dan seinen Vater an: »Pa …pa … Papa. I … Ich … Ich weiß nicht, was mit mir passiert. Ich kann nicht atmen … Ich glaube, es ist etwas Ernstes. Ich ersticke … Ich …« »Dan, ich mache mich sofort auf den Weg!«


Erst während der Fahrt zur Schule erinnerte sich David an die Abmachung und an das Zimmer der Vertrauenslehrerin. Dans Angst hatte David aus seiner elterlichen Selbstverankerung weggerissen. Auf dem Weg nach Hause sagte David zu Dan mit einem Augenzwinkern: »Erzähle nur nicht Mama, dass ich dich abgeholt habe. Das wird sie uns sonst nachtragen.«


Der Fehler des Vaters ist verständlich. Es ist fast unvermeidbar, auf solche starken Ängste einzugehen, besonders, wenn man sich vorher innerlich nicht dagegen gewappnet hat. Die Entscheidung jedoch, den Vorfall vor Martha zu verheimlichen und Dan zu seinem Komplizen zu machen, ist ein viel schwerwiegenderer Fehler. Die Koalition, die David mit Dan auf dem Weg nach Hause schließt, indem er sagt: »Erzähle es nicht der Mama!«, schwächt selbstverständlich die gemeinsame elterliche Verankerung und ihr Bündnis, das sie gegen die Angst aufzubauen versuchen.

Doch selbst in einer solchen Zwickmühle können die Verhältnisse richtiggestellt werden. Die Zusammenarbeit und die elterliche Verankerung können durch das Ereignis sogar gestärkt werden. Wir schlagen den Eltern, die sich in ähnliche Situationen verwickeln, einen Akt der »Wiedergutmachung« vor. Beide Eltern betreten gemeinsam das Zimmer des Kindes und sagen ihm Folgendes:

»Wir haben heute einen Fehler begangen und dir vermittelt, dass wir nicht von deiner Fähigkeit überzeugt sind, deine Ängste zu meistern. Wir haben über den Vorfall nachgedacht und sind zu der Einsicht gelangt, dass das nicht richtig war. Von jetzt an werden wir uns bemühen, anders zu handeln. Wir werden dich daran erinnern, was du tun kannst. Wir werden uns nicht weiter der Angst beugen und dich nach Hause bringen.«

Am besten ist es, wenn derjenige, der für den Fehler verantwortlich ist, diese Worte sagt. So hilft das Ereignis den Eltern, sich einander anzunähern, anstatt dass die Differenzen zwischen ihnen vertieft werden. Die Niederlage kann hierdurch zu einer Mahnung an die elterliche Pflicht werden. Die Eltern gehen so mit gutem Beispiel voran: Fehler und Niederlagen bedeuten nicht, dass man in seinem Bemühen nachlässt. Solch eine Tat erfordert die Bereitschaft der Eltern, Fehler zuzugeben und der Verheimlichung ein Ende zu setzen. Beide Eltern, derjenige, der den Fehler zugibt, und derjenige, der darüber informiert wird, müssen sich klar machen, dass hier die Gelegenheit besteht, einen Nachteil in einen Vorteil zu verwandeln. Dieses Bewusstsein wird bei dem Elternteil, der für den »Ausrutscher« verantwortlich ist, eine höhere Bereitschaft erzeugen, den anderen Elternteil vom Fehler wissen zu lassen. Dieser wiederum wird eher bereit sein, diesen Fehltritt seines Partners anzunehmen.

Man kann nicht erwarten, dass die Eltern bei jeder Herausforderung wie ein Fels in der Brandung stehen. Wichtig ist aber die Bereitschaft, auch nach einem Fehlverhalten weiterzumachen. Dies ist ein wichtiger Grundsatz in unserer Arbeit mit Eltern, auch wenn es sich um andere Verhaltensprobleme handelt. Zum Beispiel betonen wir im Gespräch mit Eltern eines gewalttätigen Kindes: »Sie müssen das Kind nicht besiegen! Sie müssen nur beharrlich sein!« Dies ist auch bei der Auseinandersetzung mit Angststörungen der Fall: Die Eltern müssen nicht die Angst besiegen, sondern nur konsequent und beständig handeln. Diese Beständigkeit tritt in der elterlichen Entschlossenheit zu Tage, wieder und wieder die Schwächen, die sich in der eigenen Verankerung zeigen, auszubessern. Die Ausdauer der Eltern spiegelt sich in der Botschaft wider: »Wir sind wieder in der Auseinandersetzung mit dem Problem vereint! In Zukunft werden wir unser Bestes tun, einen ähnlichen Fehler zu vermeiden!«

Wir wagen zu behaupten, dass Eltern, die eine solche Erfahrung bisher noch nicht gemacht haben, nämlich einen Fehler wieder gutzumachen und ihre gegenseitige Verpflichtung wiederherzustellen, nicht genügend für zukünftige Herausforderungen gewappnet sind.
Die Pflege der elterlichen Verankerung bedarf ständiger Absprachen. Es ist sinnvoll, eine feste Gesprächszeit zu vereinbaren. Dinge, die im Alltag nicht besprochen werden, können in diesen Gesprächen behandelt werden. Wir empfehlen daher den Eltern, wöchentliche Sitzungen einzuplanen für den gegenseitigen Informationsaustausch, für Absprachen, für eine Neueinschätzung der Lage und für die notwendige Entscheidungsfindung. Solche Sitzungen können das elterliche Handeln entscheidend verbessern. Sie verdeutlichen die Tatsache, dass die Eltern gemeinsam planen und bewusst ihre Verankerung wiederherstellen wollen, anstatt sich auf ihre spontanen Reaktionen zu verlassen, die bisher das Problem haben fortbestehen lassen.

