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28.11.2010
Michael B. Buchholz, Franziska Lamott & Kathrin Mörtl: Tat-Sachen: Narrative von Sexualstraftätern
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Psychosozial-Verlag, Gießen 2008
525 S., broschiert
Preis: 49,90 €
ISBN-10: 3898068811
ISBN-13: 978-3898068819 |
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Psychosozial-Verlag
Markus G. Feil, München:
Die Behandlung von Straftätern firmiert heutzutage vornehmlich unter dem Titel ›Kriminaltherapie‹. Wie Straftäter behandelt werden sollen, ist in modularen Manualen festgelegt, deren Effizienz in gewissen Abständen untersucht wird. Evaluiert wird der quantitative Outcome meist im Sinne von Rückfallraten oder des Rückganges testpsychologisch erfasster psychischer Merkmale (z.B. ›kognitiver Verzerrungen‹).
Buchholz, Lamott und Mörtl stellen im hier zu besprechenden Buch Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern in dem überhaupt noch jungen Feld der Beforschung der Psychotherapie mit Straftätern einen neuartigen, qualitativ-hermeneutischen Ansatz vor, den sie KANAMA genannt haben – die Kombination von Konversationsanalyse, Narrationsanalyse und Metaphernanalyse mit der psychoanalytischen Methode. Mit dieser Kombination eröffnet das Autorenteam nicht nur ein neues methodisches Feld. Manuale sind, wie Prof. Pfäfflin von der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm in seinem Geleitwort schreibt, »nur grobe Raster. Was in den Therapien wirklich geschieht […], findet man dort nicht beschrieben« (S. 10). Mit ihrer Methodik erfüllen Buchholz, Lamott und Mörtl zudem eine Forderung der neueren Psychotherapieforschung, indem sie Ergebnis- und Prozessforschung kombinieren, denn sonst können z.B. Behandlungstechniken nicht evaluiert werden.
Untersuchungsgegenstand sind für die Autorinnen und den Autor 21 videografierte, transkribierte und mit einem bestimmten computergestützten Vorgehen ausgewertete Sitzungen einer Gruppentherapie, die in einer Sozialtherapeutischen Abteilung eines deutschen Gefängnisses stattfand. Auf den Mund geschaut hat das Autorenteam den 16 teilnehmenden Sexualstraftätern und den zwei Gruppentherapeuten. Denn auch was letztere in Therapien sprechen, lässt sich nicht standardisieren. Statt zu objektivieren, subjektiviert das Autorenteam die »Tat-Sachen« mit den Untersuchten. Die Erkenntnis leitenden Anliegen ans Material sind dabei ebenso simpel wie rational und komplex. Zum Beispiel: (Wie) Stellen sich die untersuchten Straftäter ihren Straftaten in der Gruppe? Kann man aus der Art der verbalen Auseinandersetzung beim Einzelnen den Stand der Tat-Bearbeitung bestimmen? Kann man daraus Aussagen zur Legalprognose bzw. zum Risiko eines Rückfalls ableiten (und nicht nur, wie das bislang geschieht, durch statistische Produktion von Prädiktoren für (Nicht-) Rückfälligkeit aus Untersuchungskollektiven, die dann in Prognoselisten zusammengestellt und fälschlicherweise auf den Einzelfall angewendet werden)?
