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Vorabdruck aus > Jürg Liechti & Monique Liechti-Darbellay: Im Konflikt und doch verbunden. Der systemtherapeutische Einbezug von Angehörigen - Ressource und Herausforderung

Liechti: Im Konflikt verbunden Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011 (März)

262 S., kartoniert

Preis: 27,95 €

ISBN-10: 389670771X
ISBN-13: 978-3896707710

Verlagsinformation: Zu den Kennzeichen der systemischen Therapie gehört, dass sie die wichtigen Bezugspersonen von Hilfesuchenden mit einbezieht. Was in der Theorie einleuchtend klingt, erweist sich in der Praxis jedoch oft als hindernisreich und mühsam. Monique und Jürg Liechti-Darbellay stellen sich den Problemen, die im Mehrpersonensetting auftreten können, und unterbreiten Handlungsvorschläge zu ihrer Lösung: Wie gewinnt man einen Vater zur Mitarbeit, ohne die pubertierende Tochter zu vergraulen? Was tun, wenn die Stiefmutter die Therapie blockiert? Wie spricht man als Therapeut mit einer Hausärztin, die das Problem in den überängstlichen Eltern sieht? Die Autoren decken „gute Gründe“ für Widerstand auf, erläutern den Unterschied zwischen Problem und Diagnose und arbeiten das zentrale Moment für den Erfolg eines Mehrpersonensettings heraus: die Eigenmotivation. Sie steigt im gleichen Maß, wie die Auswirkungen des beklagten Leids auf das Umfeld mit berücksichtigt werden. Von großem didaktischem Wert erweisen sich die Transkripte aus realen Therapiesitzungen. Sie illustrieren das Sammeln von Informationen und das Erarbeiten von Hypothesen über das System, führen die Mikroanalyse vor und vermitteln die angemessene „Therapierhetorik“, die Bewegung in die Kommunikation bringt. Einsteigern in die systemische Psychotherapie und Beratung macht das Buch Mut, Bezugspersonen in die Arbeit einzubeziehen und deren Ressourcen zu erschließen und zu nutzen. Erfahrene Therapeuten profitieren vom mosaikhaften Zusammenfließen von Theorie und Praxis.


Über die Autoren:
Jürg Liechti, Dr. med.; Studium der Humanmedizin, Experimentellen Medizin, Biologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Systemtherapie. Seit 1985 freiberufliche Praxis in Bern. Lehrbeauftragter für systemische Therapie an den Universitäten Bern, Zürich, Basel. Supervisor in verschiedenen Kliniken. Gründungsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung (SGS). Aufbau und Geschäftsleitung des Zentrums für Systemische Therapie und Beratung (ZSB Bern) seit 1995. Veröffentlichungen u. a.: „Magersucht in Therapie“ (2008), „Dann komm ich halt, sag aber nichts“ (2. Aufl. 2010). Verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern.
Monique Liechti-Darbellay, Dr. med., Studium der Humanmedizin in Bern und Lausanne. Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, klassische und psychodynamisch orientierte Psychiatrie, systemische Therapie. Seit 1985 freiberufliche Praxis in Bern. Dozentin und Supervisorin am ZSB Bern und am IAP Zürich. Supervisorin an verschiedenen psychiatrischen Institutionen (u. a. Universitäre Psychiatrische Dienste Bern UPD). Gründungsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung (SGS). Koautorin in verschiedenen Publikationen. Verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern.



Klientenorientierte Indikation (S. 100-115)

»Nach unserem Verständnis können Verhaltensmodelle oder -schemata
weder wahr oder falsch noch genau oder ungenau sein,
sie sind vielmehr danach zu beurteilen, inwieweit sie brauchbar oder
unbrauchbar für den Zweck sind, dem sie dienen sollen.«
Bandler, Grinder und Satir (1999)

Expertendefinierte versus klientenorientierte Indikation

In Fachkreisen herrscht das Bild der »klassischen« Paar- und Familientherapie vor, so wie sie ab Mitte des vorigen Jahrhunderts konzipiert wurde und wie sie Eingang in die aktuellen Lehrbücher zu Psychiatrie und Psychotherapie gefunden hat (Wirsching u. Scheib 2002; Perrez u. Baumann 2005).
Die (Lehr-)Meinung geht dahin, dass es eine Frage der expertendefinierten (selektiven bzw. methodendefinierten) Indikation sei, ob in einer bestimmten Therapiesituation Angehörige einbezogen werden sollen. »Expertendefiniert« heißt diese Indikationsform deshalb, weil dabei eine Expertenperson dem Einzelfall je nach der diagnostizierten Störung das passende – d. h. empirisch bestvalidierte – Verfahren zuordnet. Bei dieser Zuordnung geht es sowohl um grundsätzliche Fragen wie »Ist Psychotherapie überhaupt angebracht?« wie auch um differenziertere Fragen bezüglich der Methode, des Settings und der Kombination mit anderen Hilfen (Fiedler 2003).
Wo immer die empirische Validierung einer Methode fortgeschritten ist – man denke an die Chemotherapie bei häufigen Krebserkrankungen oder an Impfung –, ist die methodendefinierte Indikation vorzuziehen. In der Psychotherapieforschung scheint indessen ein gemeinsamer Nenner (noch) nicht gefunden zu sein. Nach Jahrzehnten erfolgreicher Therapieforschung sagte Klaus Grawe kurz vor seinem Tod (Grawe u. Fliegel 2005, S. 128): »Es ist eine noch offene Frage, wie die Psychotherapie am besten weiterentwickelt werden kann.« Unter den offenen Fragen spielen jene der Messbarkeit von Prozessen in triadischen und n-Adischen Beziehungen auf der Basis nichtlinearer Dynamiken sowie die Frage nach Kontexteinflüssen eine gewichtige Rolle.
Ist die expertenorientierte Indikation auf die optimale Passung zwischen Diagnose und Manual ausgerichtet, so zielt die »klientendefinierte« Indikation (sie wird auch als adaptiv, prozess- oder kooperationsorientiert bezeichnet) auf die fluktuierenden Gegebenheiten eines sich entwickelnden Therapiesystems ab. Dabei steht nicht ein bestimmtes Verfahren im Zentrum, sondern ein Vorgehen, das die eingesetzte Methodik an die flexible Zielerreichung anpasst (vgl. Bastine 1981; Mattejat 1997; Schweitzer u. von Schlippe 2006). Eine so arbeitende Fachperson 

»konstruiert ihr Verhalten jeweils neu im Hinblick auf die Erfordernisse der Situation und auf der Grundlage ihrer bisher entwickelten persönlichen und fachlichen Möglichkeiten im Hinblick auf das angestrebte Veränderungsziel« (Ambühl u. Grawe 1989, S. 2, zur Arbeitsweise eines »heuristisch« arbeitenden Therapeuten).