Die Vereinbarung solcher Sitzungen bringt einige Vorteile mit sich. Eine solche Vereinbarung stellt schon an sich eine Verbesserung in der Kommunikation zwischen den Eltern dar. Regelmäßiger Austausch ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die Ankerfunktion zu erfüllen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Eltern auf diese Weise vermeiden können, in Anwesenheit ihres Kindes oder während eines akuten Vorfalls zu diskutieren und zu streiten. Solche Streitereien können wesentlich minimiert werden, indem man die Diskussion auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt, der bereits festgelegt ist. Anstatt sich in eine Diskussion zu verstricken, kann nun ein Elternteil daran erinnern: »Lass uns das während unserer Sitzung besprechen!«

Ängstliche Kinder sind wahre Meister darin, die Meinungsverschiedenheiten der Eltern in Bezug auf ihre Ängste aufzudecken. Wenn eine Diskussion mit der Aussage »Das ist ein Thema für unsere Gesprächszeit!« beendet wird, vermittelt dies dem Kind, dass die Eltern ihre Gemeinschaft pflegen und ihre Zusammenarbeit in Einklang bringen. Selbst wenn hierdurch die Möglichkeit des Kindes geringer wird, die Differenzen zwischen den Eltern zu seinen Gunsten auszunutzen, verleiht diese Botschaft dem Kind ein Gefühl der Sicherheit, da es dadurch die elterliche Verankerung stärker wahrnimmt.

Ein weiterer Vorteil solcher fest vereinbarten Gesprächszeiten liegt darin, dass auf diese Weise Richtigstellungen geplant werden können, ähnlich wie wir es am Beispiel von Dan beschrieben haben. Außerdem hilft der Aufschub einer Diskussion auf die festgelegte Gesprächszeit dabei, eine Eskalation des Streits zwischen den Eltern zu vermeiden. Eltern von ängstlichen Kindern neigen dazu, den Fehlern des Partners übermäßige Bedeutung beizumessen: »Jetzt hast du alles kaputt gemacht!«, »Es hat überhaupt keinen Sinn, mit dir weiterzumachen. Da lass ich es lieber ganz sein!« Solche Aussagen hört man in hitzigen Auseinandersetzungen. Zu Recht lösen sie wiederum eine heftige Reaktion beim Partner aus. Auf diese Weise können Einigungen, die zwischen den Eltern hart erarbeitet wurden, durch einen kurzen heftigen Streit platzen. Wenn nun die Diskussion auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wird, folgt dies unserem Grundsatz: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« Dieses Prinzip ist eines der effektivsten Mittel, um Eskalationen zu vermeiden. Allein die Unterbrechung eines Gesprächs kann einen heftigen Streit zu einer konstruktiven Diskussion werden lassen. Selbstverständlich darf man dennoch nicht davon ausgehen, dass der Aufschub mit Sicherheit zu einer Einigung führen wird. Andererseits ist eine vollständige Einigung auch keine notwendige Bedingung, um eine Zusammenarbeit der Eltern zu erreichen. Unsere Arbeit gegen die zerstörerische Kraft gegenseitiger Beschuldigungen baut auf dieser Einsicht auf.


Beschuldigungen mäßigen

Eltern, die ihrem Partner vorwerfen, dafür verantwortlich zu sein, dass das Kind Ängste hat, verschärfen hiermit das Problem, selbst wenn ihre Behauptungen teilweise der Wahrheit entsprechen. Solche Vorwürfe reichen aus, um eine positive Einsicht zu einem zerstörerischen Prozess werden zu lassen. Sie wirken sich schädlich auf das elterliche Handeln aus, auf die Beziehung zwischen den Eltern und auf die Erfahrungen des Kindes.

Beschuldigungen leiten einen Prozess ein, in dem einer der Beteiligten an den Rand der Familie gedrängt wird: Entweder wird der beschuldigende Elternteil durch andere Familienmitglieder an den Rand gedrängt und dadurch zum Verstoßenen und Außenseiter, oder aber er drängt sich selbst an den Rand der Familie. Er bleibt zwar im Recht, aber einsam. Er ist also wieder ein verstoßener Außenseiter. Wenn nun ein Elternteil an den Rand der Familie gedrängt wird, schwächt dies zwangsläufig die elterliche Verankerung und verstärkt damit auch die Ängste des Kindes.

Im Recht, aber einsam ist der Elternteil, der seinen Einfluss auf die Familie verliert, der aber weiterhin alle Fehler des anderen Elternteils registriert. Selbst wenn seine Ansichten zur Situation manchmal ins Schwarze treffen, kann er die Lage doch nicht verbessern. Seine Kommentare werden nur als Anklage und Vorwurf wahrgenommen. Selbst wenn der andere Elternteil spürt, dass in dieser Sicht der Dinge ein Körnchen Wahrheit steckt, empfindet er die Ansichten als Kritik und nicht als Unterstützung. Er hat daher den Wunsch, den Partner mit seiner Kritik unschädlich zu machen. Dadurch wird der Elternteil, der im Recht, aber einsam ist, noch einsamer. Sein einziger Trost liegt darin, noch mehr darauf zu beharren, dass er Recht hat. Oft hält er dem Partner auch die Tatsache vor, dass sich das Kind bei ihm anders verhält. Dies verstärkt weiter die Frustration des kritisierten Elternteils und lässt die Differenzen zwischen den Eltern noch größer werden.

Der beschuldigende Elternteil macht seinen Partner für das Problem des Kindes verantwortlich. Seiner Meinung nach kann eine Besserung der Lage nicht eintreten, solange der schuldige Partner nicht von seinem Standpunkt abrückt. Im Buch »Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung« (Omer, Alon und von Schlippe, 2007) wurde dies als dämonische Sichtweise bezeichnet. Nach der dämonischen Sichtweise trägt der beschuldigte Elternteil einen Defekt in sich, dessen Folgeerscheinungen destruktiver Art sind. Dieser Defekt besteht aus einer negativen oder krankhaften Natur, eine Art Dämon, der sich in die Seele eingenistet hat. Es gibt also keine Hoffnung, solange nicht ein gründlicher Reinigungsprozess stattgefunden hat. Dieser Reinigungsprozess besteht in der Einsicht der Schuld, der Reue und dem Versuch der Wiedergutmachung. Das heißt, der Elternteil, der diesen Defekt trägt, muss seine Schuld eingestehen, den Defekt einsehen und ihm den Rücken kehren – ähnlich wie bei religiöser Reue. Darüber hinaus vertreten einige Anhänger dieser Sichtweise die Ansicht, dass der »defekte« Elternteil einen »Heilungsprozess« durchlaufen muss, bei dem Experten den Defekt diagnostizieren und aus seiner Seele entfernen. Wenn nun diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht, muss der schuldige Elternteil vom Schauplatz entfernt werden. Erst dann kann eine Besserung eintreten.

