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Vorabdruck aus> Kenneth & Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus

Gergen Einführung in den Konstruktionismus Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2009 (September)

118 S., kartoniert

Preis: 12,95 €

ISBN-10:
3896706810
ISBN-13:
978-3896706812

Verlagsinformation:
Der soziale Konstruktionismus ist eine Ausrichtung der Sozialpsychologie, die untersucht, wie gesellschaftliche Wirklichkeit über sprachliche Mittel hergestellt wird. Alles scheinbar Reale ist durch Beziehungen aufgebaute Konstruktion. Die Wurzeln dieses Ansatzes liegen in den USA. Seit einigen Jahren wird er jedoch auch in Europa als viel versprechend, innovativ und zukunftsträchtig wahrgenommen. Kenneth J. Gergen gilt als führender Vertreter dieser Erkenntnisweise. In der vorliegenden Einführung will er zusammen mit seiner Frau, Mary Gergen, ein Grundverständnis für die kraftvollen Ideen des Sozialen Konstruktionismus vermitteln. In fünf Kapiteln führen die Autoren durch die wichtigsten theoretischen Entwicklungen und die praktischen Auswirkungen konstruktionistischer Szenarien in Organisationen, Psychotherapie, Erziehung, Konfliktlösung, Sozialforschung und im Alltag. Das abschließende Kapitel setzt sich mit den Kritikern des Ansatzes auseinander.


Über die AutorInnen:

Kenneth J. Gergen ist Professor für Psychologie am Swarthmore College und Gründer des Taos Instituts, einer Non-Profit-Organisation, die sich mit der Weiterentwicklung des Sozialen Konstruktionismus und seinen gesellschaftlichen Anwendungsfeldern (u. a. Therapie, Organisationsberatung und Erziehung) beschäftigt. Forschungsstipendien der Guggenheim-Stiftung, der Fulbright Stiftung und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung führten ihn auch nach Deutschland. Hier wurde er u. a. durch sein Buch "Das übersättigte Selbst: Identitätsprobleme im heutigen Leben" bekannt. Mary Gergen ist emeritierte Professorin für Psychologie und Gender-Studien an der Penn State University. Nach ihrem Ph. D. in Sozialpsychologie arbeitete sie zunächst als psychologische Beraterin bei AT&T. Zusammen mit Kenneth Gergen gründete sie das Taos Institut. Heute betreut sie Doktoranden und lehrt Feministische Theorie an einem College in Pennsylvania. Außerdem ist sie Mitherausgeberin eines elekronischen Newsletters, der ein positives Bild vom Altern vermitteln will.


Kapitel 2: Von der Kritik zur Rekonstruktion

Eines der faszinierendsten Dinge bezüglich unseres eigenen Engagements im Bereich konstruktionistischer Ideen ist die unaufhörliche Kreativität, zu der diese Ideen einladen. Diejenigen, die Wahrheit suchen, versuchen, die Welt auf einen einzigen, starren Satz von Wörtern zu reduzieren. Wahrheit zu deklarieren heißt, Sprache einzufrieren und somit das Reich der Bedeutungsmöglichkeiten zu reduzieren. Im Gegensatz dazu bevorzugen Konstruktionistinnen und Konstruktionisten immer einen offenen Dialog, in dem stets Platz ist für eine andere Stimme, für eine andere Vision und Revision sowie für weitere Expansionen des Beziehungsfeldes. In diesem Kapitel führen wir einige wichtige Entwicklungen im Bereich konstruktionistischer Dialoge ein. Zuerst wenden wir uns den Beiträgen des Konstruktionismus zu kritischer Reflexion zu. Diese Diskussion wird uns auf die konstruktionistische Infragestellung der westlichen Tradition des Individualismus vorbereiten. Im Sozialen Konstruktionismus wird das Individuum als Quelle von Wissen und Bedeutung durch Beziehung ersetzt. Schließlich werden wir aktuelle Ansätze der Rekonstruktion des Selbst beleuchten.

Dekonstruktion und darüber hinaus

Mit der Verbreitung konstruktionistischer Ideen ging auch eine Steigerung kritischer Reflexionen im Alltag einher. Warum ist das so? Weil wir realisieren, dass alles immer auch anders sein könnte, sobald wir uns gewahr werden, dass jegliche Aussage bezüglich der Natur der Dinge lediglich „ein Weg des Begreifens“ ist – unabhängig von dem Status, den Leistungen oder dem offenbaren Genius des Sprechers. Jede Art der Weltkonstruktion erhält eine bestimmte Tradition aufrecht, die mit bestimmten Werten aufgeladen ist, während gleichzeitig alles, was nicht mit eingeschlossen ist, unbeachtet bleibt. Folglich wächst die Neugierde zu erfahren, wessen Tradition besonders geehrt oder nicht hinterfragt und wessen Stimme unterdrückt wird oder verstummt. Wir fangen zum Beispiel an zu fragen, was für eine Art von Welt durch diesen oder jenen Zeitungsbericht hergestellt wird oder durch diese politische Rede oder durch eine Institution, die wissenschaftliche Schriften verfasst. Wer wird bevorzugt? Wer wird marginalisiert? Wollen wir diese Art der Weltkonstruktion notwendigerweise annehmen ebenso wie die Zukunft, die damit für uns hergestellt wird? Diese Art kritischer Sensibilität breitet sich zunehmend in der westlichen Kultur aus. Wir werden empfindsamer für die Art, in der das Fernsehen verschiedene Gruppen konstruiert, z. B. Afroamerikaner, Frauen, Italiener, Senioren. Bildungsprogramme der Medien sensibilisieren uns für die Prozesse, durch die Politiker „Fakten herstellen“ und für die subtile Einbettung politischer Ideologien in Nachrichtenberichte. Eltern sind höchst beunruhigt ob der Einstellungen, die ihren Kindern durch das Fernsehen vermittelt werden. All diese Überlegungen zeigen die bereits existierende kritische Haltung bestimmten Wirklichkeitsentwürfen gegenüber und in diesem Sinne ist konstruktionistische Wissenschaft Ausdruck einer breiteren Sensibilität, die schon im Gange ist.
Innerhalb der akademischen Sphäre ist diese kritische Einstellung längst geschärft. Hervorstechend waren vor allem feministische Wissenschaftlerinnen, die bereits früh auf die subtilen Vorurteile aufmerksam gemacht haben, die in Wörtern wie „mankind“ (Menschheit), „policeman“ (Polizist/Polizistin) und „chairman“ (Vorsitzender/Vorsitzende) enthalten sind und die sich fragen, warum Gott als Mann dargestellt wird. Andere Gruppe haben sich mittlerweile dieser Bewegung an geschlossen, Menschen, die das unterdrückende Gewicht der etablierten Kultur fühlen, das auf ihrem Leben lastet. Ein Großteil dieser kritischen Arbeit ist zurzeit in den Kulturwissenschaften lokalisiert, u. a. in den Bereichen Afroamerikanische Studien, Asien-Studien oder Studien zur sexuellen Identität. Im nächsten Kapitel werden wir die spezifische Arbeit einer Bewegung namens Critical Education (Kritische Pädagogik) in den Blick nehmen.

