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26.03.2009
Klaus G. Deissler (Hrsg.): Familienunternehmen beraten. Positionen und Praxisbeispiele
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transcript Verlag, Bielefeld 2006
148 S., kartoniert
Preis: 16,80 €
ISBN-10: 389942395X
ISBN-13: 978-3899423952 |
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transcript-Verlag
Lothar Eder, Mannheim:
Klaus Deissler, Therapeut, Berater und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung darf als einer der Wegbereiter der systemischen Therapie in Deutschland gelten. Bereits in den 70er Jahren hat er den kommunikationstheoretischen und den Mailänder Ansätzen im deutschsprachigen Raum Gehör verschafft. Seit vielen Jahren widmet er sich insbesondere den narrativen und dialogischen Konzepten und entwickelt daraus Ideen und Konzepte für Therapie und Beratung. Dabei spielen etwa die Arbeiten Tom Andersens, Harry Goolishians und die Konzepte von Kenneth Gergen (sozialer Konstruktionismus, wertschätzendes Dialogisieren) eine bedeutsame Rolle.
Seit mehreren Jahren weitet der Herausgeber sein Spektrum auf die Beratung von Organisationen aus (z.B. Die wertschätzende Organisation 2003) Die bereits seit 2006 unter Deisslers Herausgeberschaft vorliegende Arbeit Familienunternehmen beraten widmet sich nun einem speziellen Topos von Organisationsberatung, eben den Familienunternehmen. Nicht zuletzt die vorausgegangenen Arbeiten von Fritz Simon haben sich mit diesem speziellen Feld und seinen Konfliktpotentialen beschäftigt. In besonderem Maße sind hier die hohe Identifikation der Gründerpersönlichkeiten mit dem Unternehmen, Fragen der Übergabe an die Folgegeneration, Rivalitäten und andere (emotionale) Konfliktthemen wie Vermischung von Privatem und Beruflichem in den Beziehungen von Belang, die nach besonderen Lösungsansätzen verlangen.
Das Konzept von Deisslers Diskursys-Reihe, dessen 2. Band hier vorliegt, besteht darin, einen Aufsatz zum Thema ins Zentrum zu stellen (der dieses Mal von ihm selbst stammt), und ihn dann von Beiträgen anderer Autoren aus verschiedenen Perspektiven theoretisch und praxisbezogen zu beleuchten. Somit ist auch die Form des Buches eine polyphone – ein Begriff, den der Herausgeber als zentral für seinen Ansatz nennt.
Deisslers Herangehensweise weist seit vielen Jahren in seiner Fokussierung des Dialogs, der Polyphonie und des Aspektes des Postmodernen eine gewisse Eigenheit auf, die den einen als konzeptuelle Engführung, den anderen als das konsequente Einnehmen eines bestimmten (metatheoretischen und beratungspraktischen) Blickwinkels erscheinen mag. In jedem Fall ist sie gekennzeichnet durch eine hohe Originalität, die immer wieder dazu geeignet ist, zu einer anderen Betrachtung der Zusammenhänge und einer entsprechenden Herangehensweise zu kommen. Notgedrungen werden dadurch manch andere, dem systemischen Mainstream entsprechende Positionen ausgeblendet.
In der Ressource wendet Deissler seinen Ansatz, der aus seinen zahlreichen Arbeiten zur Therapie- und Beratungspraxis bekannt ist, konsequent auf das Feld der Beratung von Familienunternehmen an. Betont wird die Rolle von Vokabularen und Sprechweisen, der Gestaltung also von Dialogen (und Dialogen über Dialogen) für die Beratung in diesem Kontext. Insgesamt ist dies auch ein Versuch, der Beratung von Unternehmen, die ansonsten ja oft sehr an der reinen Beratungspraxis ausgerichtet ist, einen philosophischen Rahmen zu geben, der hier Postmoderne heißt. Ein Kriterium dabei ist, so führt der Autor aus, das Element der Unsicherheit im Sinne eines stetigen selbstreflexiven organisatorischen Wandels. An dieser Stelle mag der Leser sich manchmal die Frage stellen, ob dieser Wandel tatsächlich immer das Wirklich-Gewünschte von Menschen ist – das Wort von der "permanenten Wandelzumutung" in Unternehmen mag einem in diesem Zusammenhang in den Sinn kommen.