Fallbeispiel: Ich lass mir meine Eltern nicht wegnehmen

Standortbestimmung in einem Werkheim für betreuungsbedürftige Menschen. Anwesend sind der 31-jährige Heimbewohner Max K., seine Eltern, sein Beistand, die Psychiaterin (die ursprünglich vor allem der Medikamente wegen einbezogen wurde) sowie die Heimleitung und eine Vertreterin des Heimpersonals, das für die Betreuung des geistig leicht behinderten Max zuständig ist. Anlass zur Sitzung gab das Heimweh von Max. Die Heimleitung hatte den Eindruck, dass Max mit seinem Heimweh das Team spaltete. Im Namen des Heimwehs weigerte er sich nämlich, in der Küche zu helfen oder auch nur einen einzigen Teller abzuräumen. Wenn ihn das Personal an seine (durchaus angemessenen) Pflichten erinnerte, reagierte er gereizt bis ausfällig. Aber auch auf Versuche, ihn zu trösten und ihm Verständnis entgegenzubringen, reagierte er, paradoxerweise, abweisend. Dann schloss er sich ins Zimmer ein und wiederholte stets nur den einen Satz: »Ich lass mir meine Eltern nicht wegnehmen!«
Telefongespräche vor der Standortsitzung ließen erkennen, dass die Helfer den wunden Punkt erkannt hatten. Die Eltern und insbesondere der Vater verhielten sich gegenüber den Wünschen ihres Sohnes, das Heim zu verlassen und nach Hause zurückzukehren, ausgesprochen ambivalent. Das war umso erstaunlicher, als bereits frühere Heimunterbringungen in einer ähnlichen Sackgasse geendet hatten und weil die wenigen Weekends, die Max zu Hause verbrachte, die Eltern an den Rand der Erschöpfung trieben. Suchaktionen und nötig gewordene Polizeieinsätze, nachdem Max davongelaufen war und sich in der Öffentlichkeit auffällig verhalten hatte, bereiteten den Eltern Sorgen. Gegen das aktuelle Heim hatten sie eigentlich nichts einzuwenden, im Gegenteil, der Vater lobte es über die Maßen.
Nun, an einem kalten Novembernachmittag, sitzt Max mit düsterem Ausdruck und umrahmt von seinen Eltern in der Standortsitzung, und auf die wohlgemeinte Frage der Heimleitung, wie er sich denn im Heim fühle, sagt er mit suchendem Blicken zum Vater: »Ich lass mir meine Eltern nicht wegnehmen!«
Alle Anwesenden richten ihren Blick auf die Eltern und warten auf ihre Stellungnahme. Diese schauen ihren Sohn sprachlos an. Max wiederholt leise seine Botschaft: »Ich lass mir doch meine Eltern nicht wegnehmen!« In allen Helferköpfen scheinen sich dieselbe Ratlosigkeit und die Frage einzustellen: »Wie kann man den Vater bzw. beide Eltern dazu bewegen, dass sie in diesen Sekunden nicht schweigen, sondern reagieren und klar Stellung beziehen?« Es wäre doch so einfach! Der Vater könnte seinem Sohn in die Augen schauen, die Hand auf seinen Arm legen und ruhig sagen: »Max, ich weiß, dass du gerne nach Hause kommen möchtest. Wir haben es in der Vergangenheit unzählige Male versucht. Es tut mir so leid, feststellen zu müssen, dass es nicht geht. Du kannst nichts dafür, auch wir Eltern nicht und auch das Heim nicht. Ich und deine Mutter, wir Eltern sind außerstande, dich wieder nach Hause zu nehmen. Es ist einfach zu viel für uns. Wir bleiben deine Eltern, wir kommen dich besuchen, wann immer du es möchtest, und wir haben dich uneingeschränkt lieb. Doch jetzt ist es an der Zeit zu akzeptieren, dein Zuhause ist das Werkheim. Das ist die Realität.«
Was macht es so schwierig für den Vater, diese Sätze auszusprechen? Was lässt ihn stattdessen Löcher in die Luft starren?
Während dieser Standortbestimmung im Werkheim werden verschiedene Probleme deutlich. So gibt es die elterliche Sorge, für Max einen neuen Heimplatz zu suchen, falls sich das »Heimwehproblem« nicht lösen lässt. Es gibt das deklarierte Heimweh von Max und das Problem des Heims, das sich als ausgespielt erlebt und sich ja auch den anderen Heimbewohnern gegenüber verantwortlich fühlt (die Heimleiterin: »Wir sind daran interessiert, Max die Integration in unserer Institution zu erleichtern, doch es müssen alle ihren Teil dazu beitragen, sonst kommen wir langsam an unsere Grenzen«).
Auch für die anwesende Psychiaterin ergibt sich eine schwierige Lage. An sich vertrat sie die Medikamentenfrage. Soll sie trotzdem etwas sagen oder doch nicht? Wenn ja, was kann sie überhaupt beitragen? Fehlt es ihr doch an einem expliziten Therapieauftrag in Bezug auf die stagnierende Entwicklung. Nicht einmal ein gemeinsamer Nenner der Problembeschreibung war auszumachen. Die Sichtweisen und Interessen verliefen in unterschiedliche Richtungen. Auf jeden Fall sind die Bedingungen für irgendein expertendefiniertes Prozedere nicht gegeben (z. B. fehlt ein lerntheoretisch abgestütztes operantes Programm, das zum Ziel hat, Max dabei beizustehen, sich an neue Rahmenbedingungen zu gewöhnen). Im Sinne der adaptiven Indikation macht die Psychiaterin folgendes Angebot.

