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15.03.2010
Andrea Brandl-Nebehay & Joachim Hinsch (Hrsg.): Paartherapie und Identität. Denkansätze für die Praxis
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Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2010
232 S., broschiert
Preis: 24,95 €
ISBN-10: 3896706837
ISBN-13: 978-3896706836 |
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Carl-Auer-Verlag
Tom Levold, Köln:
Wenn man in das Buch hineinschaut, wird man feststellen, dass dieser Text keine Rezension ist, sondern das Vorwort zum Buch darstellt. Als Rezension hätte ich es aber nicht so viel anders geschrieben, vor allem bliebe ich auch auf jeden Fall bei meiner Empfehlung. Insofern kann man es durchaus als al als Rezension lesen:
Das Lieben
Das Lieben ist schön.
Schöner als das Singen.
Das Lieben hat zwei Personen.
Das ist beim Lieben der Kummer.
(Alexander März/Heinar Kipphardt)
Ungeachtet aller postmodernen Individualisierungs-Diskurse und ihrer massenmedialen Inszenierungen wird das Kraftfeld unserer Sehnsüchte, Hoffnungen und Erwartungen nach wie vor von Liebesvorstellungen bestimmt. Dass es dann schwierig wird, wenn sich diese Vorstellungen im konkreten Miteinander von zwei Personen bewähren müssen, hat der Psychiater und Dramatiker Heinar Kipphardt in seinem „Leben des schizophrenen Dichters Alexander März“ mit wenigen wunderbaren Worten auf den Begriff gebracht.
Der „Kummer beim Lieben“ ist dabei aber keineswegs eine zeitlose Größe (wie die jahrhundertealte Liebessemantik glauben machen könnte), sondern wandelt im Zuge der Geschichte immer wieder seine Gestalt. Das gilt in besonderem Maße angesichts der dramatischen Änderungen, denen unsere Lebenswelt in der Gegenwart ausgesetzt ist. Die normativen Gerüste der Religion und der bürgerlichen Ehe und Familie, die über Jahrzehnte relativ stabile Vorstellungen davon zur Verfügung stellten, wie Paarbeziehungen gelingen müssten - oder zumindest: zu funktionieren hätten, sind heute weitgehend zerbröselt. Das Leben in einer dauerhaften Beziehung ist daher nicht mehr wie früher ein (wie auch immer problematischer) Identitätsspender, sondern kann und muss im Hinblick auf die individuelle Glücksbilanz der Partner immer wieder neu daraufhin befragt werden, ob es sich lohnt, fortgesetzt zu werden. Wenn aber eine Trennung keine grundsätzliche Katastrophe mehr darstellt, die (wie früher) mit dem Verlust eines stabilen sozialen Universums verbunden ist, sondern als mögliches Exit-Szenario immer schon mitläuft, heißt das auch, dass man sich immer wieder neu für oder gegen die Paarbeziehung entscheiden muss. Individuelle Identitäten wie auch Paarbeziehungen lassen sich nicht mehr als fixierte soziale Positionen verstehen, die man nach dem mehr oder weniger turbulenten Durchlauf durch die Stürme der Adoleszenz erreicht („Hafen der Ehe“), sondern erweisen sich als prekäre Projekte im Spannungsfeld von Gelingen und Scheitern, deren Stabilität immer nur eine Vorläufige sein kann.
Von dieser prekären Suche nach Identität und Glück in der Paarbeziehung und ihrer Thematisierung in der Paartherapie handelt dieses Buch. Denn Paartherapie spielt als „Konsultationsformat“ der Gegenwart für Liebesbelange eine immer größere Rolle. Als postmodernes Unternehmen kann Paartherapie ihren KlientInnen aber weniger denn je gültige Rezepte zur Bewältigung von Identitäts- und Sinnkrisen liefern, schließlich sind die PaartherapeutInnen persönlich grundsätzlich mit den gleichen Fragen und Ungewissheiten beschäftigt wie ihre KlientInnen. Auch davon wird in diesem Band die Rede sein.