Auch die Betonung von Familienunternehmen, die auf nur eine Generation beschränkt sind, mag auf den Ansatz Deisslers besonders zugeschnitten sein. Eine mehrgenerationale Perspektive, die sich mit emotionalen Konfliktlagen und mit einer entwicklungsbezogenen Perspektive von Menschen und Systemen beschäftigt (oder gar mit unbewussten Prozessen, Delegationen o.ä.) scheint in Deisslers Ansatz eher randständig zu sein.
Bei aller Kritik muss man diesem Aufsatz aber einen originären und originellen Charakter bescheinigen, der eine wirklich neue und anregende Perspektive auf den Gegenstand wirft und damit das Feld bereichert.
Der nachfolgende Diskurs umfasst insgesamt 5 Beiträge anderer Autoren.
Kai W. Dierke und Anke Houben exemplifizieren in ihrem Beitrag Unternehmen – Familie – Beratung: Dialoge und Expertise anschaulich die praktische Relevanz des Deisslerschen Ansatzes und betonen dabei dessen Bereitstellung einer geeigneten Sprache für die Beratung von Familienunternehmen.
Der Beitrag von Franz-Josef Hunecke und Edeltraud Quinkler-Koch mit dem Titel Punktuelle Einmal-Beratung – eine Alternative? Oder: Wie aus Verlegenheiten Gelegenheiten entstehen leidet letztlich an seiner kurzen und schlagwortartigen Ausführung. Hier hätte man sich mehr Tiefenschärfe gewünscht. Die beiden in dem Aufsatz dargestellten Praxisbeispiele werfen zudem die Frage auf, ob man mit einem "konventionellen" Beratungsansatz nicht zu ähnlichen Beschreibungsformen und Vorgehensweisen käme.
Iris Maass Aufsatz Systemische Beratung von Familienunternehmen – ein Erfahrungsbericht gibt einen recht interessanten Einblick in den persönlichen Zuschnitt des Beratungsverständnisses der Autorin; jedoch zeigt dieser Beitrag wenig inhaltliche und konzeptuelle Bindung an die "Ressource".
Sehr interessant aufgrund der persönlichen Bezüge ist auch Bodo Pisarskys Praxisbericht Wertschätzende Kooperation zwischen sozialpsychiatrischem Auftrag und familiären Pflichten. Der Autor berichtet über die Anwendung des Modells auf die kinder- und jugendpsychiatrische Praxis, die er mit seiner Frau betreibt. Auch hier aber wird nicht so recht deutlich – und gerade dies wäre en detail doch interessant – wie die theoretisch doch recht hoch angesiedelten Konzepte von Kybernetik 2. Ordnung, des Sozialkonstruktionismus und anderen postmodernen linguistischen Ansätzen sich auf der banalen Ebene von "Familiengesprächen" abbilden, für deren Darstellung der Autor leider nur karge sieben Textzeilen reserviert.
Der letzte Beitrag des Bandes schließlich – Familienunternehmen und Beratung: Paradoxien und Dilemmata von Arist von Schlippe und Torsten Groth – liefert in einer schönen, Theorie und Praxis verbindenden Variation, Bekanntes aus der Witten-Herdecker Schule. Ein Beitrag somit, der einen guten Einblick in diese Konzeption gibt. Mit seinen klaren Bezügen zu Luhmann, Simon und Wimmer bleibt allerdings auch dieser Text ohne klare Rückbindung an die "Ressource".
Bei aller einschränkenden Kritik bleibt abschließend zu sagen, dass der besprochene Band es ermöglicht, eine eigenständige und originelle Perspektive auf die Beratung von Familienunternehmen kennen zu lernen. Er gibt einen guten Einblick in unterschiedliche Arbeitsweisen und Variationen des Themas, und wird dem theoretischen Anspruch der Polyphonie demnach auch in der Form gerecht. Zudem ist das Buch mit seinen nicht einmal 150 Seiten im Taschenbuchformat übersichtlich und damit leserfreundlich gehalten. Alles in allem liegt hier also ein bereichernder Beitrag zur Thematik vor, der dem interessierten Leser, der interessierten Leserin, zur Lektüre empfohlen werden kann.