Therapeutin: Wenn ich mich jetzt zur Situation äußere, dann tue ich das aus einer Außenperspektive. Eigentlich beschränkt sich mein Auftrag ja auf die Medikamentenfrage. Trotzdem erlaube ich mir, etwas zur jetzigen Situation zu sagen. Vielleicht sage ich dabei Dinge, die gleich verraten, dass ich überhaupt nichts verstanden habe. Dann bitt ich Sie darum, es mir zu sagen und mir zu helfen, es besser zu verstehen. Was mich sehr beeindruckt, das ist das allseitige Engagement. [Zu Max:] Ihr Vertrauen in Ihre Eltern, [zu den Eltern:] Ihr Engagement für Ihren Sohn, Ihre Treue und Verlässlichkeit, [zu den Heimprofessionellen:] es beeindruckt mich auch, dass Sie es sich als professionelle Institution alles andere als leicht machen. Ihre Schilderungen zu den Vorkommnissen um das Heimweh von Max und wie sie damit umgehen finde ich sehr professionell. Ich habe den Eindruck, dass Sie einen sehr umsichtigen und engagierten Stil pflegen … Soweit ich die jetzige Sachlage beurteilen kann, ist trotz allseitigen Bemühens eine gewisse Pattsituation eingetreten. Was ich Ihnen anbieten kann, ist, dass wir im Rahmen einiger Therapiesitzungen nach alternativen Wegen suchen … Ich meine, es sollte Lösungen geben, die Max dienen und die von allen anderen unterstützt werden können. Allerdings gibt es Lösungen nicht ohne gründliche Gespräche. Ich biete ihnen solche Gespräche an. Mein Angebot ist allerdings an eine Bedingung geknüpft. [Zu den Eltern:] Als Erstes möchte ich mit Ihnen sprechen, denn niemand kennt Max so gut wie Sie. Sie müssten bereit sein, mir zu helfen, die Lebenssituation Ihres Sohnes im Detail zu verstehen.
 

Die Eltern sagen zu, während Max außerstande ist, eine eigene Meinung dazu zu äußern. Er bestätigt aber das Vorgehen, nachdem ihm die Eltern gut zugeredet haben. In den folgenden Gesprächen mit den Eltern erzählt der Vater, wie er während seiner Jugend als ältester Sohn die Verantwortung für die an multipler Sklerose erkrankten Mutter übernehmen musste, während sein eigener Vater als Handelsreisender oft tagelang von zu Hause fernblieb.
In der elterlichen Ehebeziehung zeigen sich »auf Max umgeleitete« Konflikte. Die von ihrem Charakter her eher lebensfrohe Mutter macht ihrem Mann den Vorwurf, er lasse jegliche Lebensfreude vermissen und entziehe sich gemeinsamen Paaraktivitäten, derweil er sich in die Arbeit und in die Sorge um Max verbeiße. Die Eltern sprechen gemeinsam auch zahlreiche Kränkungen und Verletzungen an, wie sie Familien mit einem benachteiligten Kind gerade im Umgang mit professionellen Helfern und Hilfeinstitutionen zuhauf widerfahren. Ein weiteres Thema betrifft die noch lebende 87-jährige Mutter der Mutter, die ihren Schwiegersohn nie gemocht hat, ebenso wenig wie den behinderten Max. Mithin zog sich ein Riss durch Familie und Generationen, der ihnen die Kraft nahm, sich als Individuen sowie in den Beziehungen weiterzuentwickeln.
Die Therapeutin verständigt sich auch mit dem Heimteam. Die zuständigen Professionellen zeigen sich umso motivierter, mit Max »einen Weg« zu finden, je deutlicher es Zeichen dafür gibt, dass die Eltern mit ihnen am gleichen Strang ziehen. »Über den Berg« ist die Therapie nach anderthalb Jahren, als die Eltern eine 14-tägige Reise nach Australien buchten und der Vater es dabei aushält, Max zu Hause (= im Heim) zurückzulassen.
Im Verlaufe dieser »Therapie« gibt es weder einen Auftrag noch eine Diagnose. Der Prozess beginnt vielmehr mit einem therapeutischen Angebot, das aus der Beobachtung entsteht, dass Menschen einander in unglücklicher Weise beeinflussen:

»Es ist bemerkenswert, dass Biografen, Romanautoren und Bühnenschriftsteller das Verhalten ihrer Personen immer mithilfe des Einflusses erklären, den andere Menschen auf sie ausüben. Selten oder nie nehmen sie zu Traditionen oder Rollen und ähnlichen überindividuellen Abstraktionen als erklärende Prinzipien Zuflucht. Wie so oft, scheint auch hier die Intuition von Schriftstellern den gewichtigen Behauptungen von Sozialforschern überlegen zu sein« (Murdock 1971, zit. nach Blok 1985, S. 92).