Was die penibel genaue Betrachtung der verbalen Äußerungen und Interaktionen der Untersuchten in der ungeschminkten Form von Transskripten – mehr als etwa von Gedächtnisprotokollen – zutage fördert, ist frappierend. Kombiniert man zum Beispiel die Konversationsanalyse mit der Psychoanalyse, stößt man darauf, dass die Teilnehmer der Gruppe die Intentionen der anderen Gruppenteilnehmer – auch die der Abwehr – durchaus zu erschließen in der Lage sind. In einer konversationsanalytischen Erweiterung eines bekannten Freudschen Diktums lässt sich so sagen: »Wo unbewußte Interaktion war, kann Gesprächsinhalt werden« (S. 77). Zusammenhänge zwischen Interaktion und Kognition lassen sich empirisch aufzeigen. Für die klinische Ebene bedeutet ein solcher Befund beispielsweise, dass (Sexual-) Straftäter entgegen gängiger Annahmen der psychoanalytischen Mentalisierungstheorie sehr wohl über die Fähigkeit zur Mentalisierung verfügen. Daher ist das Autorenteam mit der Annahme vorsichtig, dass Sexualstraftäter generell früh gestört seien. Eine weitere, empirisch gut begründete, nicht nur für Psychoanalytiker, sondern auch Kriminaltherapeuten überraschende Schlussfolgerung der Untersuchungen ist die, dass »[…] nicht die Fähigkeit zur Empathie [gestört ist], sondern das Wertsystem, das den anderen den eigenen Zielen nachdrücklich unterordnet« (S. 247).
Auch sonst ermöglicht die KANAMA in Verbindung mit der psychoanalytischen Methode eine Menge interessanter empirischer Befunde, die hier nur ausschnittsweise und stichwortartig genannt werden können: wenn über die Einbettung des Gesagten in die Rahmungen Institution, Behandlung, Bestrafung die »deviante Form des Konformismus« (Devereux) nachweisbar wird; wenn zwischen Motivdarstellung und Motiv unterschieden wird und wie das Problem der Darstellung einer Sexualstraftat vom Einzelnen zwischen offenbarender Auseinandersetzung, (erneuter) Erregung und nicht zu drastischer Selbstbelastung gelöst wird; wie Angst in einer Gruppe bewältigt wird; wie Sexualstraftäter die von den Autoren sogenannte Dritte Option verwenden, um Klarheit, ein eindeutiges ›Ja‹ oder ›Nein‹, kunstvoll zu vermeiden – womit individuelle und Abwehrformen in Gruppen ›in vivo‹ aufgezeigt werden können; wie sich die Metaphorik wandelt, wenn die Abwehr therapeutisch durchgearbeitet wird, wie Teilnehmer und Behandler dialogisch Metaphern entwickeln, womit die Ebene der Gegenübertragung empirisch erschließbar wird; wie vor- und unbewusste Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen, die für das klinische Verständnis und die Behandlung von Sexualstraftätern essenziell sind, sicht- und studierbar und damit neues Nachdenken über metatheoretische Konzepte möglich werden.
Es gibt aber auch Kritisches anzumerken. Die bewusst geäußerte und konsequent umgesetzte Absicht des Autorenteams, eher das ›Wie‹ als das ›Was‹ des Gesagten zu betrachten, verwischt die eigene inhaltliche Positionierung. Zwar kann man aus verschiedenen Äußerungen schließen, dass sich das Autorenteam innerhalb des alles andere als homogenen Gebildes der Psychoanalyse eher im relationalen/intersubjektiven Ansatz verortet, auch weil zentrale Konzepte anderer Ansätze (wohl fundiert) kritisiert werden (etwa das Konzept der projektiven Identifizierung). Aber welche inhaltliche Position das Autorenteam wirklich einnimmt, bleibt selbst beim als zentral herausgearbeiteten und zweifelsohne (auch prognostisch) eminent wichtigen Thema, nämlich dem Umgang der Sexualstraftäter mit ihrer Schuld, am Ende unklar. Der Text verharrt in seiner psychoanalytisch-inhaltlichen Bezugnahme an diesem Punkt in der Dritten Option. Hier wird vielleicht einmal mehr die generelle Schwierigkeit der psychoanalytischen Theorie mit dem Thema ›Handeln‹ bzw. ›in die Tat Umsetzen‹ und Schuld (nicht nur Schuldgefühlen) sichtbar. Auch von der Form des Textes her bleiben die Autoren unidentifizierbar. Durch das so oft benutzte ›Wir‹ wird die Zuordnung unmöglich, wer was geschrieben hat, wessen Standpunkt gerade wiedergegeben wird. Schließlich fehlt die inhaltliche Bezugnahme zum juristischen Rahmen, die bereits an anderer Stelle (Fabricius 2009) kritisiert wurde und die die psychoanalytische Auseinandersetzung sehr befördern könnte.