Natürlich verwenden wir in unserer säkularen Welt nicht diese religiöse Ausdrucksweise. Die Psychologie liefert uns jedoch säkulare Begriffe auf pseudowissenschaftlicher Basis, die eine nicht weniger radikale Position ausdrücken. Ein Elternteil kann zum Beispiel behaupten, dass sein Partner »das Kind mit seiner Angst ansteckt«, »das Kind traumatisiert«, »die Selbständigkeit des Kindes untergräbt«, und ähnlich abfällige Ausdrücke, die im pseudopsychologischen Jargon formuliert werden. Der dämonische Charakter der Beschuldigungen wird ganz besonders dann deutlich, wenn der Beschuldigende meint, dass die destruktiven Kräfte sich im »Unterbewussten« des Partners befänden. Dort trieben sie ihr zerstörerisches Unwesen – wie Satan, der sich der Seele einer Person bemächtigt hat und nun dort ohne Wissen seines Trägers wohnt. Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung müsste lauten, dass ohne eine Heilung der Wurzeln, ohne einen Reinigungsprozess oder eine Verbannung diesen destruktiven Kräften kein Einhalt geboten werden könne.

Man kann jedoch einwenden: »Aber was ist, wenn der beschuldigte Elternteil tatsächlich die Schuld am Problem des Kindes trägt?« Wir möchten betonen, dass wir diese Möglichkeit ausschließen. Eine Angststörung entsteht immer angesichts multikausaler Prozesse. Dies kann zum Beispiel eine physiologische Neigung zu einer hohen Reizstimulation sein, verbunden mit bestimmten Umständen, die diese Neigung wachrufen (z. B. ein traumatisches oder Angst einflößendes Erlebnis oder plötzliche Veränderungen der Lebensumstände); oder eine Abnahme der Kraft des Kindes und seiner Familie, sich dieser Neigung zu widersetzen (z. B. wegen einer Krankheit des Kindes oder der Eltern, wegen finanzieller Schwierigkeiten oder wegen einer Veränderung der elterlichen Präsenz zu Hause). Dazu kommen Lebensbedingungen, die Vermeidungsstrategien ermöglichen (z. B. Schulausfall, die Abschottung zu Hause, die Aufgabe täglicher Beschäftigungen), Schwierigkeiten der Eltern, sich abzusprechen, oder Konflikte zwischen ihnen und andere Faktoren. Selbst wenn also ein Elternteil einen wesentlichen Anteil an dem Prozess hat, lässt ihn dies trotzdem nicht »schuldig« an den Ängsten des Kindes werden. Ganz zu schweigen davon, dass der andere Elternteil mit seinen Anschuldigungen ebenfalls zum Fortbestehen des Problems beiträgt. Auch der anklagende Elternteil trägt jedoch nicht die »Schuld« an dem Problem. Wenn aber diese anschuldigenden Verhaltensweisen und die entsprechenden Gegenreaktionen gemäßigt werden können, entstehen die Voraussetzungen für eine bessere elterliche Auseinandersetzung mit dem Problem.

Das Verhaltensmuster des Beschuldigens verstärkt die Differenzen zwischen den Eltern. Dadurch wird ihre Fähigkeit, als elterlicher Anker zu fungieren, angegriffen oder sogar zunichte gemacht. Außerdem untergraben die gegenseitigen Beschuldigungen der Eltern das Gefühl der Sicherheit des Kindes. Die Vorwürfe der Eltern lassen das Kind in fortwährender Unsicherheit leben, da die elterliche Funktion ständig hinterfragt wird. Manchmal lassen die Konflikte der Eltern den für das Kind lebensnotwendigen Anker sogar zusammenbrechen. Das Kind versucht dann, sich durch ein beständiges Vermeidungsverhalten über Wasser zu halten.

Wir betrachten daher das Ziel, die gegenseitigen Beschuldigungen zu mäßigen, als eine Angelegenheit von hoher Priorität. Wir verdeutlichen den Eltern, dass eine beschuldigende Haltung das Problem fortbestehen lässt. Wir stellen klar, dass ein Elternteil niemals die alleinige Verantwortung für die Angststörung des Kindes trägt. Wir erklären dem beschuldigenden Elternteil, dass er den Partner nicht dazu bringen kann, seine »Schuld zuzugeben« und seinen Standpunkt entsprechend seinen eigenen Erwartungen zu ändern. Wir weisen darauf hin, dass allein schon der Versuch, den Partner von der eigenen Meinung zu überzeugen, dazu führt, dass er auf seinem Standpunkt beharrt. Wir bemühen uns um eine begrenzte praktische Zusammenarbeit zwischen den Eltern, selbst wenn in vielen grundsätzlichen Ansichten keine Übereinkunft erzielt werden kann.

Eine solche partielle Zusammenarbeit wirkt sich positiv auf das Kind aus. Das Kind erlebt dadurch, wie seine Ängste die Eltern zusammenschweißen, anstatt die Distanz zwischen ihnen zu vergrößern. Durch die elterliche Verankerung erlebt es ein gewisses Maß an Stabilität und gewinnt Rahmenbedingungen für sein Leben. Wir müssen im Gedächtnis behalten, dass es im Kind auch innere Stimmen gibt, die sich mit den Ängsten auseinandersetzen möchten. Die Zusammenarbeit der Eltern, selbst wenn sie begrenzt und unwesentlich erscheint, stärkt diese Stimmen und gibt ihnen Halt.

Alice und Volker sind die Eltern von Max, einem 11-jährigen Jungen, der unter einer Panikstörung und Agoraphobie leidet. Seit seiner frühen Kindheit neigt Max zu verschiedenen Ängsten und zu vielen zwanghaften Ritualen. Wegen seiner Angst vor den Panikattacken, die er als sehr bedrohlich erlebt, weigert Max sich, auch nur für einen Augenblick allein zu bleiben. Er begründet dies damit, dass er nicht wissen könne, ob er vielleicht sofortige medizinische Hilfe benötige. Die Bemühungen der Ärzte, ihn davon zu überzeugen, dass er gesund ist, haben nicht geholfen. Alice ist die Hauptbezugsperson für Max. Sie bemüht sich über alle Maßen, Max auf jedem möglichen Weg zu beruhigen. Sie verbringt ihre Zeit beinahe ausschließlich mit ihm, abgesehen von den wenigen Stunden, in denen er in der Schule ist. Sie hat ihn viele Male über die Jahre hinweg zu umfangreichen medizinischen Untersuchungen begleitet. Wegen seiner Schwierigkeiten hat sie sogar ihren Plan aufgegeben, nach mehreren Jahren zu Hause wieder eine Arbeit aufzunehmen.