Offenbar haben »adaptive« Therapeuten mit Schriftstellern gemeinsam, dass sie sich für die Idiosynkrasie der individuellen Biografie interessieren und dass sie die »Hauptpersonen« auf ihrem Weg eng begleiten und unterstützen.
Paar- und Familientherapie, so wie sie in aktuellen Lehrbüchern zur Psychotherapie behandelt werden, beziehen sich zum großen Teil auf eine expertendefinierte und methodenorientierte Indikation. Vielleicht liegt ein Grund für diese Bevorzugung darin, dass so die Lehre einfacher zu vermitteln ist (deklaratives Wissen, das von Therapieprozessen unabhängig ist, kann in Tabellen dargestellt und auswendig gelernt werden).
Die »klassische« Sichtweise kommt auch in den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinische Fachgesellschaften (AWMF) zum Ausdruck (Scheib u. Wirsching 2002). Gemäß diesen Kriterien ist die Paar- und Familientherapie – in Abgrenzung zu individuumzentrierten Verfahren – dann indiziert, wenn:
  • das klinische Problem eines Patienten eng verknüpft ist mit Problemen in seinen Paar- oder Familienbeziehungen und diese Beziehungsprobleme ohne Familientherapie nicht oder nur viel langwieriger lösbar sind
  • mehrere Familienmitglieder zugleich psychotherapeutischer Behandlung bedürfen oder die individuelle psychotherapeutische Behandlung eines Familienmitgliedes gesundheitsgefährdende Beziehungskrisen bei seinen Angehörigen ausgelöst hat
  • chronische oder sehr belastende akute Krankheitsprozesse eines Patienten die Bewältigungsprozesse seiner Angehörigen erschöpft haben, sodass bei ihnen Dekompensation droht
  • familiäre Ressourcen für das Weiterleben eines erkrankten Mitgliedes in der Familie, alternativ zu langfristiger Hospitalisierung oder Heimunterbringung, aktiviert werden sollen
  • andere Familienmitglieder einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung oder Milderung der klinischen Problematik des Patienten leisten können und dieser Beitrag ohne die Einbeziehung dieser Familienmitglieder in die Therapie nicht bzw. nur unzureichend aktivierbar ist.
Diese Herangehensweise setzt im klassischen Sinn das Individuum ins Zentrum der Betrachtung und stellt ihm die Paar- und Familientherapie als eine Methodik mit begrenzter Anwendung gegenüber. Um Risiken und negative Folgen dieser Methode für die Hilfesuchenden zu vermeiden, werden entsprechende Kontraindikationen angegeben.
Demzufolge ist auf Paar- und Familientherapie (unter anderem) dann zu verzichten, wenn im Verlauf erkennbar wird, dass unerwünschte Wirkungen auftreten, oder wenn im Rahmen der Auftragsklärung deutlich wird, dass die Gesprächsteilnehmer einer Paar- oder Familientherapie gegenüber ablehnend eingestellt sind (Wirsching u. Scheib 2002).
In einem gewissen Kontrast dazu betrachten wir gerade in solcherart »kontraindizierten« Fällen die »adaptive Indikation« für ein systemtherapeutisches Verfahren als gegeben. Allerdings setzt es am Kontext an, nicht am Individuum, generiert dadurch neue Informationen, Sichtweisen und Unterschiede in einem Therapiesystem und bringt somit stagnierende Entwicklung in Gang.

Unterschiede herausarbeiten

Die Aufgabe besteht darin, Hilfesuchende auf Unterschiede aufmerksam zu machen.

»Was aber ist ein Unterschied? Ein Unterschied ist ein sehr spezieller und dunkler Begriff. Ganz sicher ist er kein Ding oder Ereignis […]. Ein Unterschied ist etwas Abstraktes […] In der Welt des Geistes kann nichts – das, was nicht ist – eine Ursache sein. In den Naturwissenschaften fragen wir nach Ursachen und erwarten, dass sie existieren und ›real‹ sind. Denken Sie aber daran, dass sich null von eins unterscheidet, und weil das so ist, kann null in der psychologischen Welt, der Welt der Kommunikation, eine Ursache sein. Der Brief, den man nicht schreibt, kann eine wütende Erwiderung auslösen« (Bateson 1983, S. 580).

Wenn Max sagt: »Ich lass mir doch meine Eltern nicht wegnehmen!«, dann lautet vielleicht die Gegenfrage der Therapeutin: »Ist es denn überhaupt möglich, dass irgendjemand Ihnen die Eltern wegnehmen kann?« Und damit erzeugt sie einen Unterschied (Unterschied über die Zeit ist Veränderung).
Psychisch leidende Menschen sind nicht (nur) in ihrer »Welt« gefangen, sondern auch in ihren Beschreibungen davon. Sie sind sich kaum bewusst, dass sie mit ihren Worten aus der Vielfalt dieser Welt mehr aus- als einschließen. Dadurch werden zwar das Gefühl der Kontrolle über die Welt verbessert und entsprechende Ängste gemildert, allerdings zum Preis einer zunehmenden Verarmung des Erlebens in der Welt bis zur totalen Vereinsamung. Therapie bedeutet daher stets auch eine Ermutigung zur Bereicherung mit Perspektiven. Der Sprachforscher Alfred Korzybski (1879–1950) bewies seinen Studenten die Unmöglichkeit, eine »vollständige« Beschreibung oder Landkarte anzufertigen, indem er sie beispielsweise einen Apfel beschreiben ließ und für jede vermeintlich abschließende Antwort gleich mehrere weiterführende Zusatzfragen stellte (Rapoport 1972). Daher gilt die Maxime: Helfen Sie den Menschen, die Dinge anders, von einer anderen Seite oder Perspektive aus zu sehen und bisherige Wörter, Begriffe, Bilder etc. zu hinterfragen, relativieren, verflüssigen. In jedem Apfel steckt ein Universum.

Fährten aufnehmen

Eine prozess- oder klientendefinierte Indikation ist eine Therapieempfehlung, die nicht einseitig von Fachleuten vorgegeben, sondern im Gespräch mit Hilfesuchenden erarbeitet wird. Das gilt auch hinsichtlich des Einbezugs Dritter. Einer der Gedanken in diesem Buch besteht in der (funktionalen, psychodynamisch inspirierten) Annahme, dass die ablehnende Haltung gegenüber dem Einbezug von Angehörigen das Ergebnis von Vermeidungslernen darstellt. So aufgefasst, schützen sich Menschen damit vor (weiteren?, vermeintlichen?) traumatischen Erfahrungen, negativen Erlebnissen, unverarbeiteten »Komplexen«, Ambivalenzen, Konflikt- und Bestrafungsängsten. Diese Annahme geht von einer Logik des mehr oder weniger bewussten »Ja, aber« aus (»Ja, vom Kopf her gesehen wäre es richtig, meine Eltern einzubeziehen, aber vom Gefühl her ist es unmöglich«).
Die »wahrste« Wahrheit ist in diesem Fall jene der Klienten. Ein sich an demokratischen Spielregeln und einem »informierten Konsens« orientierendes Therapiegespräch kommt dieser Wahrheit auf die Spur. Dabei hält sich die Fachperson an das konkrete Thema der Systemerweiterung, lässt es nicht aus den Augen und lenkt es in zunehmend fruchtbare, klärende Bahnen, damit die Hilfe suchende Person ihre eigene Positionen dazu einnehmen und Absichten entwickeln kann (sokratisches Gespräch, vgl. Heckmann, 1993). Treten »Widerstände« auf, so generiert die Fachperson neue Hypothesen (»Könnte es sein, dass ich etwas noch nicht ganz verstanden habe?«). Während die (Leit-)Idee der Systemerweiterung den roten Faden bildet, arbeitet sich die Fachperson von Hypothese zu Hypothese vor, als wären es Eisschollen in einem Fluss, den es zu überqueren gilt. Die einen Eisstücke tragen mehr, die anderen halten weniger aus oder brechen weg. Grundsätzlich gilt: Je besser der Therapeut die Gründe für den »Widerstand« gegen den Einbezug von Angehörigen versteht, desto eher kann er der Patientin helfen, ihrerseits das Pro und Kontra eines Einbezugs realistischer einzuschätzen.