Zwischen der Vielfalt soziologischer Arbeiten über die veränderte Lebenswirklichkeit von Paaren und der eher methodisch orientierten, gelegentlich auch „toolfixierten“ paartherapeutischen Literatur der Gegenwart klafft eine Lücke, zu deren Schließung das vorliegende Buch einen wertvollen Beitrag leistet. Die Perspektive auf die Identitätssuche in der Paartherapie wird dabei u.a. entlang zentraler Themen entwickelt, die auch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse bestimmen: die Herstellung von Identität durch die narrative (Re-)Konstruktion der eigenen Geschichte, die Konstruktion von Geschlechtsidentität im paartherapeutischen Interview, der Umgang mit Fremdheit und kultureller Differenz in der Arbeit mit bikulturellen Paaren und die Bearbeitung von Paarkrisen im Zusammenhang mit Außenbeziehungen sowie mit Machtkonflikten und Gewalttätigkeiten.
Dabei ist dem Autorenteam die Verbindung von theoretischer Reflexion, Forschungsneugier und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten auf bewundernswerte Weise gelungen. Der sozialwissenschaftlich geschulte Blick auf paartherapeutische Prozesse steht im angenehmen Kontrast zum sich leider auch in der Systemischen Therapie ausbreitenden medizinischen „Behandlungsparadigma“, das sich an individuellen „Störungen“ orientiert. Im Einzelfall scheint hier jederzeit auch das Allgemeine des postmodernen Beziehungsszenarios hervor, der „Kummer beim Lieben“ ist nicht nur als individueller, sondern bleibt gleichzeitig auch als sozialer Sachverhalt erkennbar.
Dass sich die AutorInnen schon lange in einem Prozess produktiver Zusammenarbeit befinden, ist in allen Beiträgen zu erkennen. Die meisten von ihnen arbeiten am Wiener Institut für Ehe- und Familientherapie in der Praterstraße, das seit über 30 Jahren besteht und aus dessen Mitte immer wieder wichtige Impulse für die Entwicklung der Systemischen Therapie im deutschen Sprachraum gekommen sind. Darüber hinaus sind viele als LehrtherapeutInnen bei der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Systemische Studien ÖAS tätig. Ich kenne nicht so viele Gruppen von systemisch denkenden KollegInnen, die neben einer intensiven therapeutischen Praxis und weitreichender Lehrtätigkeit soviel Zeit aufbringen, um das eigene Handeln zu beforschen und theoretisch zu reflektieren wie diese „Wiener Schule“, mit der auf vielfältige Weise verbunden zu sein für mich eine echte Bereicherung darstellt. Und offensichtlich geschieht das Ganze noch in einem Klima von Fürsorge und Wertschätzung füreinander, das eine Form von Selbstöffnung erlaubt, die in unserem Feld nur selten anzutreffen ist.
Im bemerkenswerten Schlusskapitel haben sich vier AutorInnen, nämlich Katharina und Joachim Hinsch, Verena Kuttenreiter und Sabine Klar entschlossen, in „Küchengesprächen“ über ihr eigenes, sehr persönliches „Wechselspiel zwischen privater und beruflicher Lebenswelt“ Auskunft zu geben. Kann man deutlicher machen, dass es in der Paartherapie nicht um Behandlung von Störungen „anderer“ geht, sondern um einen gemeinsamen Suchprozess von Klienten mit ihren TherapeutInnen, der im günstigen Fall mit Sinnfindung oder Sinnerweiterung für alle Beteiligten einhergehen kann?
In diesem Buch treffen Erfahrung, Neugier, Mut und Intelligenz auf eine so angenehme Weise zusammen, dass ich die Lektüre der geneigten Leserschaft nur zu gerne ans Herz lege!
Konrad Grossmann, Wien: Anmerkungen zu „Paartherapie und Identität – Denkansätze für die Praxis“ (Rede anlässlich der Buchvorstellung bei der ÖAS am 26.3.2010)
Liebe Herausgeber, sehr geehrte AutorInnen, sehr geehrte Gäste,
Herzlichen Dank für die ehrenvolle Einladung, einige Gedanken zu Eurem Buch zu sagen und damit die Möglichkeit zu haben, Ihnen, sehr geehrte Gäste, ein nachdenkliches, buntes und praxisorientiertes Buch zur systemischen Paartherapie vorzustellen und schmackhaft zu machen.
Eigentlich könnte man meinen, dass die Beatles schon alles erzählt haben, was über Identität und Paarbeziehung erzählbar ist – denken Sie an McCartneys traurige Feststellung in „Yesterday“, er sei nach dem Scheitern seiner Beziehung nur mehr „half the man he used to be“.