Volker ist schon lange der Meinung, dass Alices Verhalten Max gegenüber falsch ist. Er hat oft versucht ihr zu erklären, dass ihre wiederholten Versuche, Max zu beruhigen, nicht helfen würden und dass sie ihm vermitteln müssten, dass er ein »ganz normales Kind« wie alle anderen sei. Immer wieder beobachtet er, wie Alice Max’ Forderungen nachgibt, ihre eigenen Angelegenheiten unterbricht, um ihn zum Arzt zu begleiten oder um einfach nur bei ihm zu sein. Seiner Meinung nach sind viele Ängste nur vorgeschoben, um die völlige Kontrolle über die Zeit seiner Mutter zu haben. Volker ärgert sich, dass Alice dies nicht sieht. Er hält ihr vor, dass sie die Verantwortung dafür trage, dass Max einen solch eingeschränkten Alltag habe. Er ist aufgrund seiner Ängste unfähig, allein das Haus zu verlassen, Freunde zu besuchen, an Ausflügen teilzunehmen oder einfach nur sein Leben zu führen. Volker meint, all dies sei das direkte Ergebnis von Alices falschen Entscheidungen.

Außerdem sieht er, wie Max seine Ängste nutzt, um Dinge zu erreichen, die er möchte, oder um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wenn er zum Beispiel schlafen gehen soll, beschwert er sich, dass er im Zimmer nicht atmen könne und deswegen im Wohnzimmer sein müsse. Dort sieht er dann natürlich Fernsehen. »Du verdirbst das Kind!«, sagt Volker wiederholt zu Alice. Sie ist jedoch davon überzeugt, dass man Max’ großes Leid nicht einfach ignorieren könne. Ihr Herz schmerzt jedes Mal, wenn sie Volker reden hört. Sie gibt zu, dass Volker in gewissen Dingen durchaus Recht hat. Bei ihm verhält Max sich meistens anders. Seine Kritik an ihr führt jedoch nur dazu, dass sie sich noch schwächer und hoffnungsloser fühlt. Es folgt die Botschaft des Therapeuten an beide Eltern, mit dem Ziel, die elterliche Verankerung wiederherzustellen.

Alice und Volker,
ich habe Ihnen beiden im Verlauf unserer letzten Sitzungen zugehört. Mal identifiziere ich mich mit dem Schmerz von Ihnen, Alice, mal mit dem Schmerz von Ihnen, Volker. Die ganze Zeit sehe ich jedoch vor mir, was Sie gemeinsam haben, die elterliche Basis, die Ihren Meinungsverschiedenheiten zugrunde liegt: die Sorge um ihren Sohn und die Energien, die sie in ihn investieren. Ihr Sohn ist kein einfaches Kind, und Sie beide haben schon so viele Dinge versucht, um ihm zu helfen.
Sie, Alice, haben viele Jahre Ihres Lebens der Fürsorge ihres Sohnes gewidmet, der viel mehr einfordert als die meisten Kinder. Sie haben ihm alles gegeben: Ihre Zeit, Ihre Kraft, Ihre Sorge, Ihre Liebe. Es gibt nichts, was sie für Max nicht aufgeben oder tun würden. Ich sehe und schätze diesen Einsatz. Und ich finde, Ihnen gebührt nicht nur meine Annerkennung dafür, sondern die Achtung eines jeden Menschen. Trotz all dieser Bemühungen haben Sie es nicht geschafft, Max’ Leid zu mindern. Sie waren dazu bereit, sein »Schutzkissen« zu sein, auch auf Kosten wichtiger Dinge in Ihrem Leben. Trotzdem fühlt Max sich weiterhin vollkommen unsicher. Sie haben mir erzählt, wie Max Ihnen manchmal sagt, dass er nicht atmen kann, dass er keine Luft kriegt. Ich habe den Eindruck, dass Sie schon viele Jahre keine Luft mehr bekommen. Sie haben seit langem aufgehört, selbst Luft zu holen. Aber Sie haben es nicht geschafft, Max die Luft zu geben, die Sie sich selbst vorenthalten.
Ihnen, Volker, möchte ich sagen, wie sehr ich Ihre Gedankengänge zu Max’ Problem schätze. Sie haben wiederholt das Problem genau analysiert und Dinge gesagt, die auch ich hätte sagen können. Ich glaube, dass auch Sie viel Frust ertragen müssen. Sie glauben zu wissen, was zu tun ist, um eine Veränderung der Situation zu erreichen. Aber trotz Ihrer Bemühungen, in diese Richtung zu weisen, bleibt die Lage, wie sie ist.
Ich bin der Meinung, dass es für Sie beide an der Zeit ist, einige Dinge zu ändern. Ihre Bemühungen haben bisher keine Verbesserung bewirkt. Irgendetwas geht trotz Ihrer guten Absichten schief. Sie, Alice, möchten Max Sicherheit geben, aber er wird immer abhängiger. Sie, Volker, möchten Alice davon überzeugen aufzuhören, Max zu beschützen. Ihre Bemerkungen werden jedoch als Vorwürfe aufgenommen. Anstatt dass Sie Alice stärken, schwächen Sie sie. Ich möchte Ihnen einen anderen Weg vorschlagen. Alice, ich schlage Ihnen vor, die Luft zu nehmen, die Ihnen schon lange gebührt. Sie brauchen Unterstützung, um das tun zu können. Deswegen schlage ich vor, dass wir zusammen einen Plan erstellen, damit Sie diese notwendige Unterstützung bekommen.
Wenn Sie nicht atmen können, dann wird auch Max in den kommenden Jahren weiter ersticken. Wenn Sie nicht Ihr eigenes Leben führen können, dann wird auch Max kein selbständiges Leben haben. Ihnen, Volker, möchte ich sagen, dass die ineffektiven Worte durch Taten ersetzt werden müssen. Wenn Sie wissen, was zu tun ist, dann tun Sie es! Wenn Sie verstehen, wie zu handeln ist, dann handeln Sie! Alice, das wird Max fördern, selbst wenn er protestieren sollte. Also, Volker, warten Sie nicht darauf, Alice von Ihrer Meinung zu überzeugen. Sie haben große Lebenserfahrung – anstatt zu versuchen, diese an Alice weiterzugeben, sollten Sie diese nutzen. Anstatt Alice zu belehren oder ihr zu predigen, seien Sie ihr Partner, stehen Sie ihr zur Seite und seien Sie ihr eine Stütze! Ich bin mir sicher, dass sie Ihre Hilfe annehmen und selbst handeln kann, wenn wir die Bedingungen dafür schaffen. Sie beide werden merken, wie Sie mit der Zeit stärker werden. Und noch etwas: Sie werden im Nu sehen, wie auch Max im positiven Sinne stark sein kann – und nicht nur im negativen Sinne.