Fallbeispiel 10: Wo ist mein Zuhause?

Das folgende Beispiel stammt aus einem Erstinterview mit einer 27-jährigen alleinstehenden Frau, Isabelle N., die in einem Erschöpfungszustand erscheint, weil sie wegen nächtlicher Bulimie-Anfälle im Stundenrhythmus kaum noch zu Schlaf kommt. Sie ist Einzelkind, die Eltern sind geschieden.

Patientin: In der letzten Zeit habe ich verzweifelt nach jemandem gesucht, zu dem ich schlafen gehen könnte, doch es hat sich einfach nichts ergeben. Und zu meiner Mutter … da habe ich das Gefühl … also, sie hat ohnehin nur ein Bett … Und irgendwie hält mich einfach etwas davon ab. Ich bin jetzt 27-jährig … und zu meinem Vater kann ich auch nicht gehen, einfach weil mich zu viel an die früheren Probleme erinnert. Nein, also das ginge auch nicht. Also, ich muss irgendwie doch alleine klarkommen.

Therapeut: Darf ich Sie etwas fragen? Vielleicht ist es eine merkwürdige Frage.

Patientin: Ja, sicher.

Therapeut: Gesetzt den Fall, es gäbe irgendeine Methode, die sofort und radikal wirkt. Diese Wundermethode vermag Sie zwar nicht vor der Bulimie zu schützen, aber immerhin vor all den schlechten Gefühlen, den Ängsten, Scham- und Schuldgefühlen, die sie mit sich bringt. Da stünden Sie nun, Sie und die Bulimie, die Ihnen die Nächte schwer macht. Nun wären Sie also in der Lage, absolut frei zu entscheiden, bei wem Sie die Nächte verbringen möchten. Bei wem würden Sie die nächste Nacht verbringen?

Patientin: Das ist schwierig zu sagen. Am liebsten bei einer Freundin. Aber das habe ich bereits aufgegeben, weil, da würde ich mich schämen, wenn ich dann doch einen Essanfall hätte. Ich habe sie auch schon gefragt, und sie hat dann nach einiger Überlegung abgelehnt. Das hat mich sehr gekränkt, ehrlich gesagt … Ja, es klingt komisch, aber am liebsten bei der Mutter … und das tut auch weh, weil ich jetzt merke, wie sehr mir das fehlt. Ich meine, dass ich diesen Ort nicht habe, wo ich nach Hause gehen kann. Aber ich möchte es auch nicht erwarten, weil … die Eltern sind ja eigentlich nicht mehr für mich verantwortlich [lange Pause] …

Therapeut: Noch eine andere Frage. Falls es eine solche Methode gäbe, und sie würde dazu führen, dass wir hier in Anwesenheit dieser Menschen, zum Beispiel mit Ihrer Freundin oder Ihrer Mutter, diese Fragen erörtern könnten … ohne Scham, ohne Schuldgefühle und auch ohne Angst, dass Sie dabei die Selbstständigkeit verlören …, wie wichtig wäre für Sie eine solche Methode, sagen wir, auf einer Skala 1 bis 10, 10 bedeutete sehr wichtig?

Patientin: Also … schon 8 oder 9 [Klientin beginnt still zu weinen]. Ich weiß, dass ich meine Mutter mit meinen Problemen belaste. Sie gibt mir zu spüren, dass ich jetzt endlich selbstständig sein sollte … dass ich sie in Ruhe lassen soll.

Therapeut: Verstehe ich Sie richtig, Sie gehen davon aus, dass Ihre Mutter kein Interesse hat, die Nächte mit ihrer erwachsenen Tochter zu verbringen?

Patientin: Ja. Sie gibt es mir zu spüren.

Therapeut: Und wie macht sie das?

Patientin: Wenn es mir schlecht geht, dann reagiert sie ungeduldig und hat keine Zeit.

Therapeut: Gesetzt den Fall, Ihre Mutter säße hier mit uns, und sie würde nun protestieren und behaupten, das sei nicht Ungeduld, sondern das sei wirklich nur Überforderung … Schuldgefühle, schlechte Mutter und so … Sie halte es einfach nicht aus zuzusehen, wie sehr ihre geliebte Tochter leidet.

Patientin: Das kann ich mir nicht vorstellen!

Therapeut: Gibt es in Ihrem Umfeld Menschen, die sich das durchaus vorstellen könnten?

Patientin (nach langer Überlegung): Vielleicht meine Freundin. Ja, sie hat einmal gesagt, meine Mutter habe ein schlechtes Gewissen wegen der Scheidung. Das sehe ich aber nicht so.

Therapeut: Wie sicher sind Sie in Ihrer Einschätzung, sagen wir in Prozent?

Patientin: 99 Prozent!

Therapeut: Aha. Sie sind sich ziemlich sicher.

Patientin: Ja.

Therapeut: Aber eben nur ziemlich. Gesetzt den Fall, Sie würden sich täuschen, das eine Prozent – beziehungsweise Ihre Freundin – wäre dann näher bei der Wahrheit. Wie wichtig wäre Ihnen diese Erkenntnis, sagen wir auf einer Skala von 1 bis 10?

Patientin: Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, aber das wäre schon eine neue Sichtweise. Ja, das wäre für mich neu, es wäre sehr wichtig, also
10. Aber meine Erfahrungen sind anders. Ich kenne doch meine Mutter.

Therapeut: Sie erwähnen Ihre Erfahrungen mit der Mutter … Könnte es sein, dass sich da zwischen Ihnen und Ihrer Mutter eine Art Teppichmuster eingespielt hat, sodass die Mutter in diesem Mutter-Tochter-Teppich gar nicht anders weben kann als ungeduldig, auch wenn sie selber es vielleicht ganz anders erlebt?

Patientin (lange Pause): So habe ich mir das noch nie überlegt.

Therapeut: Wäre es für Sie ein gangbarer Weg, die Mutter zu einer Sitzung einzuladen, um das Teppichmuster der Beziehung allenfalls aus einer neuen Perspektive zu betrachten?