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Verlagsinformation:
Familienunternehmen werden nach aktuellen Statistiken zu 50 Prozent und mehr von der nächsten Generation übernommen. Mit der öffentlichen Anerkennung des Erfolges von Mehrgenerationen-Familienunternehmen geht jedoch oft eine Entwertung von Eingenerationen-Familienunternehmen einher. Damit wird bei fast der Hälfte aller Familienunternehmen ein Versagen insbesondere bei der Nachfolgeregelung impliziert. Für die Beratung von Familienunternehmen ist dieser Umstand bedeutsam. So stellt sich die Frage, ob erfolgreiche Familienunternehmen notwendigerweise über mehrere Generationen hinweg bestehen müssen, oder ob sie nicht auch von ihren Gründern als zeitlich begrenzte Unternehmen angelegt und mit Erfolg geführt werden können. Diese und andere beratungsrelevante Themen werden in dem vorliegenden Band mit Blick auf die Praxis kritisch und vielstimmig diskutiert. Inspiriert durch diese Fragestellungen werden neue Beratungspraktiken vorgestellt, die über verwandtschaftsorientierte Konzepte hinausgehen und punktuelle, ressourcenorientierte, effiziente und kostengünstige Beratungen ermöglichen.
Inhalt:
Deissler, Klaus G.: Vorwort. S. 7-13
Deissler, Klaus G.: Beratung von Familienunternehmen: Neue Sprache - neue Möglichkeiten? S. 17-56
Dierke, Kai W. & Houben, Anke: Unternehmen - Familie - Beratung: Dialoge und Expertise. S. 59-75
Hunecke, Franz Josef & Quinkler-Koch, Edeltraud: Punktuelle Einmal-Beratung - eine Alternative? Oder: Wie aus Verlegenheiten Gelegenheiten entstehen. S. 77-86
Maass, Iris: Systemische Beratung von Familienunternehmen - ein Erfahrungsbericht. S. 87-97
Pisarsky, Bodo: Wertschätzende Kooperation zwischen sozialpsychiatrischem Auftrag und familären Pflichten. S. 99-108
Schlippe, Arist von & Groth, Torsten: Familienunternehmen und Beratung: Paradoxien und Dilemmata. S. 109-125
Vorwort des Herausgebers:
Dass ich den Lesern den zweiten Band der Reihe DiskurSys (1) vorstellen kann, freut mich besonders, da es sich bei der Beratung von Familienunternehmen um ein Thema handelt, das mir sehr am Herzen liegt.
Die Beratung von Familienunternehmen stellt eine besondere Herausforderung in einer Zeit dar, in der einerseits die Beratertätigkeit hinsichtlich ihrer Effizienz bzw. der Kosten/Nutzen-Relation hinterfragt und kritisiert wird und andererseits Familienunternehmen ins Zentrum des Interesses vieler Experten gelangt sind - seien es Betriebswirtschaftler, Juristen, Steuerexperten, Organisationstheoretiker und -berater, Familientherapeuten oder Politprofis.
Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich hier noch einmal und ausdrücklich hervorheben, dass es sowohl in der DiskurSys-Reihe im Allgemeinen als auch in diesem Band im Besonderen nicht in erster Linie darum geht, theoretische Positionen wiederzugeben und wissenschaftliche Argumentationen zu referieren oder zum Zentrum der Reflexion zu machen. Das Anliegen dieser Reihe besteht vielmehr darin, unterschiedliche Bereiche und Formen der Beratungspraxis darzustellen und sie hinsichtlich ihrer Potentiale und in verschiedener Perspektive zu reflektieren. Auf diese Weise sollen ihre Praxistauglichkeit und ihr Nutzen veranschaulicht werden. Dies wiederum hilft dem Leser bei einer eigenen Einschätzung. Der gesamte Prozess der Praxisreflexion und der Einschätzung der Nützlichkeit kann kompliziert sein, denn die Beschreibung von Beratungsprozessen, ihren Zielen, ihren Bewertungszusammenhängen usw. ist schwieriger als z.B. die Funktionsbeschreibung bestimmter Produkte oder die Ergebnisdarstellung von Testreihen, z.B. der Stiftung Warentest.