Diese kritischen Anmerkungen des Rezensenten schmälern die Leistung von Buchholz, Lamott und Mörtl nicht. Sie haben mit ihrem Text neue Tatsachen in der Forensischen Psychotherapie geschaffen – nicht nur in deren Beforschung. Ihre in bewundernswertem, immensem und akribischem Aufwand gewonnenen, beeindruckenden Befunde und die daraus so plausibel abgeleiteten Schlussfolgerungen regen erfrischend zu weiterer Forschung und Auseinandersetzung an, die der Bereich der Forensischen Psychotherapie so dringend braucht. Sie haben dabei die Psychoanalyse und die anderen angewandten Methoden weiterentwickelt. Die untersuchten Sexualstraftäter haben die Autorinnen und der Autor mit großem Respekt behandelt. Wenn deren Darstellungen im Buch demaskiert werden, geschieht das im Bewusstsein der nicht nur psychischen Überlebensnotwendigkeit solcher Kompromissbildungen. Gleichzeitig werden aus den Tätern keine Opfer ihrer Abwehr, sondern ihre im weitesten Sinne dissozialen Absichten werden genauso demaskiert. Diese Spannungen zu halten, ist die Aufgabe guter Forensischer Psychotherapie.
Literatur
Fabricius, D. (2009). Ein Schuss Jus in die (Analyse der) Sozialtherapie. Zugleich eine Besprechung von: Michael B. Buchholz, Franziska Lamott, Kathrin Mörtl: Tat-Sachen. Recht & Psychiatrie 27, 191–199.
(Mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlags aus: Psychotherapie & Sozialwissenschaft, 12. Jahrgang, Heft 2/2010: Bad or mad? Psychotherapie und Forensik © 2010)
Zu einem Auszug aus dem einleitenden Kapitel "Text und Kontext", S. 39-64
Verlagsinformation:
Sexualstraftaten erwecken im Beobachter Angst und Unverständnis zugleich. Genauso erschreckend ist der Mangel an hochwertigen Auseinandersetzungen mit dem Thema. Noch nie sind therapeutische Prozesse mit Sexualstraftätern so genau analysiert worden wie in diesem Buch. Die Autoren gehen das Thema mit modernsten sozialwissenschaftlichen und psychologischen Methoden an. Die videografierten Gruppentherapiesitzungen wurden transkribiert und nach einer neuartigen Kombination von Konversations- und Metaphernanalyse vor dem Hintergrund eines psychoanalytischen Grundverständnisses ausgewertet. Daraus entstanden überraschende Einsichten in bewegende Geschichten, interessante Gesprächsformate und Redezüge sowie Sprachbilder zur Abwehr und Selbstreflexion. Die Leser erhalten Einblicke in Biografiemuster, Täuschungsstrategien und Aufdeckungshilfen, Zweifel und Rechtfertigungen, die Mühen der Einsicht und die mühsame Arbeit am Sinn.