Wer hat die Macht: Das Sperma oder das Ei?

Ein kraftvolles Beispiel für kritisch feministische Arbeit sind Emily Martins Studien über die Beschreibungsweise menschlicher Befruchtungsprozesse in medizinischen Texten. Die populärsten Schilderungen folgen einem Märchen, dem zufolge eine Vielzahl aktiver Spermien (die heroischen Figuren des Märchens) um die große Chance ringen, die Festung zu erobern und das Prinzessinnenei zu durchdringen. Währenddessen sitzt die Prinzessin passiv und wartet auf den glücklichen Gewinner des Wettkampfs. Die Befruchtung ist das erfolgreiche Ende der Eroberung durch den Helden. Martin betont, dass dieser biologische Befruchtungsansatz den alten Mythos über den machtvollen, aktiven Mann und die passive, hilflose Frau wissenschaftlich autorisiert.
Sicherlich, wenn wir uns den Befruchtungsvorgang auf Video ansehen, sehen wir praktisch das aktive Spermium, das die passive Eizelle durchdringt. Oder etwa nicht? Was würden wir sehen, fragt Martin, wenn unsere Geschichte sich dadurch auszeichnen würde, dass von einer exotischen Ei-Sirene die Rede wäre, die die hilflosen, unglücklichen Spermien in ihr Lager köderte? Während sie sie herbeiwinkt, sucht sie eines aus und zerstört den Rest. Diesmal wird die Eizelle zur dominanten Kraft. Unsere Sicht dessen, was im Video passiert, verändert sich dementsprechend.
Die zweite Geschichte ist selbstverständlich nicht wahrer als die erste. (Und auch nicht politisch korrekter!) Bei beiden handelt es sich um narrative Konstruktionen bezüglich dessen, was stattfindet. Doch die wissenschaftlichen Implikationen sind völlig unterschiedlich. Der medizinischen Anthropologin Emily Martin ist es besonders wichtig, die politische Natur unserer Interpretationen zu verdeutlichen. Das Resultat ist auch eine qualifiziertere Biologie. In der traditionellen Forschung bezüglich Unfruchtbarkeit wurde die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Mobilität und Kraft der Spermien gelegt. Durch die Annahme der zweiten Geschichte – die Eizelle als Sirene – wird auch den Charakteristiken der Eizelle Aufmerksamkeit geschenkt und den Durchgangswegen der Spermien. Wie auch immer – beide Geschichten sind begrenzt. Welche anderen Geschichten oder Metaphern könnten zur Erhöhung unseres Verständnisses menschlicher Reproduktion beitragen?
Kritische Bemühungen dieser Couleur sind für die Entwicklung von Demokratie enorm wichtig. Sie hintertreiben Versuche einzelner Gruppen, andere durch bestimmte Konstruktionen des Realen und des Guten zu dominieren oder zu unterdrücken. Sie multiplizieren die „gegenseitige Kontrolle“ zwecks Sicherung von Partizipation. So entstanden zum Beispiel hunderte von Webseiten und Internetforen aus dem Bewusstsein heraus, dass alle wichtigen Zeitungen ihre Nachrichten aus einer bestimmten Perspektive formulieren und dass es nur sehr wenige unabhängige Zeitungen gibt. Diese Foren bieten die Option öffentlicher Äußerung. Zusätzlich zur Förderung demokratischer Prozesse erleben viele Menschen diese kritischen Arbeiten als Befreiung. Wir sind dann frei, Alternativen zu berücksichtigen, wenn wir in der Lage sind, die Grenzen und inhärenten Vorurteile des für selbstverständlich Gehaltenen zu sehen.
Kritische Impulse sind zwar für eine gerechte Gesellschaft essenziell, jedoch auch gefährlich. Kritik stellt die Legitimität des Gesagten oder Geschriebenen in Frage. Wenn es unsere eigenen Worte sind, die attackiert werden, dann kann es vorkommen, dass wir als voreingenommen, egoistisch, unterdrückend oder ausbeutend dargestellt werden. Es verwundert nicht, dass auf Kritik häufig mit Ärger oder Gegenangriff reagiert wird. Beide, sowohl die Kritiker als auch die Zielscheiben der Kritik, glauben typischerweise an die Güte und Richtigkeit des eigenen Handelns. Das gegenseitige Vertrauen ist schnell zerstört, Feindseligkeit gewinnt die Oberhand. Es gilt, die Tradition kompromissloser Kritik in neue Diskursformen überzuführen. Wie können wir kritisch reflektieren, ohne andere zu dämonisieren? Wie können wir uns jenseits der Barrieren separierender Bedeutungserzeugung bewegen, um zusammen eine aussichtsreiche Zukunft zu entwerfen? Einige Möglichkeiten werden wir im dritten Kapitel beleuchten.