Das Konzept der Buchreihe DiskurSys besteht darin, einen Aufsatz als Ressource in den Mittelpunkt eines Bandes zu stellen. Im zweiten Teil - Diskurs genannt - gruppieren sich andere Aufsätze um die Ressource herum, indem sie deren Ideen aufgreifen, reflektieren und in eigener Praxis darstellen, transformieren oder zumindest als Ausgangspunkt nehmen. Dass die Gesamtheit der Aufsätze keine homophone (2) Einheit darstellt, heißt gleichzeitig, dass unterschiedliche Auffassungen im Sinne der Polyphonie verstärkt auftreten. Das bedeutet, diese Unterschiede werden nicht als Nachteil "in Kauf genommen", sondern sie stellen aus Sicht des Herausgebers und der Mitautoren einen besonderen intellektuellen Reiz und Reichtum an Auffassungen dar. Dies dient der Entfaltung neuer Ideen und eröffnet kreative Handlungsmöglichkeiten für die Weiterentwicklung der Beratungspraxis. Über die Wertschätzung sowohl der Unterschiede als auch der Gemeinsamkeiten wird die Qualität der Beratungsansätze verdeutlicht und verständlich. Dass es dabei auch um den Umgangsstil - die Formen, wie Berater und zu Beratende sich aufeinander beziehen, wie sie miteinander kommunizieren bzw. miteinander sprechen und handeln - geht, sollte in dem ersten Band "Die Wertschätzende Organisation" deutlich geworden sein.
Unternehmen Familie - Familienunternehmen
Dass die Familie für die meisten Menschen ein (abenteuerliches) Unternehmen darstellt, bedarf keiner besonderen Begründung und stellt für die meisten eine Binsenwahrheit dar. Dass aber Familienunternehmen als wirtschaftliche Kerneinheiten eines Staates und damit des sozialen Fortschritts und des Wohlstandes beschrieben werden können, ist vielleicht nicht so selbstverständlich - zu sehr waren wir in der bisherigen Diskussion mit Dichotomisierungen wie "Individuum und Gesellschaft" oder "Kapital und Arbeiterklasse" beschäftigt. Es ist seit langem keine Geheimnis mehr, dass sich soziale Konstruktionen insbesondere über Beziehungen (3) und "Systeme von Beziehungen" realisieren. Erst in jüngerer Zeit wird diese Erkenntnis in den Vordergrund der Diskussion gerückt, wie beispielsweise der Buchtitel "The Social Construction of Organization" (Hosking/McNamee 2006) zeigt. Dass aber Familienunternehmen als "soziale Konstruktionen" beschrieben und verstanden werden können, ist vielleicht nicht unmittelbar einsichtig. Daher werden in den folgenden Abschnitten ein paar Zusammenhänge hergestellt, die dies verdeutlichen sollen.
Von der Familientherapie zur Beratung von Familienunternehmen?
Dass auch Familienunternehmen "soziale Konstruktionsprozesse" zugrunde liegen, in denen mehr als nur die Personen engagiert sind, die zum Verwandtschaftssystem "Familie" gehören, wird spätestens dann deutlich, wenn man nach dem wirtschaftlichen Erfolg dieser Unternehmensform fragt. Wie wird dieser Erfolg über das Engagement der zum Familienunternehmen gehörenden Familienmitglieder realisiert? Über Kinderbetreuung und familieninterne Hilfskräfte hinaus ist das Unternehmen auf vielfaltige externe Hilfen angewiesen, die nicht von den Familienmitgliedern selbst geleistet werden - dazu gehören familienfremde Mitarbeiter der Firma, Kreditgeber und Kunden sowie verschiedene Berater wie Rechtsanwälte, Steuer- und Organisationsberater.
Im letzten Jahrzehnt haben sich aber auch vermehrt "Familientherapeuten" der Beratung von Familien und ihren Unternehmen zugewandt. Hilfreich waren dabei ein "systemisches" Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen Familie, Unternehmen und Eigentumsverhältnissen sowie dem Denken in Kommunikations- oder Beziehungsgestaltungen, und über das Denken in Verwandtschaftsbeziehungen hinaus auch das Verständnis von wirtschaftlichen Aspekten.