Schwieriges Lieben macht uns halb; warum das so ist, wird auf diesen 232 Seiten ausführlich beschrieben und begründet; vor allem aber erzählt das Buch von den vielen therapeutischen Möglichkeiten, wie unser Leben wieder ganz werden kann. Die Beatles waren – anders als die Herausgeber und AutorInnen dieses Buchs - noch dem verpflichtet, was Niklas Luhmann den „Code der romantischen Liebe“ nannte.
Sie erinnern sich: Im Code der romantischen Liebe fließt alles zusammen – Liebe auf den ersten Blick, Zärtlichkeit, Sexualität, Ehe, Langlebigkeit der Beziehung, Treue, die gemeinsame Elternschaft als Vollendung der Liebe. Eindringlich beschrieben ist dieser Code in McCartneys „When I’m Sixty-Four“ – sie alle kennen wahrscheinlich diesen Song, von dem das Gerücht geht, seine erste Fassung – „When I`m sixty-five“ – sei ausdrücklich für den heutigen Geburtstagtag von Joachim Hinsch geschrieben worden.
Ein romantischer Code von Liebe verweist zurück auf Platons Gastmahl: Ganz am Anfang wurde die Welt nicht nur von Männern und Frauen, sondern auch von Zwitterwesen besiedelt, die von Zeus getrennt wurden – die griechische Version der Vertreibung aus dem Paradies -, und die seitdem versuchen, einander wiederzufinden. Etwa so hat auch Sigmund Freud die Liebe gedacht – als Wiederfinden einer ursprünglichen Einheit von Sohn und Mutter, Tochter und Vater. Aber „The Times they are a-changing“. Die Zeit der Beatles ist vorbei, ebenso die Zeit der großen, vielfach männlichen Erzählungen über Paarbeziehungen. Nach Fromm, Willi, Welter-Enderlin, nach Hudson O’Hanlon und O`Hanlon-Hudson und all den anderen ist es gut, dass mit diesem Buch ein neuer Liederzyklus vorliegt.
Schon der Titel des Buches „Paartherapie und Identität – Denkansätze für die Praxis“ verweist auf spezifische Wahlverwandtschaften der AutorInnen – auf konstruktionistische, feministische und narrative. Das Buch umfasst Beiträge von Autorenpaaren und einzelnen AutorInnen, die durch prägnante Brücken der Herausgeber verbunden werden.
Nach einem furiosen Intro von Tom Levold, Andrea Brandl-Nebehay und Joachim Hinsch, das mich an die ersten Takte von „Sgt. Pepper“ erinnert, formulieren Andrea Kuttenreiter und Andrea Thomanetz die grundlegende Baseline des Buches – jene von Identität und Paarbeziehung. Die beiden Autorinnen umkreisen einen postmodernen Begriff der Identität und verwenden ihn als Hintergrund für die Skizze der aktuellen Lebenswelt von Paaren. Welche Lebenswelt ist dies? Eine der Individualisierung, der Enttraditionalisierung, der Entnormierung, die - so die Autorinnen - in Gefühle der Selbstunsicherheit einmündet. In dieser Situation versuchen viele Partner, ihre Identitätsdiffusion über ihren jeweiligen Partner zu lösen, was zu einer Überfrachtung von Paarbeziehungen mit beiträgt. Eine Paarbeziehung verwirklicht sich so als mühevolle Balancierung von Autonomie und wechselseitiger Bezogenheit, als eine „long and winding road“. Das Pendeln zwischen Autonomie und Bezogenheit steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Joachim und Katharina Hinsch. Er erinnert mich ein wenig an eine Textzeile aus „Hey Jude“: „Take a sad song and make it better.“ Katharina und Joachim Hinsch stellen hier unter anderem das Konzept der Einzeltherapie in Anwesenheit des Partners vor. Paartherapie wird hier als eine Form der Einzeltherapie in einem spezifischen Setting gedacht, das als „Lernen im Hier und Jetzt“ parallele und synchrone Lernvorgänge beider Partner ermöglicht. Was für ein wunderbarer Gedanke!