Vom Individuum zur Beziehung

Was ist offensichtlicher als der Fakt, dass unsere soziale Welt aus getrennten Individuen besteht, die normalerweise alle mit der Kapazität ausgestattet sind, bewusste Entscheidungen zu treffen? Aus diesem offensichtlichen Grund bevorzugen wir eine Demokratie, in der jeder erwachsene Bürger und jede erwach sene Bürgerin das Recht hat, eine Stimme abzugeben, Gerichtshöfe, in denen wir individuelle Akteure für ihre Taten verantwortlich halten, Schulen, in denen wir die individuelle Arbeit jedes Schülers und jeder Schülerin bewerten und Organisationen, in denen sich die Beurteilungen auf den Einzelnen beziehen. Vor allem darum charakterisieren wir die westliche Kultur als individualistisch.
Dennoch halten Konstruktionistinnen und Konstruktionisten die offensichtliche Tatsache des „Individuums als bewusstem Entscheidungsträger“ nicht für selbstverständlich. Stattdessen sehen wir darin lediglich einen Weg der Welterzeugung. Faktisch ist die individualistische Orientierung im sozialen Leben gar nicht so alt, geschichtlich gesehen etwa drei Jahrhunderte. Und sie wird nicht von der Mehrheit der Menschen dieser Welt geteilt. Dieser Umstand macht sie nicht falsch, doch er erlaubt uns, aus diesem Gehäuse herauszutreten und nach den Vorund Nachteilen zu fragen. Was haben wir davon, wenn wir die Welt auf diese Weise konstruieren? Was verlieren wir? Welche Alternativen gibt es?
Sicherlich kann viel zum Vorteil des Individualismus gesagt werden. Zum Beispiel ist das Leben für viele Menschen gerade darum bedeutsam und sinnvoll, weil sie sich um ihretwillen geliebt, geehrt oder geschätzt fühlen. Und für die meisten von uns gibt es keine der Demokratie vorzuziehende Alternative. Gleichzeitig hat der Individualismus auch seine Schattenseiten. Aus individualistischer Sicht sind wir eingeladen, die soziale Welt als eine zu sehen, die aus grundsätzlich isolierten Individuen besteht. Wir lernen, dass wir die Seele der anderen nicht durchschauen können. Darum können wir ihnen nicht vollkommen vertrauen. Weil wir voraussetzen, dass jeder sich selbst am nächsten ist, haben wir moralische Schulungen nötig – damit wir lernen, für andere zu sorgen. Selbstachtung wird eine Kardinaldimension in unserem Leben, wir haben Angst, verspottet zu werden und wir versuchen, immer besser zu sein als andere. In einer individualistischen Welt spielen Beziehungen die zweite Geige. Sie werden als künstliche Erfindung behandelt, gelten als zeitraubend und lediglich für abhängige Menschen von Bedeutung.
Genau an diesem Punkt greifen konstruktionistische Ideen. Wenn eine bestimmte Konstruktion des Selbst oder der Welt unser Wohlbefinden gefährdet, sind wir eingeladen, Alternativen zu entwickeln. Aus konstruktionistischer Perspektive bilden Beziehungen und nicht Individuen die Basis der Gesellschaft. Lassen Sie uns diese Position nun näher betrachten, doch nicht mit dem Ziel, die Wahrheit des relationalen Standpunktes zu beweisen, sondern um zu sehen, welche vielleicht neuen und aussichtsreicheren Handlungsformen ein Denken in Beziehungen in Aussicht stellt.

Sinn als koordiniertes Handeln

Traditionellerweise wird Sinn als etwas bezeichnet, das sich in den Köpfen einzelner Individuen befindet. Wir nehmen an, dass Wörter nach außen gerichtete Ausdrücke innerer Verstandestätigkeiten sind. Wenn wir jemanden fragen: „Was meinst Du damit?“, dann erwarten wir, dass der Sprecher seine privaten Sichtweisen spezifiziert. Diese Konzeption von Bedeutung liegt im Zentrum der individualistischen Tradition. Sie sieht das Individuum als Quelle jeglicher Bedeutungsgebung. Neben ihrer Neigung zum Individualismus produziert diese Konzeption auch ein Problem menschlichen Verstehens. Wenn sich Bedeutung „innerhalb des Kopfes“ befindet und wenn verbale Äußerungen der einzige Anhaltspunkt sind, das zu erfassen, „was dort drinnen vor sich geht“, dann werden wir niemals in der Lage sein, den Anderen zu verstehen. Wir können niemals verifizieren, dass wir mit unseren Annahmen richtig liegen. Uns stehen lediglich die nach außen dringenden Bemerkungen des Gesprächspartners zur Verfügung. Doch diese Äußerungen bringen uns in die gleiche Verlegenheit. Wie können wir wissen, was sie bedeuten? Wir befinden uns dann in einem Kreislauf, den Wissenschaftler hermeneutischen Zirkel nennen, eine niemals endende Spirale, in der jede Antwort schlicht eine neue Frage kreiert. Lassen Sie uns auf die Annahme verzichten, Sinn befinde sich innerhalb des Kopfes. Lassen Sie uns stattdessen den Fokus auf die Art und Weise legen, wie Sinn durch Beziehungen erzeugt wird. Wir lassen also das Innen hinter uns und bewegen uns in Richtung Dazwischen. Wie können wir Bedeutung als relational – also als in Beziehung gestellt – fassen?

Die folgenden vier Prämissen sind zentral:

1) Die Äußerungen eines Individuums besitzen selbst keinen Sinn.
 