Patientin: Ja, schon. Nur glaube ich nicht, dass sie kommen möchte.

Therapeut: Eines muss klar sein: Ob Sie die Mutter einladen möchten oder nicht, das ist letztlich Ihre eigene Entscheidung. Ich kann allenfalls Fragen stellen. Falls Sie es wünschen, dann bestünde ein erster Schritt beispielsweise darin, dass Sie die Mutter einfach mal darauf ansprechen. Falls sie die Einladung ablehnt, wäre das für Sie ja nichts Neues. Ihre 99 Prozent kämen dann einfach zum Zug. In der nächsten Sitzung könnten wir uns dann überlegen, ob Sie das so akzeptieren oder doch weiter hinterfragen möchten …

Haltung und Fragenmethodik der Fachperson sind systemisch-beziehungsorientiert. Das Gespräch zielt darauf ab, die Wirklichkeitskonstruktionen der Klientin in Bezug auf die Einbeziehung der Mutter zu stören oder anzuregen (konstruktivistischer Zugang). Dabei lässt sich der Therapeut vom (bindungstheoretischen) Konzept führen, dass die Patientin im Verlaufe ihrer Entwicklung ein »unsicheres« Beziehungsmodell (in der Sprache der Bindungstheorie: »inneres Arbeitsmodell«) aufgebaut hat. So gesehen, ist sie nicht »Opfer einer kalten Mutter«, sondern gefangen in den kognitiv-affektiven Vermeidungsschemata sowie in der sich selbst erfüllenden und perpetuierenden Dynamik auf der Beziehungsebene. Teils als »Opfer«, teils als »Urheberin« ist sie zirkulär-kausal in das Netz der kybernetischen Kreisläufe eingebunden.
Um leidaufrechterhaltende Muster nachhaltig zu unterbrechen, haben bereits die Familientherapiepioniere propagiert, problemrelevante Personen physisch einzubeziehen (in der ihnen eigentümlichen Sprache): »Der Therapeut muss die Personen zusammenführen, um sie unabhängiger zu machen« (Haley 1979, S. 20). In neuer Lesart wird dadurch der (systemische) Arbeitskontext optimiert, sodass sich sowohl autoorganisatorische Prozesse wie auch erlebnisaktivierende und sinnlich-korrektive Erfahrungen einstellen.
Die Hypothese, dass Hilfesuchende die Einbeziehung signifikanter anderer grundsätzlich wünschen, schließt nicht aus, dass es gute Gründe für ihre Verwerfung gibt – etwa bei Missbrauchserfahrungen. Mitunter haben Patienten auch die schlechte Erfahrung gemacht, dass sie ihre Angehörigen vor Schuldzuweisungen schützen müssen. Das Verwerfungsrecht bleibt immer aufseiten der Klientel (im Sinn des »plébiscite quotidien«, vgl. Renan 1882, das echte Freiwilligkeit anstrebt). Außerdem sollte das Risiko einer »Theoriegegenübertragung« ausgeräumt werden, das sich dadurch ausdrückt, dass KlientInnen ihre Angehörigen einladen, weil sie sich mit der Fachperson und ihrer Therapietheorie identifizieren (Hubble et al. 2001). Hierzu sind Verbesserungs-und Verschlimmerungsfragen geeignet, etwa wie folgt:

  • Sie haben sich nun entschieden, Ihre Mutter zu einer Sitzung einzuladen. Ganz konkret, woran würden Sie nach dieser Sitzung erkennen, dass die Entscheidung falsch (richtig) war?
  • Wie müsste die Sitzung konkret verlaufen, damit Sie an ihrem Ende immer noch (überhaupt nicht mehr) den Eindruck haben würden, dass die Entscheidung richtig (falsch) war?
  • Welche Kommentare könnten wichtige Bezugspersonen beisteuern, sodass Sie sich mit Ihrer Entscheidung sicherer oder unsicherer fühlen?
Im Unterschied zum systemischen Ansatz erster Ordnung, bei dem die Fachperson »weiß, was für die Klientin richtig ist« (power to the therapist), bleibt die Klientin somit die Expertin ihrer eigenen Entscheidungen. Der Therapeut sieht sich dabei als Teil eines Kommunikationssystems, das er nur insofern beobachtet (und beschreibt), als er stets auch sich selbst (bzw. die eigenen Konstrukte) mit berücksichtigt. So aufgefasst, ist er Mitspieler in einem Sprachspiel und damit in das soziale Gesamtsystem zirkulär eingebunden (= therapeutisches System; systemischer Ansatz zweiter Ordnung, vgl. Hoffman, 1995). In dieser Optik liegt die Veränderungskraft im professionell begleiteten Beziehungssystem (power to the mediators).
Isabelle N. entschied sich, ihre Mutter für eine Sitzung einzuladen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen. Wie so oft verflüchtigte sich ihre Furcht vor einer schroffen Absage in dem Moment, als die Mutter nicht nur auf Anhieb zusagte, sondern die Einladung dankbar, sichtlich berührt und erleichtert annahm (am selben Abend teilte die Patientin dem Therapeuten telefonisch mit: »Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann wir zum letzten Mal ein so gutes Gespräch gehabt haben«).
Vorab kam die Mutter (im Einverständnis mit der Tochter) zu einem Einzelgespräch. Unter Tränen schilderte sie ihren Leidensweg mit einer Tochter, die die Mutterliebe scheinbar ablehnte.

Mutter: Das hat schon ganz früh angefangen. Ich war ja noch sehr jung, und der Vater von Isabelle hat sich aus dem Staub gemacht. Ich wollte nicht der Gemeinde zur Last fallen. Also habe ich gearbeitet, 120 Prozent, nur so hat es zum Leben gereicht. Aber es gab bestimmt zu wenig Zeit für Isabelle. Wenn ich sie in die Arme nahm, hat sie sich wie wild zur Wehr gesetzt. Sie hat immer geschrien und ihre Unzufriedenheit gezeigt. Zuerst hat mich das als junge Mutter verunsichert. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht wie andere Mütter meine Tochter trösten konnte. Mit der Zeit hat es mich auch wütend gemacht. Auch meine Mutter konnte mir nicht helfen und machte nur Vorwürfe. Der Hausarzt hat bestätigt, dass ich überlastet und deswegen vielleicht »zu nervig« geworden sei. Ich war sehr verzweifelt. Später hat mir Isabelle all das vorgeworfen. Daraus habe ich geschlossen, dass sie mich hasst. Mit diesem Umstand habe ich mich irgendwie eingerichtet. Ich bin ihr nicht mehr zu nah gekommen. Aus der heutigen Perspektive sehe ich das vielleicht anders; denn ich habe ja auch viel darüber nachgedacht. Damals habe ich es aber genau so erlebt. Ich habe mich als eine unfähige Mutter erlebt, von ihrem eigenen Kind abgelehnt.