Wie kann man eine begrenzte Zusammenarbeit erreichen?

Oft scheint es, dass das Verhältnis der Eltern von Grund auf verbessert oder die Differenzen in ihren Standpunkten und in ihren Erziehungsstilen ausgeräumt werden müssten. Dies scheint eine notwendige Voraussetzung für eine Zusammenarbeit zugunsten des ängstlichen Kindes zu sein. Viele Therapeuten sind dieser Überzeugung und verweisen Eltern deswegen an eine Paartherapie, in der Hoffnung, damit dem ängstlichen Kind zu helfen. Das Ziel, eine grundlegende Übereinkunft über Ideologie und Erziehungsstil zu erlangen, ist jedoch meist unrealistisch. Eltern, die in der Illusion gefangen sind, dass es »alles oder nichts« sein muss, vergeuden meist viel Zeit und Energie, während sich die Lage weiter verschlechtert. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine grundlegende Lösung der Eheprobleme keine notwendige Voraussetzung für eine Arbeit mit den Ängsten darstellt. Oft ist es gerade diese Vorstellung, die eine Veränderung der Lage verhindert.

Am Anfang dieses Kapitels haben wir ein Paar beschrieben, Gili und Shai, die sich nicht einigen konnten, wie mit den Ängsten ihrer Tochter Meli umzugehen sei. Über eine scheinbar unbedeutende Sache konnten sie sich jedoch zu Beginn des Veränderungsprozesses verständigen.

Shai und Gili entschieden, dass sie nicht mehr zulassen würden, Melis Bruder bei Meli schlafen zu lassen, wenn diese Angst hätte. Trotz der Auseinandersetzungen zwischen ihnen waren sie sich darüber einig, dass diese Bitte ihrem Bruder gegenüber nicht fair sei. Der hatte in letzter Zeit seiner Unzufriedenheit über die Situation immer häufiger Luft verschafft. Am ersten Abend, als Meli wieder darum bat, ihr Bruder möge bei ihr schlafen, reagierte Shai auf seine übliche Art und schlug Melis Bitte ab. Sofort wandte sich Meli an ihre Mutter und bat darum, das Ausschlagen der Bitte doch rückgängig zu machen. Gili hätte beinahe eingewilligt, da trafen ihre Augen die von Shai. Sie erinnerte sich an die Vereinbarung und sagte: »Papa und ich haben uns entschieden, dass das keine gute Sache ist!« Die Diskussion, die daraufhin entbrannte, war von kurzer Dauer und Meli schlief noch am selben Abend allein.
Dieses Ereignis zeigte für alle Beteiligten eine neue Möglichkeit in der Familiendynamik auf, nämlich dass die Eltern – wenn auch begrenzt – zusammenarbeiten können. Sie können trotz ihrer grundsätzlichen Differenzen und der unterschiedlichen Perspektiven, die sie über Melis Leid haben, gemeinsam praktische Entscheidungen fällen.

Eine Methode, um festgefahrene Standpunkte von Eltern aufzuweichen und eine begrenzte Zusammenarbeit zu erreichen, ist das zeitlich begrenzte Spiel der vertauschten Rollen. Für eine festgelegte Zeit müssen die Eltern ihre Rollen in einem bestimmten Bereich, in dem sie eine Zusammenarbeit anstreben, tauschen. Zum Beispiel muss der Elternteil, der bisher zum Nachgeben neigte, die Rolle des Grenzwächters in dem entsprechenden Bereich übernehmen. Der andere Elternteil, der bisher Grenzen setzte und Forderungen stellte, spielt nun die Rolle des weichen und nachgiebigen Elternteils. Die Eltern werden aufgefordert, sich nicht gegenseitig zu kritisieren oder bei der Ausführung der Rolle zu stören, selbst wenn sie das Gefühl haben, dass der Andere seiner vorgegebenen Rolle nicht treu bleibt.

Ina und Rudi, die Eltern der 7 Jahre alten Shelly, entschieden sich, die Rollen in Bezug auf Shellys Gewohnheit zu tauschen, jede Nacht in das Elternbett zu kommen. Wenn Shelly nachts aufwachte, bekam sie Angst und stapfte in das elterliche Schlafzimmer. Ina und Rudi wurden jedes Mal wach und fragten sie, was los sei. Shelly weinte meist und sagte, dass sich unter ihrem Bett Ungeheuer versteckten. Rudi versuchte sie dazu zu bewegen, wieder in ihr Bett zu gehen. Wenn dann aber das Weinen anschwoll, machte Ina ihr im elterlichen Bett Platz. Rudi war der Überzeugung, dass diese Gewohnheit nicht von allein verschwinden würde. Er wollte es nicht länger zulassen, dass Shelly in ihrem Bett schlief. Ina beschuldigte ihn, dass er herzlos sei und dass ihn das Weinen ihrer Tochter überhaupt nicht berühre.
In Folge des gemeinsamen Entschlusses, die Rollen für einige Nächte zu tauschen, wurde das nächtliche Szenario plötzlich ganz anders. Wie erwartet erschien Shelly nachts neben dem Bett ihrer Eltern und berichtete über die Rückkehr der Ungeheuer unter ihrem Bett. Ina sprach zu ihr in weichem, aber bestimmtem Ton und sagte, dass sie versuchen müsse, die Ängste zu überwinden. Sie sei bereit, neben ihrem Bett zu sitzen, bis sie eingeschlafen sei, aber sie könne Shelly nicht erlauben, im Bett der Eltern zu schlafen. Shelly war von dieser Reaktion überrascht und kam ganz durcheinander. Einige Momente schwieg sie, dann fing sie wieder an zu weinen. Daraufhin setzte sich Rudi an den Bettrand und nahm Shelly in seine Arme. »Das ist sicherlich ganz schön beängstigend, allein im dunklen Zimmer zu sein, nicht war?« Shelly schmiegte sich eng an ihn und hielt ihn fest. Am Ende war es Rudi, der neben ihrem Bett saß, bis sie einschlief
Während der Therapiesitzung am darauf folgenden Tag waren Ina und Rudi ganz gerührt. Rudi sprach von der Wärme, die er für Shelly verspürt hatte, als sie in seinen Armen Schutz suchte. Ina war beeindruckt, dass sie angesichts von Shellys Weinen nicht automatisch nachgegeben hatte. Solch ein Rollentausch erwies sich für Ina und Rudi auch in anderen Aufgabenbereichen als nützlich.