Ein Mann trifft eine Frau auf der Straße. Er lächelt und sagt „Hallo Anna“. Sie hört ihn nicht und geht schweigend vorbei. Was hat er denn dann gesagt? Sicherlich, er hat zwei Worte ausgesprochen. Doch trotz all des Unterschiedes den dies macht, hätte er auch zwei Nonsens-Silben wählen oder nichts sagen können. Alleine kann er keinen Sinn erzeugen.

2) Bedeutungserzeugung wird durch ergänzende Handlungen verwirklicht.

Unsere Äußerungen fangen an Sinn zu machen, wenn unser Gegenüber darauf antwortet, also wenn der andere eine ergänzende Handlung anschließt. Wenn Anna antwortet „Oh, hallo, guten Morgen …“, dann hat sie die Worte des Mannes als Begrüßung kreiert. Kommunizieren heißt, anderen ein Privileg von Bedeutung zugestehen. Wenn andere unsere Äußerungen nicht als Kommunikation behandeln („Das macht überhaupt keinen Sinn“), wenn sie es nicht fertigbringen, sich selbst um unsere Angebote herum zu koordinieren („Das ist stupide“), dann haben wir es nicht geschafft, Sinn herzustellen.
Wenn wir diese beiden ersten Prämissen kombinieren, sehen wir, dass Sinn keineswegs innerhalb des Kopfes der beiden Individuum residiert, sondern nur innerhalb ihrer Beziehung. Beide, die Handlung und die Ergänzung, müssen koordiniert werden, damit Sinn hervorgehen kann. Wie ein Handschlag, ein Kuss oder ein Tango, letztendlich sind zwei dafür erforderlich.

3) Ergänzende Handlung selbst erfordert auch wieder eine Ergänzung.
 
Jede Ergänzung funktioniert zweifach: Erstens gewährt sie dem Vorausgehenden Bedeutsamkeit, und zweitens funktioniert sie als eine Handlung, die selbst Ergänzung erfordert. Sie wird also erst sinnvoll, wenn sie eine Ergänzung erfährt. Denken Sie an eine Therapieklientin, die über ihr Gefühl von Hilflosigkeit spricht. Sie fühlt sich weder dazu in der Lage, mit ihrem aggressiven Ehemann fertig zu werden noch mit ihrer untolerierbaren beruflichen Situation. Die Therapeutin kann diese Schilderung als Ausdruck einer Depression kreieren, indem sie sagt: „Ja, ich kann sehen, warum Sie depressiv sind. Erzählen Sie mir etwas mehr.“ Diese Ergänzung macht allerdings solange keinen Sinn, bis die Klientin ebenfalls eine Ergänzung liefert. Ignoriert sie die Aussage, dann erkennt sie den Worten der Therapeutin die Signifikanz ab. Wenn sie betont: „Ich habe nicht gesagt, dass ich depressiv war! Ich bin lediglich verärgert!“, dann reduziert sie die Aussage der Therapeutin auf eine arrogante Behauptung. Wenn sie sagt: „Ja, ich bin schrecklich depressiv…“, dann bekommt die Depression eine Realität für die beiden und sie können damit arbeiten. In einem breiteren Sinne kann man sagen: Wir leben unser Leben dialogisch. Sinn machen wir nur aufgrund dessen, was vorausgeht und was folgt.

4) Traditionen liefern uns Bedeutungsmöglichkeiten, aber sie determinieren nichts.

Es ist wichtig sich vorzustellen, dass die Worte und Handlungen, mit denen wir gemeinsam Bedeutung erzeugen, größtenteils aus anderen Zeiten und von anderen Orten ausgeliehen sind. Würde sich uns jemand nähern und damit anfangen, eine Folge von Vokalen zu äußern wie „ahhh, ehhh, ooo, uuuu …“, dann wären wir sicherlich verwirrt. Vielleicht würden wir nach dem nächsten Ausgang Ausschau halten. Die Handlungen des Individuums befinden sich außerhalb jeglicher uns bekannten koordinierten Sequenz. Letztendlich beruht unsere heutige Fähigkeit, gemeinsam Bedeutung zu erzeugen, auf einer Geschichte, die oft viele Jahrhunderte alt ist. In diesem Sinne schulden wir den Traditionen – also den verschiedenen Formen, unser Miteinander zu koordinieren – die Fähigkeit, uns zu verlieben, gerechte Vorhaben zu unterstützen oder uns an der Entwicklung unserer Kinder zu erfreuen. Immer aber orientieren wir uns an der Vielfalt vergangener Beziehungen.
Wir sind jedoch nicht ausschließlich auf Vergangenes festgelegt. Neue Kombinationen von Handlung und Ergänzung sind immer am Entstehen. Denken Sie zum Beispiel an eine lebhafte Konversation. Für jeden Ausdruck sind dutzende Möglichkeiten sinnvoller Ergänzungen vorhanden, die Ergebnisse unserer Kommunikation sind immer einzigartige Kreationen. Beachten Sie in diesem Zusammenhang auch die Wirkung, die entsteht, wenn wir Kommunikation als Spiel auffassen: Wenn wir darin übereinstimmen, dass wir spielen oder herumalbern, dann sagen und tun wir unkonventionelle Dinge, kreieren neuartige Sequenzen, lachen viel … und zaubern möglicherweise neue Einsichten herbei.