Ein interessanter Blickwinkel, der die familientherapeutischen Perspektive berücksichtigt, entsteht, wenn man neuere Veröffentlichungen im Bereich "Familienunternehmen" und ältere Veröffentlichungen im Bereich der Familientherapie vergleicht. Die "neuesten Erkenntnisse" im Bereich Familienunternehmen und ihrer Beratung scheinen sich derzeit um eine zentrale erkenntnisleitende Annahme zu zentrieren: Familienunternehmen werden erst dann als erfolgreich anerkannt, wenn sie über mehrere Generationen bestehen und wirtschaftlich erfolgreich arbeiten. Dies wird durch den Begriff "Mehrgenerationen-Familienunternehmen" impliziert und beschrieben (Simon/Wimmer/Groth 2005). Die Mehrgenerationen-Perspektive bei Familienunternehmen transportiert somit fast automatisch das Versprechen wirtschaftlichen Erfolges. Gelingt es also, Familienunternehmen mehrgenerativ zu führen, ist der Erfolg - folgt man dieser These - fest mitgebucht. Wenn dem so ist, müsste man Königshäuser, die über mehrere Jahrhunderte bestehen, an Reichtum gewonnen haben und von bestimmten Familiengeschlechtern getragen werden, als die erfolgreichsten Unternehmen aller Zeiten anerkennen - gefolgt von Dynastien erfolgreicher Manufaktur- und Händlerfamilien und von modernen Mehrgenerationen-Familienunternehmen.
Was hat diese Idee mit Familientherapie zu tun? Viele Kolleginnen und Kollegen, die heute erfolgreich mit und in Familienunternehmen arbeiten, haben neben anderen Ausbildungen auch eine familientherapeutische Ausbildung abgeschlossen; andere wiederum sind erst über die Familientherapie zur Beratung von Familienunternehmen gekommen. Daher sind einige Überschneidungen zwischen beiden Gebieten mehr als zufallig.
Seit den Anfängen der Familientherapie bis heute gibt es eine Schule der Familientherapie, die sich "Mehrgenerationen-Familientherapie" nennt (vgl. Massing et al. 2006). Diese Form der Familientherapie ist seit dem Erfolg sog. "lösungsorientierter Kurzzeittherapien" eher in den Hintergrund der Diskussion gerückt und wird derzeit nur von einer kleinen, aber engagierten Minderheit als Praxisform vertreten. Interessant sind meines Erachtens in diesem Zusammenhang drei Annahmen der Mehrgenerationen-Familientherapie, die hier vereinfacht wiedergegeben werden und mit Annahmen der Mehrgenerationen-Familienunternehmen in Bezug gesetzt werden:
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Zur "Erzeugung" schwerwiegender psychischer Probleme braucht eine Familie mindestens drei Generationen.
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Ziel der Mehrgenerationen-Familientherapie besteht darin, in der dritten Generation nach der Behandlung - also vom Zeitpunkt des Therapiebeginns aus gesehen der Enkelgeneration! - "Symptomfreiheit" zu erreichen (Boszormenyi-Nagy 1985).
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Die Sprache der Mehrgenerationen-Familientherapie - Boszormenyi-Nagy verwendet z.B. Begriffe wie "Verdienst- oder Schuldkonten" - ist vielfach an eine ökonomische Sprache angelehnt.
Während beim letztgenannten Aspekt die Verwandtschaft von Mehrgenerationen-Familientherapie und Mehrgenerationen-Familienunternehmen quasi auf der Hand liegt, lässt sie sich für die beiden ersten zumindest indirekt erschließen. Der erste Aspekt hat seine Entsprechung in folgender Aussage über Familienunternehmen: Um - ironisch zugespitzt - ein Familienunternehmen, das in der ersten Generation erfolgreich ist, "zugrunde zu richten", braucht man drei Generationen: Die erste baut es auf, die zweite genießt die Früchte des Aufbaus und die dritte liquidiert das Unternehmen ("Der Vater erstellt's, der Sohn erhält's, den Enkeln zerfällt's" [May 2004]).
Dem zweiten Punkt der Mehrgenerationen-Familientherapie entspricht der Wunsch von Beratern und Theoretikern, die Lebensdauer von Familienunternehmen zu erhöhen: Z.B. sollen Familienunternehmen mit Hilfe optimierter Nachfolgeregelungen wirtschaftlich "gesund" gestaltet werden und mindestens bis in die dritte Generation erhalten werden.
Es stellt sich die Frage, ob damit die Ideen der Mehrgenerationen-Familientherapie eine späte, unausgesprochene Anerkennung erfahren. Auf jeden Fall bleibt festzustellen, dass beide - Mehrgenerationen-Familientherapie und Mehrgenerationen-Familienunternehmen durch die "Mehrgenerationen-Perspektive" verbunden sind. Unabhängig davon wirft diese Perspektive zwei wichtige Fragen auf, die bei der Beratung von Familienunternehmen zu beachten sind:
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Die Frage der zeitlichen Perspektive von Familienunternehmen: Wie lange sollten Familienunternehmen existieren?