Wenn einer der Eltern die Zusammenarbeit verweigert

Manchmal gelingt es nicht, beide Eltern im Kampf gegen die Angst zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Diese Ablehnung kann verschiedene Gründe haben wie Misstrauen, die grundsätzliche Ablehnung psychologischer Eingriffe, die feste Überzeugung, dass es kein Problem gibt, fehlende Zeit, Uneinigkeit über die Prinzipien des Ansatzes oder aus der Haltung heraus entstehen, dass das Problem eigentlich nur den Partner betreffe. In solch einer Lage ist der andere Elternteil gezwungen, allein einseitige Maßnahmen zu ergreifen.

Um einseitige Maßnahmen ergreifen zu können, ohne hierbei eine weitere Verschärfung oder eine Eskalation der Situation zu bewirken, muss man sich so gut wie möglich von vorgefassten Meinungen befreien. Zum Beispiel muss man sich von der Auffassung lösen, dass der Partner, der nicht zu einer Zusammenarbeit bereit ist, an allem schuld sei und sowieso jeden Versuch einer Verbesserung zerschlagen werde. Angststörungen ziehen ihre Kräfte aus verschiedenen Quellen. Einige Quellen werden von jedem Elternteil einzeln auf bestimmte Weise beeinflusst. Der handelnde Elternteil muss akzeptieren, dass sein Anteil natürlich immer nur ein Teil dessen sein wird, was das Kind beeinflusst. Er hat nicht die Kraft, um eine vollständige Lösung des Problems zu bewirken. Trotzdem kann eine Erleichterung der Lage erreicht werden. Dadurch werden die Bedingungen für zukünftige Auseinandersetzungen verbessert.

Die Einsicht, dass unser Beitrag zu den Ereignissen immer nur ein partieller sein kann, ist für die Bewältigung vieler Probleme wichtig, unter anderem auch für die Ängste des Kindes. Wir wagen sogar zu behaupten, dass es schwer sein wird, die Auseinandersetzung mit dem Problem zu verbessern, solange eine Person der Illusion einer vollständigen Lösung anhängt. Die fehlende Zusammenarbeit des Partners zwingt uns zu dieser schmerzvollen, aber doch wichtigen Einsicht: Wir haben nicht alles unter Kontrolle. Wir haben nicht die Möglichkeit, die Umgebung des Kindes ganz und gar zu formen, und wir können nicht alle Faktoren beseitigen, die in verschiedene – und manchmal gegensätzliche – Richtungen weisen.

Die Akzeptanz der Beschränktheit unseres Einflusses ist eng mit unserer Fähigkeit verbunden, die Ankerfunktion gut zu erfüllen. Die Ankerfunktion ist nämlich von der Einsicht abhängig, dass wir das Kind weder retten noch zwingen können: Wir können als Eltern nur unsere Unterstützung anbieten. Das Kind wird entscheiden, ob es unsere Hilfe annehmen möchte. Diese Eingeschränktheit drückt sich auch in unserem Verhältnis zu unserem Partner oder bei Einflüssen in anderen Lebensbereichen des Kindes aus. Ein Anker kann weder die Strömungen des Meeres noch die Fahrt anderer Schiffe beeinflussen: Er erfüllt seine Funktion nur durch sein Gewicht, den Standort und seine Verbindung zum Schiff. Wenn wir also unseren elterlichen Standpunkt einnehmen, vermitteln wir zweierlei Botschaften: »Ich bin nicht mehr bereit hinzunehmen, dass du dich mir gegenüber so verhältst!«, und: »Ich kann nicht mehr tun als dies!«

Diese Einsicht ermöglicht uns, auch ohne die Zusammenarbeit des Partners zu handeln. Mit unseren einseitigen Maßnahmen sagen wir: »Hier stehe ich als Elternteil! Es ist meine Pflicht, so zu handeln!« Im gleichen Atemzug drücken wir damit auch aus: »Ich kann euch nicht zwingen, meine Meinung anzunehmen!«

Eine wichtige Bedingung, damit einseitige Maßnahmen gelingen können, ist die Vermeidung einer Eskalation und Verschärfung der Lage. Der Elternteil, der einseitige Maßnahmen ergreift, kann hierzu viel beitragen. Wie wir schon in unseren vorherigen Büchern betont haben (Omer und von Schlippe, 2004, 2010), ist die Entschärfung der Situation im Verlauf einer Auseinandersetzung meist den einseitigen Maßnahmen eines Beteiligten zu verdanken. Die Hoffnung, dass beide Seiten gleichzeitig einer Eskalation entgegenzuwirken suchen, realisiert sich nur in seltenen Fällen. Die Verbesserung von Konfliktsituationen ist meist einem einseitigen Handeln zu verdanken, bei dem einer der Beteiligten mit Bestimmtheit versucht, seinen Beitrag zum Teufelskreis einzustellen. Es folgen einige Prinzipien, die dabei helfen können, den eigenen Beitrag zu einer Verringerung der Auseinandersetzung zu leisten.