Das relationale Selbst

Was bedeutet es, ein menschliches Wesen zu sein? Was ist unsere grundlegende Natur? Diese Frage stellen wir uns nicht oft, weil wir es mehr oder weniger für selbstverständlich halten, dass Menschen Kreaturen sind, die die Fähigkeit besitzen, rationale Entscheidungen zu treffen, zu fühlen und zu wünschen, sich an vergangene Zeiten zu erinnern und so weiter. Doch wie wir bereits erwähnten, haben solche Überzeugungen des gesunden Menschenverstands erst innerhalb der letzten paar Jahrhunderte eine wesentliche Bedeutung erhalten. Bedenken Sie, dass es vor René Descartes’ Diktum „Ich denke, also bin ich“ im 17. Jahrhundert nicht selbstverständlich war davon auszugehen, dass Menschen denken können. Und Denken wurde damals auch nicht als zentrales Merkmal des Menschseins angesehen. Das Konzept der „Gefühle“ entwickelte sich nicht vor dem 18. Jahrhundert. Gleichzeitig verschwanden andere menschliche Qualitäten. Zum Beispiel haben wir die Bedeutung der „Melancholie“ mehr oder weniger vergessen, einem emotionalen Zustand, der früher durch Missmut und Ausbrüche leidenschaftlichen Ingrimms charakterisiert wurde. Im 17. Jahrhundert war Melancholie so offensichtlich, dass Robert Burton ein 500 Seiten langes Buch über ihre Ursachen und Heilungsmöglichkeiten verfassen konnte. „Die Seele“ war über Jahrhunderte hinweg ein Faktum menschlichen Wesens, heute hingegen denken viele, sie sei ein Mythos. Der freie Wille wurde in den letzten Jahrhunderten als einzigartige menschliche Tugend angesehen, doch für die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eine deterministische Sichtweise des Universums vertreten, ist der freie Wille eine offensichtliche Fiktion.

Psychische Krankheit als Defizit-Diskurs

Werden Sie wegen Depressionen behandelt? Kennen Sie einen jungen Menschen, der die Diagnose AufmerksamkeitsDefizit-Syndrom bekommen hat? Die Antwort auf solche Fragen lautet immer öfter „Ja“. Doch bis zum 20. Jahrhundert gab es keine psychischen Krankheiten, die Depression oder Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom genannt worden wären. Interessant ist, dass wir im Jahr 1900 nur eine handvoll Begriffe hatten, die „psychische“ Krankheiten bezeichneten. Bis zum Jahr 2000 hatten die Professionellen des Gesundheitssektors über 400 Formen psychischer Krankheit „entdeckt“. So zählt psychische Krankheit mittlerweile zu den führenden Kategorien US-amerikanischer Gesundheitsausgaben. Psychopharmaka sind ein Multi-BillionenDollar-Geschäft. In dem Maße, in dem der Diskurs über persönliche Defizite wissenschaftliche Glaubwürdigkeit erhält und die Defizite zum Allgemeinwissen werden, fangen wir an, uns selbst auf diese Art und Weise zu konstruieren. Aus sozialkonstruktionistischer Perspektive befindet sich psychische Krankheit nicht einfach „dort draußen“, darauf wartend, entdeckt zu werden. Vielmehr konstruieren wir bestimmte Handlungen als „Krankheit“… oder nicht. Eine Person, die „traurig“ ist , „betrübt“ oder „eine Flaute durchmacht“, muss nicht als „krank“ diagnostiziert werden. Stattdessen denken wir, dass diese Person ein wenig Unterstützung von Freunden braucht oder von der Familie, ein wenig Erfolg und Anerkennung, eine neue Freundin oder Zeit, einen Verlust zu überwinden. Wenn wir diese Person mit dem Etikett „klinische Depression“ belegen, dann übergeben wir sie einer Behandlung, die möglicherweise zu lebenslanger Abhängigkeit von Antidepressiva führt. Wenn wir ein Kind als „vor Neugierde übersprudelnd“ bezeichnen oder sagen, dass es „sehr viel Stimulation braucht“, dann können wir mit ihm gemeinsam Dinge finden, an denen es interessiert ist. Wenn dasselbe Kind die Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom erhält, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es jahrelang Ritalin verschrieben bekommt. Als Sozialkonstruktionistinnen und Sozialkonstruktionisten sind wir sensibilisiert für diese problematischen Effekte von Defizitdiskursen und ermutigen zur Suche nach alternativen Konstruktionen, die uns aussichtsreicher erscheinen.
Lassen Sie uns unsere Aufmerksamkeit auf die als selbstverständlich angenommene Welt psychischer Vorgänge lenken, eine Welt, die viele Menschen heutzutage miteinander teilen. Sicherlich ist es enorm wertvoll für uns, von unseren Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Erinnerungen zu sprechen. Was würde zum Beispiel eine intime Beziehung ausmachen, wenn wir nicht glaubten, dass wir unsere innersten Gefühle mit anderen teilen? Die Tatsache, dass uns diese Art der Konstruktion der Seele wichtig ist, sollte kein Grund sein, die Reflexion darüber zu vernachlässigen. Mit Worten wie Gedanke, Emotion, Wunsch und Gedächtnis erzeugen wir eine Welt „innerhalb des Kopfes“ des Individuums. Wenn die „innere Welt“ das wesentlichste Merkmal ist, das menschliche Wesen auszeichnet, kreieren wir eine Welt des Getrenntseins, der Isolation und des Konflikts. Dies haben wir bereits im Abschnitt zum relationalen Selbst diskutiert. Wir sind dann nicht fähig zu erklären, wie Kommunikation überhaupt möglich ist. Tatsächlich haben wir mit unserer Konstruktion des Selbst dazu beigetragen, eine Ideologie des Individualismus herzustellen. Nicht alle ihre Implikationen für das Miteinander sind befriedigend.
Für Konstruktionistinnen und Konstruktionisten sind diese Probleme eine Herausforderung zur Rekonstruktion. Wir fragen, ob es möglich ist, die „geistige Welt“ anders als privat und „dort drinnen hinter den Augen“ zu rekonstruieren. Können wir von nun an Gedanken, Gefühle, Wünsche, Erinnerungen und Ähnliches als etwas betrachten, das in Beziehung geboren wird und das außerhalb von Beziehungen bedeutungslos ist? Gelängen uns diese Rekonstruktionen, dann würden wir uns selbst nicht länger als isoliert und unabhängig sehen, als fundamental selbstsüchtig oder durch Konkurrenten gefährdet. Wir würden uns als Resultat von Beziehungen sehen. „Selbst versus Andere“ würde sich in „Selbst durch Andere“ ändern. Lassen Sie uns im Folgenden die wichtigen Schritte in Richtung eines relationalen Selbst in Betracht ziehen.