Der Text birgt zudem eine differenzierte Unterscheidung von Weisen des Klagens: Klagen kann als Formulierung von Differenz und als Formulierung von Sehnsucht verstanden werden, aber auch als Formulierung von Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Streit wird vor diesem Hintergrund zu einer „mutigen Differenzierungsleistung“ von Beteiligten. Die Formel lautet: Was Zeus getrennt hat, dass soll der Mensch zusammenfügen – aber nicht zuviel.
Im Beitrag von Sabine Kirschenhofer und Verena Kuttenreiter steht die Konstruktion von Geschlecht im Kontext paartherapeutischer Gespräche im Vordergrund. Die Autorinnen denken Therapie als „bedeutsamen Ort für den Prozess der Bestätigung oder des Überdenkens männlicher oder weiblicher Identitätskonstruktion.“ Für Beatles-Kenner: Dieser Text ist eine postmoderne Version von „I am the walrus“ – Sie erinnern sich vielleicht an die erste Liedzeile - „I am he as you are he as you are me and we are all together“.
Als Basis ihres Beitrages nutzen die Autorinnen Analysen von Videoaufzeichnungen von systemischen Paartherapien. Diese Analysen fungieren als Sprungbrett dafür, Gendermythen, an deren Aufrechterhaltung wir als TherapeutInnen in hohem Maß beteiligt sind, zu dekonstruieren. Das tun sie mit eindrucksvollen Sätzen wie etwa: „Wenn Männer sich emotional zeigen, dann ist ihnen starke Aufmerksamkeit (durch Therapeutinnen) gewiss“ oder „Therapie lässt sich als ‚Projekt der emotionalen Erschließung von Männern’ verstehen“ – etwas – so die Autorinnen -, das Frauen zumeist ohnehin versuchen: Therapie ist in dieser Hinsicht vielfach nur ein „Mehr desselben“. Der Beitrag „Bikulturelle Paare und ihre Identitätskonflikte – Identität quer über die Grenzen“ von Ingrid Egger lässt sich als Gegenstück zu dem Beatles-Lied „Michelle“ - jenes Lied, das Paul McCartney in wunderbar holprigem Französisch singt - lesen. (Ein weiterer Bezugspunkt ist „Komm gib mir deine Hand“ aus den frühen Hamburger Tagen). Die Autorin verknüpft hier spezifische Aspekte bikultureller Paarbeziehungen mit therapeutischer Handlungspragmatik und einer Vielzahl hilfreicher und kluger Fragen. Es geht um differierende soziokulturellen Kontexte von bikulturellen Paaren, um Fragen des Ausgleichs, um Fragen der Gerechtigkeit, wie sie sich im Kontext von Migration bzw. vor dem Hintergrund ungleicher rechtlicher, ökonomischer und sozialer Ausgangsbedingungen von Partnern verschärft stellen; es geht es um mit Bikulturalität verbundene Barrieren in der Kommunikation. Es geht um unterschiedliche Zugänge zu Erotik und Sexualität, um kulturell unterschiedlich geprägte Werte und Lebensentwürfe; und es geht um unterschiedliche Konfliktlösungskulturen. Am Ende ihres Beitrags findet sich eine bewegende Aussage, die Lennon und McCartneys Credo – „Love is all you need“ – radikal relativiert: Paare leben nicht von der Liebe allein. Im Grunde – so Egger - ist jedes Paar ein bikulturelles Paar, und schließlich „sind wir in jeder Paarbeziehung aufgefordert, Fremdes fremd sein zu lassen und Gemeinsames zu suchen“. Im Beitrag von Sabine Klar geht es um das Wild- und um das Fremdgehen (Die Beatles hatten darüber ja einiges zu sagen, sowohl in ihrem erzählten wie in ihrem gelebten Leben). Klars Text beginnt mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für ein therapeutisches Wildgehen, für eine therapeutische Präsenz im „Hier und Jetzt“, die mich sehr an Carl Rogers erinnert. Zu Beginn umkreist die Autorin die beiden Seiten des Fremdgehens – seine leidvolle Seite, die plötzliche Zerstörung von Sicherheit und Vertrautheit, und seine lustvolle Seite, das Spielerische und Grenzüberschreitende, das dem Fremdgehen inne wohnt. Diese Ambiguität war den Beatles wohl vertraut. Man kann dem „Fremdgehen“ John Lennons mit Yoko Ono sowohl Gutes – Befreiendes, Individualisierendes – wie auch Schlechtes abgewinnen. Klar durchwandert die Semantik des Fremdgehens, seine Einbettung in Geschichten der Rechtfertigung, der Erklärung wie auch der mit Affären verbundenen Konsequenzen. Die Autorin bietet eine Vielzahl von möglichen Unterscheidungen des Fremdgehens an: das kurze, das lange, das geheime, das öffentliche, das sexuelle, das nicht-sexuelle und die vielen anderen Varianten. Diese Wanderung mündet in eine differenzierte Choreographie möglichen interventiven Vorgehens. „Ich denke“ – so das Credo der Autorin –, „dass es jedenfalls wichtig ist, allen beteiligten Personen zu einer gewissen Ästhetik der Bewegung auf diesem schwankenden Boden zu verhelfen, damit sie in ihrem Fühlen, Sprechen und Handeln ihre Würde behalten und für sich selbst und für die anderen anziehend und liebenswert bleiben können.