Therapeut: Gesetzt den Fall, Isabelle würde jetzt auch gleich hier sitzen, was denken Sie, was würde sie zu dieser Sicht der Dinge sagen?

Mutter (überlegt): Bis letzthin, als sie mich gefragt hat, ob ich an eine Sitzung mitkomme, wäre sie wohl aufgebraust. Während der vergangenen Jahre habe ich es deshalb vermieden, solche Themen anzuschneiden. Ich wusste, wenn ich Frieden mit meiner Tochter haben will, dann darf ich davon … nicht von solchen Dingen reden. Es hat mich jetzt schon sehr erstaunt, dass sie mich gefragt hat … Ja, dass sie überhaupt Hilfe gesucht hat. Ich habe das immer gehofft. Aber es anzusprechen, wär unmöglich gewesen.

So erleichtert sich die Mutter von der Aussicht fühlte, eine Annäherung an ihre Tochter zu erreichen, so sehr argwöhnte sie, dass die Wiederaufnahme alter Themen umgekehrt zu einer weiteren Verhärtung der Beziehung führen könnte. Ein solcher Verlauf ist auch nicht von vornherein auszuschließen. Umso wichtiger ist es, dass sie aus einer eigenen und freien Entscheidung in die »Arena der Auseinandersetzung« mit ihrer Tochter tritt. Ist dies der Fall, dann macht sie das Vorgehen zu ihrer eigenen Sache (Commitment) und übernimmt damit auch die Verantwortung für die Folgen. Daraus folgt: Die Schwierigkeit der Arbeit im Mehrpersonensetting liegt nicht allein darin, die Menschen zusammenzuführen, sondern die psychologischen Voraussetzungen dazu zu schaffen, dass sie die Klärung ungünstiger Prämissen und von Vorurteilen sowie die Bewältigung anstehender Konflikte zu ihrer eigenen Sache machen und dafür auch die Verantwortung übernehmen. In diesem Sinn wurden mit der Mutter entsprechende »Verschlimmerungsfragen« diskutiert: »Es könnte ja sein, dass Ihre Tochter an der Sitzung eine Bombe platzen lässt, und alles wäre dann noch schlimmer. Ich möchte es Ihrer Tochter nicht unterstellen, sondern spreche mehr grundsätzlich und aus der Erfahrung heraus. Ich möchte sicher sein, dass es nicht meine Entscheidung ist, eine gemeinsame Sitzung abzuhalten, sondern Ihre. Was wäre, wenn …«
Eine Woche später fand die Sitzung mit Mutter und Tochter statt.

Isabelle (zur Mutter gewandt): Es sind Dinge, die ich mir eingebildet habe, vielleicht wirklich nur eingebildet, ich weiß es ja nicht, weil, ich war ja erst … etwa fünfjährig … aber irgendwie sehe ich es noch heute so. Und ich habe gemerkt, dass es mir nicht hilft, wenn ich versuche, mit Verstand, mit Erwachsenwerden darüber nachzudenken, es hat einfach nichts genutzt. Auf Dauer. Also, so Sachen wie … vor allem Ängste. Ich weiß es auch nicht. Ein Gefühl von Abgelehntsein, wo ich mich frage, ob … [lange Pause] wo ich mich frage, ob du mich wirklich abgelehnt hast oder ob ich mir das nur eingebildet habe, ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Ich merke einfach, dass das Gefühl noch immer da ist, das … also, ob ich mich selber in eine Außenseiterrolle gebracht habe, und dann hat das jeder so aufgespürt … [Zum Therapeuten:] Zum Beispiel in der Schule, die haben das instinktiv gemerkt, dass ich so bin, und dann haben sie mich auch als Außenseiterin behandelt … [wieder zur Mutter:] Oder, ob ich … Ich weiß es wirklich nicht [lange Pause].

Mutter: Also, sicher ist es so, also, was ich dazu sagen kann, sicher bist du schon von klein auf … [sucht nach Worten]. Also, wo ich von deinem Papi weg bin und wo du ja mittlerweile auch weißt, welche Gründe es gegeben hat … du weißt es ja nur am Rand, nicht im Detail, und das ist ja auch nicht nötig. Du bist ja noch klein gewesen, erst 13 Monate, und dann bin ich weg von ihm, weil es mich gedünkt hat, so ist es nicht tragbar, weder für dich noch für mich. Und damals hast du ganz schnell angefangen … aber es geht jetzt hier nicht um Vorwürfe …

Isabelle: … Ja, ja, nein, es geht nicht um Vorwürfe …

Mutter: … Ich erzähle es einfach, wie ich es erlebt habe. Da kann man ja nicht von Schuld reden, so klein. Da habe ich also arbeiten gehen müssen, und du bist zeitweilig in einem Pflegeplatz untergebracht gewesen, in der Zeit, wo ich arbeiten gegangen bin. Weil, bei Grosi [bei der Großmutter] ist es ja nicht möglich gewesen, wie du weißt … Und da hast du angefangen, mich wegzuschieben … Ja! Wirklich! Wie soll ich sagen? Ja, wegschieben! Also, wie ich es damals wahrgenommen habe, nicht wie ich heute darüber nachdenke. Damals habe ich es so wahrgenommen. Ich habe versucht, mit dir zu spielen, wenn ich abends da war nach der Arbeit, ich habe versucht, mit dir Gemeinschaft zu haben, in deinem Zimmer gemeinsam etwas zu machen, aber da hast du mich hinausgeschickt, das hast du nicht gewollt. Du wolltest alleine spielen. Also, schon ziemlich früh. Und das habe ich natürlich nicht verstanden, damals.

Isabelle: Logisch!