Die Relationale Rekonstruktion von Psyche und Verstand

Das Unterfangen, ein relationales Selbst zu kreieren, ist nicht einfach, vor allem weil die Wörter, die uns zur Verfügung stehen, Produkte einer individualistischen Tradition sind. Wir haben Tausende von Begriffen, die die Beschaffenheit und den Gehalt der individuellen Psyche „wirklich machen“. Wir können endlos über unsere Gedanken, Gefühle, Wünsche, Hoffnungen, Träume, Ideale und so weiter sprechen. Im Gegensatz dazu haben wir nur sehr wenige Worte, um Beziehungen zu beschreiben. Es ist, als hätten wir eine enorm reiche Sprache, um die Figuren auf einem Schachbrett zu beschreiben, aber nur wenige Worte, um das Spiel darzustellen. Wie können wir damit fortfahren, ein relationales Selbst zu entwerfen, ohne eine individuelle Psyche oder einen individuellen Verstand vorauszusetzen? Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen zurzeit, diese Frage zu beantworten.
Betrachten Sie bitte folgende vier Vorschläge, die dazu dienen sollen, die Türe zu diesem Unterfangen zu öffnen:

1) Der Diskurs über Verstand und Psyche wird im Dialog geboren.

Viele Menschen glauben, die Worte, mit denen wir geistige Zustände beschreiben, seien aufgrund der faktischen Existenz der Zustände selbst erforderlich. Das heißt: Weil Denken tatsächlich im Kopf existiert, haben wir das Wort „Gedanke“ entwickelt. Demgegenüber könnten Konstruktionistinnen und Konstruktionisten einwenden: Das Wort „Denken“ existiert nicht, nur weil wir irgendwie in unsere Gedanken gespäht und einen Prozess identifiziert haben, den wir nun „Denken“ nennen. Denn worauf schauen wir, wenn wir keine Gedanken in unserem Gehirn sehen können? Selbst wenn wir es könnten – wie sollen wir einen „Einfall“ im Gegensatz zu einer „Einstellung“ oder einer „Hoffnung“ identifizieren?
Vielmehr werden unsere Sprachen innerhalb unserer Dialoge mit anderen geboren. Descartes’ Ausdruck über sein „Denken“ ist nur innerhalb einer bestimmten Geschichte des Dialogs vernünftig. Was wäre, wenn andere Philosophen ihm während ihrer gemeinsamen Gespräche gesagt hätten: „Was meinst du eigentlich mit dem Wort Denken?“ Ohne zwischenmenschliche Koordination bleiben unsere Äußerungen leer. Gerade weil unsere Worte im Dialog kreiert werden, ist es leicht zu verstehen, warum Begriffe in der Geschichte auftauchen und wieder verschwinden und auch, warum es für uns nicht schwer war und ist, Hunderte von Begriffen für psychische Krankheit zu erfinden. Dies erklärt auch, warum die vielen Kulturen auf der Welt unterschiedliche Auffassungen über das, „was Menschen krank macht“, vertreten.

2) Der Diskurs über Verstand und Psyche erlangt seinen Wert durch seinen Gebrauch.

Zu sagen, dass der Diskurs über Verstand und Psyche im Dialog geboren wird, heißt auch zu sagen, dass die Bedeutung dessen, was wir Verstand und Psyche nennen, vom sozialen Gebrauch abhängig ist. Wir müssen dann nicht fragen, ob die Worte, die wir verwenden, unsere inneren Zustände richtig und genau porträtieren. Wenn Sie sagen: „Ich wünsche mir sehr, dass du hier bei mir bist“, dann stellt sich nicht die Frage, ob das Wort „wünschen“ mit einem Zustand in Ihrem Gehirn übereinstimmt. Vielmehr geht es darum, wie diese Worte innerhalb einer Beziehung funktionieren. Welche sozialen Konsequenzen hat es, wenn Sie diese Worte aussprechen?
Betrachten wir einmal alle Begriffe, die uns zur Verfügung stehen, um Zustände von Verzauberung und Anziehung auszudrücken. Sie können sagen: „Ich bewundere dich“, „Ich bin fasziniert von dir“, „Ich liebe dich“, „Ich bete dich an“, „Ich bin verrückt nach dir“, „Ich liebe dich bis zur Verzweiflung“ und so weiter. Die Möglichkeiten sind nahezu unzählbar. Was wäre, wenn wir eine dieser Phrasen in Opposition zu einer anderen verwendeten? Wie wäre die Wirkung? Abhängig davon, wann und wem wir diese Worte sagen, werden andere uns näher kommen oder distanziert bleiben oder wir handeln uns sogar eine einstweilige Verfügung ein! Es gibt unzählige Wege, über Verzauberung zu sprechen. Doch diese vielen Wege existieren nicht, weil es sich dabei um unzählig viele geistige Zustände handelt, sondern aufgrund der Anforderungen eines komplexen Beziehungslebens.

3) Sprache ist nur eine Komponente unserer Auftritte.