Handeln statt belehren

Einer der sichersten Wege, eine angespannte Situation zu verschärfen, besteht darin, den anderen Elternteil zu belehren. Menschen, die belehrt werden, fühlen sich in ihrem Selbstwertgefühl und in ihrer Ehre angegriffen und hegen Groll gegen die arrogante Haltung des Gegenübers. Leider lässt sich die Gewohnheit zu belehren nur schwer abgewöhnen, insbesondere da der Belehrende nicht immer merkt, dass er den anderen zu belehren sucht: Er glaubt, nur etwas zu erklären. Und seine Absicht ist durchaus zu erklären. Aber bei Konflikten verwischt der Unterschied zwischen Erklärung und Belehrung. Dies liegt daran, dass Menschen in Konfliktsituationen nicht fähig sind, den Argumenten einer anderen Person zuzuhören oder von ihr zu lernen. Das lässt den »Erklärenden« frustriert zurück, der sich nun genötigt fühlt, seine Erklärung noch bestimmter vorzutragen, damit sie verstanden wird. Der Tonfall wird daher energischer und eindringlicher. Was also als Erklärung anfing, wird alsbald zu einer deutlichen Belehrung. Die Reaktion des Partners fällt entsprechend aus: Je energischer die Belehrung, desto stärker die Ablehnung. Um eine Eskalation der Situation zu vermeiden, ist es daher wichtig, dass wir unserem inneren Drang Einhalt gebieten, den Anderen mit wachsender Energie »überzeugen« zu wollen. Dieser Verzicht bedeutet nicht, dass wir unsere Zielsetzung aufgeben. Ganz im Gegenteil: Einseitige Maßnahmen, die mit der Anerkennung des Rechtes des Anderen einhergehen, anders denken und handeln zu dürfen, haben größere Chancen, das eigene Ziel zu erreichen.


Größtmögliche Transparenz

Wenn wir hinter dem Rücken des Partners agieren, schürt dies zwangsläufig die Feindseligkeiten und vergrößert die Differenzen zwischen den Eltern. Dadurch wird die elterliche Fähigkeit, als Anker zu fungieren, geschwächt. Der Elternteil, der einseitige Maßnahmen ergreift, muss deswegen mit größtmöglicher Transparenz handeln und den Partner über seine geplanten Schritte informieren. Eine zuverlässige und friedliche Informationspolitik ist ein wichtiges Mittel, um einer Eskalation der Situation vorzubeugen. Die Berichterstattung hilft dabei zu vermeiden, dass die Differenzen zunehmen, selbst wenn der Partner angeblich kein Interesse an der Information zeigt. Der Bericht kann mündlich oder schriftlich, persönlich oder durch einen Vermittler überbracht werden. Man sollte darauf achten, dass die Berichterstattung keine Kritik enthält. Es folgt das Beispiel eines Briefes, den eine Mutter ihrem Mann überreichte, der sich weigerte, an den psychologischen Beratungsgesprächen teilzunehmen, und der die ganze Schuld an den Problemen des Sohnes der Mutter gab. Da die Kommunikation zwischen den Eltern sehr spärlich war, übergab die Mutter diese Botschaft dem Vater sowohl mündlich als auch schriftlich.

Lieber Moritz,
ich möchte Dich wissen lassen, welche Schritte ich im Hinblick auf Gordons Probleme unternehmen möchte. Ich nehme eine Beratung für Eltern mit ängstlichen Kindern in Anspruch. Ich hatte Deinen Bruder gebeten, Dir von dieser Beratung zu erzählen. Ich habe schon an zwei Sitzungen teilgenommen. Dort habe ich verstanden, dass ich aufhören muss, Gordons Forderungen nachzugeben, und dass ich ihm klare Grenzen setzen muss. Einige Leute werden meine Bemühungen unterstützen. Ich habe schon mit Deinem Bruder und seiner Frau gesprochen, und beide sind bereit, mir zu helfen. Auch meine beiden Schwestern und zwei meiner Freundinnen werden mich unterstützen. Mit Hilfe dieser Unterstützung beabsichtige ich, Gordon zu sagen, dass ich aufhören werde, ihm unnötige Hilfestellungen zu geben. Ich werde aufhören, ihm das Essen ins Zimmer zu bringen und nach seinen Wünschen zu kochen. Ich werde ihn auch nicht mehr zu seinen Nachmittagsaktivitäten und zu seinen Freunden fahren. Ich werde Unterstützung erhalten, um mit den zu erwartenden Wutanfällen von Gordon fertig zu werden. Ich erzähle meinen Helfern alle Details von meinen Problemen mit Gordon.
In der Beratung habe ich gelernt, dass es nichts hilft, Dich oder mich selbst für Gordons Probleme verantwortlich zu machen. Es ist aber auch nicht richtig, untätig zuzusehen und zu hoffen, dass die Rettung von selbst kommen möge. Ich verstehe, dass Du momentan nicht bereit bist, an den Beratungsgesprächen teilzunehmen. Ich respektiere Deine Entscheidung, insbesondere angesichts der Tatsache, dass ich nun das genaue Gegenteil von dem tun werde, was ich bisher die ganzen Jahre getan habe. Nächste Woche werde ich Gordon wissen lassen, was ich zu tun beabsichtige. Ich überreiche Dir beiliegend eine Kopie der Mitteilung an Gordon, damit Du im Bilde bist. Auch wenn Du weiterhin Vorbehalte hast, werde ich Dich über die weiteren Entwicklungen informieren. Ich würde mich natürlich freuen, wenn Du auch einen Beitrag zu der Auseinandersetzung leisten würdest, sei es in Zusammenarbeit mit mir, sei es auf Deinem eigenen Wege.
Sonja


Botschaften mit Hilfe von Vermittlern überreichen

Die Einschaltung von Vermittlern ist ein anerkanntes Mittel, um die Eskalation von Situationen zu verringern. Die Erfahrung mit Konflikten verschiedener Art zeigt, dass die gleichen Mitteilungen weniger Abwehr auslösen, wenn sie von einem Vermittler ausgesprochen werden, als wenn sie direkt gesagt werden. Eltern von Jugendlichen kennen das gut: Ihre Vorschläge stoßen beim Jugendlichen auf vehementen Widerstand, während sie ohne Schwierigkeiten angenommen werden, wenn sie von einer dritten Person vorgebracht werden. Dieser mäßigende Einfluss der Vermittler hat verschiedene Gründe. Vermittler sind seltener Reizauslöser als die Person, mit der wir einen Konflikt haben. Außerdem hat ein Vorschlag aus dem Mund einer dritten Person nicht den Beigeschmack einer Kapitulation, was häufig der Fall ist, wenn uns unser Gegenspieler einen Vorschlag unterbreitet. Zusätzlich bekommt die Interaktion durch die Anwesenheit eines Vermittlers ein Publikum, das unser Schamgefühl verstärkt und das unsere Bereitschaft eindämmt, in Wut auszubrechen. Entsprechend haben wir in unserer Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass gewalttätige Ausbrüche viel seltener in Anwesenheit eines außenstehenden Zeugen stattfinden.