“ Thematischer Fokus des Beitrags von Sabine Kirschenhofer und Klaus Schmitzberger ist jener der Gewalt in Paarbeziehungen (Das ist natürlich eine Replik auf Lennons „Run for your live“. „I’d rather see you dead, little girl, than to be with another man“ singt hier ein zorniger Lennon. „Erwische ich dich mit einem anderen, ist das dein Ende“). Zu Beginn werden hier vier Formen partnerschaftlicher Gewalt differenziert: situationale Gewalt; sogenannter „intimate terrorism“ –kontrollierendes und gewalttätiges, zumeist männliches Verhalten, das sich im Verlauf einer Beziehung steigert; gewalttätiger und zumeist weiblicher Widerstand; und wechselseitig gewalttätiges Verhalten. Eindrucksvoll belegen die Autoren, dass Gewalt und Gewalterfahrung - insbesondere von Frauen - nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch im Kontext systemischer Therapiepraxis marginalisierte Thematik darstellen. Gewalt - so Kirschenhofer und Schmitzberger - ist eine „seltene Eintrittskarte“ in Therapien, eine Tatsache, die TherapeutInnen und ihrer Neigung, Gewalterfahrungen zu marginalisieren, entgegenkommt. Ausführlich wird im Folgenden unter anderem auf das gender- and violence-project von Goldner, Penn, Sheinberg und Walker vom Ackerman Institute in New York eingegangen. Wie Goldner et al. plädieren die Autoren für ein Sowohl-als auch von „moralischen“ und „psychologischem Diskurs“. Der moralische Diskurs bezieht sich hierbei auf den Aspekt von Verantwortung und Kontrolle, der psychologische Diskurs auf die Dimension der Affektregulation und Distanzregulation, der gewalttätigem Verhalten innewohnt. Der Beitrag mündet in eine differenzierte Abwägung von im Kontext von Gewalt hilfreichen therapeutischen Settings. Der abschließende Beitrag von Susanne Klingan ist mit dem Neugierde erweckenden Titel „Küchengespräche“ überschrieben. Er birgt eine Zusammenstellung von in der Küche des Instituts für Ehe- und Familientherapie geführten Gesprächen von TherapeutInnen rund um einzelne Therapiesitzungen. Der Vorteil dieser Küchengespräche liegt in ihrer Unmittelbarkeit. Die Küche - so Susanne Klingan - ist ein Ort des Übergangs. Sie ermöglicht ein Berichten über besonders Gelungenes oder Misslungenes, über wichtige Therapiemomente, sie ist ein Ort eingeschränkter Zensur. Die Gesprächspartner, die hier zu Wort kommen, sind Katharina und Joachim Hinsch, Sabine Klar und Verena Kuttenreiter. In diesen Gesprächen geht es um spezifische Anforderungen, die das paartherapeutische Setting an TherapeutInnen stellt, um die Wechselwirkung zwischen der privaten und beruflichen Lebenswelt von PaartherapeutInnen und um Übergänge zwischen professioneller und privater Identität – das erinnert an Michael Whites wunderbare Publikation „Narratives of therapists lives“. Es geht um die Frage, was gute Paartherapie ausmacht; und es geht um therapeutische Balanceakte, die im Beziehungsdreieck oder –viereck einer Paartherapie erforderlich sind. All dies sind intime Fragen; und es gelingt Susanne Klingan, diese Intimität zugleich zu schützen und behutsam zum Ausdruck zu bringen. So erinnert der Text an McCartneys wohl schönstes Liebeslied „Here, there and everywhere“. Was bleibt noch zu sagen? Die Beatles standen noch für eine Kybernetik 1 der Liebe. Deutlich wird dies unter anderem im letzten von Lennon & McCartney gemeinsam komponierten Lied, das bezeichnenderweise den Titel „The end“ trägt: „And in the end the love you take is equal to the love you make“. Das von Andrea Brandl-Nebehay und Joachim Hinsch herausgegebene Buch steht für eine Kybernetik 2, für ein „Imagine“ der Paartherapie, für einen neuen Gesang. Und dieser Gesang ist, wie gute Paartherapie sein soll: nachdenklich, melodiös, vielschichtig, bunt, allparteilich, dicht und berührend. Ich gratuliere Euch herzlich zu diesem Buch.