Bisher haben wir eine starke Betonung auf die Wörter selbst gelegt – auf Wörter wie Gedanke, Emotion und so weiter. Doch Wörter sind von Gesichtsausdrücken, Körperhaltungen, körperlichen Bewegungen und anderen Aktivitäten begleitet. Diese körperlichen Ausdrücke sind ganz entscheidend für die Art und Weise, in der die Worte wirken. Sie mögen zum Beispiel jemandem sagen: „Es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe“. Wird diese Äußerung durch ein Lachen oder durch Spott begleitet, werden Sie Probleme bekommen. Um die Beziehung zu stärken, ist in dieser Situation ein seriöser Gesichtsausdruck erforderlich. Ähnlich tun es auch Schauspieler, wenn sie vor der Aufgabe stehen, bezwingende Gefühlsauftritte von Liebe, Zorn oder Mitgefühl spielen zu müssen. Ihre Worte sind dann lediglich eine Komponente des gesamten Auftritts. Sie fragen nicht nach ihren wahren Gefühlen, sondern sie sind damit beschäftigt, diese Emotionen zu erzeugen.
Damit möchten wir nicht sagen, unsere „Auftritte“ seien oberflächlich oder berechnend. Wenn wir uns zum Beispiel in einem „Strudel des Zorns“ befinden, dann sind wir stärker involviert als der Schauspieler und die Schauspielerin auf der Bühne. Im Gegensatz dazu müssen Bühnenkünstler ihren Auftritt auf gewisser Distanz halten. Sie müssen den Part „spielen“ und nicht „der Part sein“. So wie ein Basketballspieler mit Intensität durch das Gedränge von Körpern springt, um einen Korb zu erzielen, sind auch wir dazu in der Lage unsere Gefühle mit unerschütterlicher Tiefe „zu spielen“. Und nicht anders als die Theaterdarsteller kalkulieren auch wir notwendigerweise die Effekte unserer Auftritte. Im Regelfall führen wir nicht zwei Darbietungen gleichzeitig aus. Zum Beispiel ist eine Äußerung wie „Ich schätze deine Hilfe wirklich“ meistens nicht von dem Gedanken begleitet: „Wenn ich dies äußere, wird er mir weiterhin helfen!“. Sicherlich kommen solche Szenen vor, aber die meiste Zeit über sind wir einfach „in der Situation“ und stellen authentisch dar.

4) Unsere Auftritte sind Komponenten von Beziehungssequenzen.

Die Bedeutung eines Wortes hängt entscheidend von dem Satz ab, in den das Wort eingebettet ist. Die Bedeutung des Begriffs „Ball“ variiert, je nachdem, ob wir „Wirf den Ball“ sagen oder „Wir waren auf einem Ball“. Auf die gleiche Weise sind auch Aufführungen des Denkens oder Fühlens nur an spezifischen Punkten einer relationalen Sequenz verständlich. Wenn Sie zu einem Fremden gehen und „Ich bin verflucht ärgerlich!“ schreien, werden Sie damit keinen Sinn erzeugen. Wenn jedoch der Fremde versucht hätte, wegzulaufen, nachdem er die Türe Ihres Autos eingebeult hatte, dann wäre der gleiche Auftritt völlig sinnvoll. In diesem Falle würden wir eher das Verhalten derjenigen Person missbilligen, die ihren Ärger zurückhielte. Formulierungen sind nur zu bestimmten Zeiten und Orten relational angemessen, ansonsten erscheinen sie schlicht bizarr oder seltsam.
Es mag hier zweckmäßig sein, an Tanz zu denken – an Swing, Tango oder Salsa. Die Bewegungen der Tanzenden ergeben nur innerhalb der Grenzen des Tanzes Sinn. Keiner der beiden kann sie alleine vollziehen. Die Bewegungen beider Partner sind erforderlich, um den Tanz zustande zu bringen. Für einen erfolgreichen Tanz ist es außerdem notwendig, dass beide Partner jede ihrer Bewegungen miteinander koordinieren. Es gibt keine puren Solo-Bewegungen. Ferner sind bei diesen Tänzen bestimmte Bewegungen zu ganz bestimmten Zeiten erforderlich – ein Partner signalisiert dem anderen beispielsweise, sich für eine Swing-Drehung vorzubereiten.
Auf die gleiche Art und Weise ist auch unser Denken und Handeln nur innerhalb bestimmter Beziehungen sinnvoll: Bestimmte Darbietungen werden zu ganz bestimmten Zeiten innerhalb von Beziehungen erwartet und nicht zu anderen. Um Sinn zu ergeben, erfordern sie zudem die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Wenn ein Freund Ihnen ein Kompliment macht, kann man folglich sagen, dass diese Handlung für Sie die Bühne bestimmt, auf der Sie Freude (oder Verlegenheit) ausdrücken können. Und wenn Sie so etwas sagen wie „Oh, das macht mich sehr glücklich“, dann bestimmen Sie den Schauplatz für eine bestätigende Entgegnung wie zum Beispiel „Du verdienst es wirklich“. Jede Handlung läutet die nächste ein. Jede Handlung braucht den Anderen für ihre Legitimierung. Etwas weiter gefasst kann man sagen: Unsere Äußerungen und Auftritte sind nicht unsere privaten Besitztümer, sondern Komponenten von Beziehungen.