Mutter: Und das hat sich durch alles durchgezogen.

Wenn wir im Workshoprahmen die gesamte Videosequenz dieser wechselseitigen »Beichte« zwischen Mutter und Tochter betrachten und diskutieren, wird von den meisten »Beobachtern« eine Diskrepanz zwischen dem Inhalt der »Beichte« einerseits und der merkwürdig »kühlen« Emotionslage der beiden Frauen andererseits moniert. Bindungstheoretisch gesehen, sind Mutter und Tochter immerhin in der Lage, die Geschehnisse sprachlich-reflexiv zu ergründen, während die sinnlich-emotionale Verarbeitung in der Beziehung offenbar noch aussteht.
Die Emotionalität änderte sich grundlegend zu dem Zeitpunkt (zwei Monate später), als es darum ging, die Entscheidung bezüglich einer stationären Therapie zur Behandlung der Bulimie zu treffen. Im Auftrag von Isabelle unterstützte der Therapeut dabei die Mutter, die zuerst sehr unsicher, dann immer wie sicherer die Argumente für den Eintritt in eine Spezialklinik vertrat.

Mutter: Du hast ja gesagt … also gewünscht, dass ich offen bin … dass ich offen rede … weißt du, nicht mehr so das Drumherum wie all die Jahre. Dass ich jetzt meine Meinung sage … Das ist für mich nicht einfach. Ich vertraue dir, dass du das ehrlich meinst und dass du nicht nur angenehme Dinge von mir hören willst, wenn es mir … wie soll ich sagen [lange Pause] …

Therapeut (zu Isabelle): Ich glaube, jetzt steht da eine Frage im Raum. Oder vielleicht eher eine Bitte um Bestätigung. So in dem Sinn: Soll ich die Dinge direkt sagen oder lieber um den Brei herum … oder überhaupt nicht?

Isabelle: Ja, direkt … [Zur Mutter:] Ich möchte, dass du deine Meinung doch sagst. Es nützt ja nichts, dass wir so … um den Brei schwatzen … Ich hab einfach Angst davor, noch einmal dorthin [in die Klinik] zu gehen …
Aber vielleicht wär’s ja jetzt anders … [beginnt zu weinen], damals, wo ich dort war, fühlte ich mich allein gelassen …

Mutter (wischt sich Tränen aus den Augen): Das ist jetzt eben so eine Sache … und da gibt es zwei verschiedene Meinungen. Ich habe es immer bedauert, weil ich den Eindruck gehabt habe, dass du meinen Besuch gar nicht gewünscht hast. Aber das meine ich jetzt nicht als einen Vorwurf …

Isabelle (verweint): Nein, nein. Es ist kein Vorwurf.

Mutter: Aber, ehrlich gesagt, so wie es Doktor L. sagt, das ist meine Meinung. Du würdest dem Problem einfach ausweichen. Das wäre nicht ehrlich. Du weißt ja, dass es ohne Klinik nicht geht. Zumindest für den Anfang. Auch bei mir zu Hause … da geht es doch auch nicht, weil, ich muss ja arbeiten gehen … Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, ja … weißt du, ich habe einfach Angst, dass es wieder so wäre wie früher. Ich bin ehrlich dafür, dass wir mehr miteinander zu tun haben … natürlich nur, wenn du das auch möchtest …

Isabelle: Ja, aber …

Mutter: … Aber wir müssen vorsichtig sein. Es darf nicht die Bulimie … Ich glaube, die Klinik wäre ein Sprungbrett, eine neue Hoffnung …

Obwohl Isabelle die Mutter vorerst »wegschob« mit Sätzen wie »Das ist doch meine Sache!« oder »Ich gehe in die Klinik, wenn es mir passt!« blieb die Mutter beharrlich und einfühlsam – unterstützt vom Therapeuten, der sich bei Isabelle nach jeder Sitzung unter vier Augen des Auftrags versicherte. Irgendwie schien Isabelle längst gewusst zu haben, dass sie um eine stationäre Behandlung ihrer schweren Bulimie nicht herumkommt, so wie ein Bach zu wissen scheint, wohin er fließt. Isabelle hat zwar nie mehr im Bett ihrer Mutter geschlafen. Ungeachtet dessen fasste sie langsam Vertrauen in die mütterliche Haltung und gab nach – zuerst unter trotzigen, dann versöhnlichen Tränen. Schließlich erklärte sie sich zu einem erneuten Eintritt in die Klinik bereit.
Die neuen kommunikativen Brücken zwischen Mutter und Tochter lösten das Problem der Bulimie nicht. Es bewahrheitete sich die Aussage, dass auch ein sehr bedeutsamer Wechsel in der familiären Interaktion nicht notwendigerweise zu Änderungen in der Symptomatik des Indexpatienten führt. Indessen öffnete der veränderte (Beziehungs-)Kontext Türen für neue Entscheidungen.


Literatur:

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Bateson, G. (1983): Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
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Grawe, K. u. S. Fliegel (2005). »Ich glaube nicht, dass eine Richtung einen Wahrheitsanspruch stellen kann!« Klaus Grawe in Gesprächen mit Steffen Fliegel. Psychotherapie im Dialog 6: 128–135.
Haley, J. (1979): Direktive Familientherapie. München (Pfeiffer).
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Hoffman, L. (1995): Grundlagen der Familientherapie. Hamburg (Isko).
Hubble, M. A., B. L. Duncan u. S. D. Miller (Hrsg.) (2001): So wirkt Psychotherapie. Dortmund (modernes lernen).
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Murdock, G., P. (1971): Anthropologic mythology. In: A. Blok (1978): Anthropologische Perspektiven. Stuttgart (Klett-Cotta).
Perrez, M. u. U. Baumann (2005): Lehrbuch Klinische Psychologie – Psychotherapie. Bern (Huber).
Rapoport, A. (1972): Bedeutungslehre. Darmstadt (Darmstädter Blätter).
Renan, E. (1882): Qu’ est-ce qu’ une nation? Paris (Lévy).
Scheib, P. u. M. Wirsching (2002): Vom Erstkontakt zum Behandlungsabschluss. In: M. Wirsching u. P. Scheib (2002): Paar- und Familientherapie. Berlin (Springer).
Schweitzer, J. u. A. von Schlippe (2006): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages



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