Als Leseprobe gibt es hier das Vorwort und die Einleitung
Zur website von Joachim Hinsch
Verlagsinformation:
Wer sich in eine Paarbeziehung begibt, verändert auf vielfältige Weise seine Identität: vom Single zum Partner, vom Selbstversorger zum Fürsorgenden, vom erwachsenen Kind zum Elternteil usw. Und auch die neue Identität ist alles andere als stabil, eher ein ständiges Balancieren: zwischen Autonomie und Bezogensein, zwischen "männlichen" und "weiblichen" Anteilen, verschiedenen Kulturen, Wertvorstellungen und Bedürfnissen. Mit den Anforderungen an die eigene Identität steigt auch das Konfliktpotenzial. Für Paartherapeuten geht es hier vor allem um die Frage, wie sie Paare auf der Suche nach neuen, besser passenden Beschreibungen des "Ichs" im "Wir" unterstützen können. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches, allesamt erfahrene systemische Therapeuten, geben Einblick in ihre paartherapeutische Praxis, reflektieren diese und sich selbst und beschreiben die Lebensrealität von Paaren im Spannungsfeld zwischen Individualität und der Sehnsucht nach Geborgenheit. Ihre Beiträge bringen auch in bisher schwach beleuchtete Ecken der Paartherapie Licht, wo es um bikulturelle Paare, Fremdgehen oder Gewalt geht.
Inhalt:
Levold, Tom (2010): Vorwort. S. 9-11.
Brandl-Nebehay, Andrea & Joachim Hinsch (2010): Einleitung. S. 12-18.
Kuttenreiter, Verena & Andrea Thomanetz (2010): »Warum siehst du nicht, wie ich wirklich bin?« - Identität und Paarbeziehung. S. 19-47.
Hinsch, Katharina & Joachim Hinsch (2010): Vom Pendeln zwischen Autonomie und Bezogensein. S. 49-77.
Kirschenhofer, Sabine & Verena Kuttenreiter (2010): Konstruktion von Geschlecht in Paartherapien - Ein Forschungsprojekt. S. 80-108.
Egger, Ingrid (2010): Grenzenlose Liebe: Bikulturelle Paare und ihre Identitätskonflikte. S. 111-139.
Klar, Sabine (2010): Wildgehend das Fremdgehen erkunden - Eine Identitätssuche. S. 141-171.
Kirschenhofer, Sabine & Klaus Schmidsberger (2010): Macht … Gewalt … hilflos? - Gewalt als Thema in der Paartherapie. S. 173-199.
Klingan, Susanne (2010): Küchengespräche. S. 200-223.
Über die HerausgeberInnen:
Andrea Brandl-Nebehay Mag., Soziologin, dipl. Sozialarbeiterin, systemische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin der ÖAS (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien). Langjährige Tätigkeit im Jugendamt der Stadt Wien, Mitarbeiterin des Instituts für Ehe- und Familientherapie (Wien); Publikation u. a.: "Systemische Familientherapie. Grundlagen, Methoden und aktuelle Trends".
Joachim Hinsch, Dr. phil., Psychologe, systemischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut und Obmann der ÖAS, Leiter des Instituts für Ehe- und Familientherapie (Wien). |
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