Der mäßigende Einfluss einer dritten Person kann auch den Eltern helfen, die miteinander im Konflikt stehen, vorausgesetzt, die Person wird von beiden Eltern als Vermittler akzeptiert. Vielen Eltern fällt es schwer, eine dritte Person mit einzubeziehen. In Situationen, die eskalieren können oder in denen die Standpunkte polarisiert sind, lohnt es jedoch, dieses anfängliche Widerstreben zu überwinden. Oft wirkt sich eine minimale Verbesserung in der Zusammenarbeit der Eltern erheblich auf die häusliche Atmosphäre aus. In einigen Fällen haben wir erlebt, wie sich anfangs ein Elternteil weigerte, an der Beratung teilzunehmen, wie er jedoch nach der Übergabe einer Mitteilung durch einen Vermittler zu den Gesprächen hinzukam und einen entscheidenden Beitrag in der elterlichen Auseinandersetzung mit dem Problem leistete.


Das eigene Engagement vergrößern, ohne das Engagement des anderen Elternteils zu beeinträchtigen

Mit einseitigen Maßnahmen steigert der Elternteil, der die Initiative ergreift, sein Engagement im Leben des Kindes. Zum Beispiel investiert er mehr Zeit, um neue Schritte zu planen und auszuführen, alte Gewohnheiten zu durchbrechen, Unterstützung einzuholen und dem Kind wichtige Botschaften zu vermitteln. Mit all diesen Maßnahmen hört der Elternteil auf, für das Kind einfach nur wie selbstverständlich anwesend zu sein. Der Elternteil, der einseitige Maßnahmen ergreift, wird also zum Initiator von Veränderungen in der Familie und verstärkt seine Führungsposition in der Familie.

Diese Neuorientierung kann vom anderen Elternteil als bedrohlich empfunden werden. Er sieht dadurch seine Stellung in der Familie in Frage gestellt. Wenn zum Beispiel der Vater, der bisher eine Randfigur im Familienleben spielte, sein Engagement im Leben seines Sohnes verstärkt, könnte die Mutter das Gefühl bekommen, dass der Vater in ihren Verantwortungsbereich eindringt. In diesen Fällen ist es wichtig, dass der Elternteil, der einseitige Maßnahmen ergreift, gleichzeitig versöhnende und respektvolle Aussagen gegenüber seinem Partner macht. Diese Aussagen können entweder direkt oder mit Hilfe von Vermittlern überbracht werden. Der Initiator sollte betonen, dass er durch sein Handeln sein Engagement im Leben des Kindes verstärken möchte, dass er aber die Stellung des anderen Elternteils im Verhältnis zum Kind respektiere und wertschätze. Schon die Bereitschaft, solche Aussagen offen und nachdrücklich zu artikulieren, verringert das Misstrauen und den zu erwartenden Widerstand.

Der Partner, der die Initiative ergreift, muss verstehen und akzeptieren, dass der andere Partner das Kind weiterhin auf seine Weise behandeln wird und eventuell den neuen Eingriffen misstrauisch begegnen wird. Angesichts dieser Einschränkungen kann der Elternteil, der eine Veränderung einleiten möchte, natürlich fragen: »Was soll denn dann meine Arbeit bewirken, wenn mein Partner so weitermacht wie zuvor?« Wir erinnern daran, was wir über die innere Vielstimmigkeit der Seele des Kindes gesagt haben: Das ängstliche Kind trägt sowohl Stimmen in sich, die das Vermeidungsverhalten aufrechterhalten wollen, als auch Stimmen, die eine Auseinandersetzung mit der Angst befürworten. Diese positiven Stimmen sind vielleicht anfangs schwach oder nicht hörbar. Unter gewissen Umständen können sie jedoch stärker werden und sich Gehör verschaffen. Die einseitigen Maßnahmen eines Elternteils bereiten den Boden für solche Prozesse. Dies gilt natürlich nur, wenn die einseitigen Maßnahmen nicht von einem Prozess begleitet werden, in dem die Auseinandersetzungen zunehmen und die Standpunkte der Eltern sich verhärten.

Die angeführten Prinzipien, die den Erfolg von einseitigen Maßnahmen eines Elternteils befördern, haben einen gemeinsamen Nenner: Alle basieren darauf, dass der Dämonisierung des anderen Elternteils ein Ende gesetzt werden muss. Solange wir den anderen Elternteil für die Probleme des Kindes verantwortlich machen, werden die Auseinandersetzungen zunehmen und die Differenzen zwischen den Eltern sich auf destruktive Weise vergrößern. Indem wir aber aufhören, den Partner zu belehren, ihn über die beabsichtigten Schritte informieren, Vermittler einschalten und verdeutlichen, dass wir den Partner nicht vom Familienleben ausschließen wollen, erkennen wir an, dass auch wir einen wesentlichen Beitrag zum Fortbestehen des Problems geleistet haben, dass auch wir unser Handeln verändern müssen und dass wir für unser Handeln die volle Verantwortung übernehmen. Diese Haltung signalisiert Akzeptanz des Anderen und vermittelt Versöhnungsbereitschaft. Wir dürfen nicht erwarten, dass wir dadurch den anderen Elternteil von unserer Meinung überzeugen werden. Das Ziel, die Differenzen zumindest teilweise auszugleichen und einer Eskalation der Situation entgegenzuwirken, lässt sich jedoch auf diesem Weg erreichen. Diese Errungenschaft wird zu guter Letzt von der ganzen Familie bemerkt werden.

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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht



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