Inhalt:
Text und Kontext Annäherungen Sexualitäten Unser Forschungsfeld Motivdarstellungen im institutionellen Kontext Passagen: Vom Strafgefangenen zum Patienten Ziele dieser Studie
Kanama: Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse Qualitative Forschung und Psychoanalyse - Das »something more« der Relationalität Konversation Gespräche als »talk at work«: Der interaktive Vollzug und die interne Kommentierung Auch die Intentionen der Abwehr mitlesen Positionswechsel und Mentalisierung Erzählung und Erzählen Ein neuer interaktiver Symbolbegriff Der Augenblick und die Kinetik der Interaktion Narration Entwicklung: vom Bild über die Anschaulichkeit zum Begriff - vertikale und horizontale Dimensionen Erschließungshilfen Mind Reading Desorganisierte Geschichten Narrative »Räume« Metaphern Metaphern und »Mindreading« Idealisierte kognitive Modelle (IKM) und soziale Konfigurationen Der Konflikt zwischen idealisierten kognitiven Modellen - ein alltägliches Fallbeispiel Computerunterstützung Zusammenfassung
Der therapeutische Kontext in der Darstellung Einstieg Der aktualisierte Selbstkommentar - Sieg und Niederlage eines »Anfangens« Wies so geht ... kunstvolle Parodien Initiation als psychosoziale Abwehr Die Schaffung der »dritten Option« Die Metapher und die Gegenübertragung Gegengifte gegen die dritte Option Konfrontation in der Konversation steigert manchmal die Metaphernproduktion Methodische Zwischenüberlegung
Abwehrformen in der Gruppe Die »Zählt-als«-Umwandlung Konversationsformate: »Membership categorization« Doppelte Selbstkategorisierungen Das ironische Spiel mit der Kategorisierung Soziale Scanning-Fähigkeiten Der Täter als Gutachter Die originelle und passende Metapher für das Tatmotiv Bagatellisierungen und die dreifache szenische Struktur Passivierungen Gescheiterte Passivierungen Entsubjektivierung Szenische Umkehrungen Der Täter als Zeuge Der Täter als Opfer Das Opfer als Verfolger Zwischenbemerkung: Das »Unbewusste« und der strukturelle Grundkonflikt Das Opfer als Komplize Der suggestive »slot« als konversationelle Technik Verschmelzungen mit dem Opfer und deren Darstellung Zusammenfassung: Eine Liebe, die schadet
Mikrostrukturen der Konversation Glaubhaftigkeitskonstruktionen Diabolische Nachfragen Konversationelle Anpassungen – Therapeutenjargon Therapeutische Vorgaben - »Jargon« Fügsamkeiten - über den »Jargon« hinaus Die konversationell tabuisierte Zone Derivative Kommentare Identifikationen Initialzündung - Der Blick
Die Rolle der Metapher in der Konversation Passende und nicht-passende Metaphern Metaphorische Biografiekonstruktion Die Übertragung biografischer Erzählformate Die Krankengeschichte Der Entwicklungsroman Die Vita Sexualis Das Familiendrama Zusammenfassung
Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen Idealisierte Gender-Konfigurationen (IGK) Väterlich-männliche Dominanz und schwache weibliche Repräsentanz Der verständnisvolle Mann, Retter der Frauen Der selbstbezogene, sexuell-aggressive Mann Mütterlich-weibliche Dominanz und schwache männliche Repräsentanz Der impotente Mann Der verführte, unschuldige Mann Der ausgelieferte, beschämte Mann Zusammenfassung
Rückblick auf eine lange Strecke
Literatur
Anhang: Kurzbiografien der Gruppenteilnehmer
Über die AutorInnen:
Michael B. Buchholz ist Professor am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Göttingen, Lehranalytiker am Institut für Psychoanalyse, Autor zahlreicher Fachbücher zur Psychoanalyse und Psychotherapieforschung, Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften, Arbeitsschwerpunkte Qualitative Forschung in der Psychotherapie. Franziska Lamott studierte Soziologie und Psychologie. Einer mehrjährigen Tätigkeit am Institut für Strafrecht & Kriminologie der Universität München folgte die Weiterbildung zur Gruppenanalytikerin. Frau Lamott hat die Venia legendi für Sozialpsychologie und war Gastprofessorin für Genderstudies an der Universität Basel. Seit 1999 ist sie an der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm tätig. Forschungsprojekte und Publikationen in den Bereichen Kriminologie, Psychotherapie- und Genderforschung, Gruppen- und Kulturanalyse. Kathrin Mörtl studierte Psychologie an der Universität Klagenfurt und ist seit 2005 Forschungsmitarbeiterin an der Universitätsklinik Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Ulm. Forschungsschwerpunkte: Qualitative Methoden, Therapieerleben aus Patientensicht, Biografie- und Taterzählungen von Straftätern; Interesse für empirische Psychoanalyse und Sozialforschung.
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