Schmerz als relationales Ereignis

Viele Menschen denken üblicherweise, Schmerz sei Schmerz, ohne Bezug auf die Art und Weise, wie wir darüber sprechen. Dass Schmerz jedoch gar kein so persönliches Ereignis ist, mag eine der aufregendsten Implikationen eines Denkens in Beziehungen sein. Die Art und Weise,wie wir Schmerz erleben, ist von der Beziehungsgeschichte und dem Beziehungskontext abhängig. Stellen Sie sich einen Fußballspieler vor, der verletzt und blutig aus dem Spiel herauskommt und proklamiert: „Ich hatte eine großartige Zeit!“. Ein anderes Beispiel wäre der sexuelle Masochist, der die Domina bezahlt, damit sie ihn mit einer Peitsche schlägt; oder die christlichen Büßer im Mittelalter, die sich selbst schlugen, um sich dem Schmerz Christi am Kreuz anzunähern. Keine Frage, es gibt spezielle physische Empfindungen, doch ob wir sie als „entsetzlichen Schmerz“ spüren oder „als Erfahrung, die wir willkommen heißen“, ist abhängig von der Beziehungskultur.
Enorme Geldsummen werden jährlich zum Umgang mit Schmerz ausgegeben. Bei den meisten dieser Anstrengungen wird Folgendes vorausgesetzt: Schmerz ist Schmerz und Linderung muss in erster Linie durch Veränderung der Gehirnchemie erreicht werden. Aus konstruktionistischer Perspektive ist jedoch folgende Frage wichtig: Können wir Schmerz rekonstruieren und Schmerzerfahrung in neue, hoffnungsvollere Beziehungsformen einbetten? In seinem wegweisenden Buch The Wounded Storyteller (Der verwundete Geschichtenerzähler) macht Arthur Frank den Vorschlag, unsere Schmerzerfahrungen als wesentlich abhängig von den Geschichten zu sehen, durch die die wir sie erfassen. Eine Art, über Schmerz zu sprechen, könnte zum Beispiel so lauten: „Früher hatte ich keine Schmerzen; jetzt habe ich schreckliche Schmerzen, aber bald werden sie vergehen.“ Diesen Erzähltypus nennt Frank „restitution narrative“. Der Schmerz gibt hier letzten Endes einen Weg zu einem Zustand des Wohlbefindens frei. Schmerz wird in diesem Ezähltypus als unerwünschter Reiz kon struiert, jemand fühlt sich so lange miserabel, bis der normale Zustand wieder hergestellt ist. Auch die Geschichte der Menstruationskrämpfe kann dieser Kategorie zugerechnet werden. Vielversprechender ist vielleicht ein anderer Erzähltypus, den Frank „quest narrative“ nennt. Hier sieht man sich auf einer Mission zur Erlangung eines größeren Verständnisses oder vielleicht zur Erlangung spiritueller Erleuchtung. Leiden schafft die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen und anderen aus einer Haltung der Weisheit heraus Auskunft zu geben. Schmerz erlangt nun eine positive Bedeutung. Die Geburtswehen sind vielleicht ein gutes Beispiel dafür. Schmerz, Weisheit und Freude sind hier untrennbar miteinander vereint.
Wenn wir dieses Denken in Beziehungen annehmen, können wir alles, was wir als persönliches, privates und in unserem Kopf befindliches Ereignis bezeichnet haben – Gedanken, Emotionen, Pläne, Sehnsüchte u. a. – als grundlegend relational rekonstruieren. Traurigkeit zu fühlen oder Freude, Ekstase oder Agonie, Liebe oder Hass, Sehnsucht oder Abscheu heißt dann, an einer Beziehungstradition teilzuhaben. Wir besitzen die Zustände nicht in uns selbst, sie sind nicht in unseren Gehirnstrukturen eingesperrt. Stattdessen vollbringen wir sie aktiv. Sie bewegen uns nicht zum Handeln und unsere Handlungen kurbeln ihre Existenz auch nicht an. Die Zustände und die Handlungen sind ein und dasselbe.
Ihre skeptische Stimme mag entgegnen: „Aber ich habe private, persönliche Erfahrungen! Wenn ich völlig alleine bin, denke ich und habe Gefühle!“ Lassen Sie uns darüber nachdenken: In Begriffen von Körpern gesprochen sind wir von anderen getrennt. Aber die Handlungen, mit denen wir konfrontiert sind, sind eng mit unserer Beschäftigung in Beziehungen verbunden. Unsere Handlungen des „sich traurig Fühlens“ oder des „Nachdenkens über ein Problem“ sind im Wesentlichen von den üblichen Beziehungsmodalitäten abgeschnittene Teil-Auftritte. „Für sich selbst nachzudenken“ ist in diesem Sinne wie die Durchführung einer öffentlichen Konversation, was dabei fehlt, ist lediglich die vollständige Vorführung des Sprechens mit anderen Personen. Sich in der Privatheit des eigenen Raumes traurig zu fühlen, unterscheidet sich nicht essenziell von dem Ausdruck von Traurigkeit in der Öffentlichkeit. Allerdings tun wir es alleine möglicherweise nicht „voll und ganz“ mit allen dazugehörigen Gesichtsausdrücken und körperlichen Haltungen. Alleine irgendwo zu sitzen und sich traurig zu fühlen heißt, an einem kulturellen Tanz teilzuhaben, jedoch ohne dass Andere an wesend wären. Ohne eine Geschichte von Beziehungen ist wenig vorhanden, was „private Welt“ genannt werden könnte.

Zusammenfassung

Dieses Kapitel erweitert unsere Sicht auf Beziehungsprozesse und unser Verständnis dafür. Alles, was wir als real, rational, wahr und wertvoll erachten, geht aus Beziehungen hervor. Die Implikationen der Schwerpunktverlagerung auf Beziehungen sind substanziell. Es ist nicht nur so, dass wir die tief verwurzelte Tradition des Individualismus aus dem Gleichgewicht bringen, wir sind auch eingeladen, viele unserer Einstellungen und Haltungen zu überdenken, von unseren intimen Beziehungsritualen bis hin zu unseren Erziehungspraktiken und den Vorgehensweisen im politischen und juristischen Bereich. Die relationale Perspektive entfacht eine starke Wertschätzung unseres Lebens mit anderen – statt getrennt von ihnen oder gegen sie. Wir fangen an, uns auf den Prozess koordinierten Handelns zu konzentrieren und auf die fruchtbare Kraft von Beziehungen. Durch Auftritte – sowohl anderen als auch uns selbst gegenüber – kreieren wir unsere rationalen und emotionalen Wirklichkeiten. Was vorher „mentaler Prozess“ genannt wurde, wird als „relationaler Prozess“ neu geschaffen. Es ist das „relationale Selbst“, das durch Beziehungen mit anderen entsteht. In den nächsten beiden Kapiteln erkunden wir Handlungsweisen in Organisationen, Schulen, Therapie und Forschung, in denen relationale Konzeptionen in die Praxis umgesetzt werden.


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mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages



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