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Die Frage der Personenkonstellationen, die in die Beratung einbezogen werden: Welche Personengruppen sind relevant für die Beratung von Familienunternehmen?
Halbwertzeiten, Eigenzeiten (4) und ihre Koordination in Beratungskontexten
Angenommen, die Halbwertzeit einer Liebesbeziehung läge bei maximal vier Jahren (von insgesamt acht Jahren, bevor sich die Partner trennen oder sich entschließen, aus anderen Gründen zusammen zu bleiben); und die Halbwertzeit einer Beziehung zwischen einem Autofahrer zu seinem PKW würde bei dreieinhalb Jahren liegen (bevor sich die "Partner" entschließen, sich nach sieben Jahren zu trennen ...) - wie lange dauert dann die Halbwertzeit einer Beziehung einer Unternehmerfamilie zu ihrem Unternehmen? Zehn Jahre (also eine Gesamtlebensdauer von 20 Jahren)? Oder überdauert sie mehrere Generationen?
Wer sich ein Auto kauft, macht sich meist über die Lebensdauer seines Vehikels Gedanken; wer eine Liebesbeziehung eingeht, fragt sich vielleicht schon weniger, wie lange diese Beziehung wohl dauern wird, weil Liebe zwar nach Ewigkeit verlangt, sich aber nicht kalkulieren lässt. Wollen aber diejenigen, die ein Familienunternehmen gründen, sich sicher sein, dass ihr Unternehmen mindestens eine Generation überdauert und dann an die nächste weitergegeben wird - also mindestens 20 + x Jahre alt wird? Ich unterstelle hier einmal, dass diese Frage für die meisten Gründer von Familienunternehmen zum Zeitpunkt der Firmengründung eine untergeordnete Rolle spielt.
Glaubt man nun einschlägigen Statistiken, die man immer wieder in Fachjournalen lesen kann, überdauern "nur" etwas mehr als 50 % der Firmengründungen die erste Generation - und dies wird mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Aber muss man dieses Faktum notwendigerweise negativ bewerten? Doch wohl nur, wenn unser Orientierungsrahmen Eigenzeiten impliziert, die sich mindestens an der Mehrgenerationen-Perspektive orientieren und gar nach "Ewigkeit" streben, wenn wir beispielsweise an Königshäuser denken.
Der Erfolg von Mehrgenerationen-Familienunternehmen ist bewunderns- und anerkennenswert, zumal wenn er über die dritte Generation hinausgeht. Ab der dritten Generation sinkt die Wahrscheinlichkeit des "Überlebens" (unausgesprochen: des "Erfolgs") jedoch unter 5 % und strebt schließlich gegen 0 %.
Was also ist mit den 50 % der Familienunternehmen, die jeweils eine Generation in ihrer Lebensdauer nicht überschreiten und wieder und wieder neu gegründet werden - sind sie notwendigerweise gescheitert, weil sie innerhalb einer Generation auch wieder aufgelöst werden? Wenn man nicht von vorneherein positive Gründe für die zeitliche Begrenzung eines Familienunternehmens annehmen kann, und bevor man das wenig wertschätzende Urteil des "Scheitern" oder des "Versagens" über "Kurzzeit-Familienunternehmen" fällt, wären sicher noch einige Untersuchungen notwendig, um die These des "Scheiterns" zu erhärten.
Mir geht es hier also unausgesprochen auch darum, eine wertschätzende Haltung gegenüber Kurzzeit-Familienunternehmen zu entwickeln und dazu beizutragen, die Sensibilität gegenüber den Eigenzeiten der Systeme zu erhöhen, die diese Systeme konstituieren. So können z.B. die Eigenzeiten einer Familie, die eines Unternehmens und die einer möglichen Besitzergemeinschaft unterschiedlich sein. Dass diese Systeme auch als unterschiedliche Diskurse verstanden werden können, soll in der Ressource in diesem Buch auch deutlich und mit einer bestimmten Beratungsform verknüpft werden. Es stellt sich also weniger die Frage, ob und welche Systeme unabhängig vom Berater (und seiner Beobachtung der Systeme) existieren, sondern vielmehr, welche Systeme man sinnvoller Weise in die Beratungsgespräche einbezieht und wie man diese Beratungen dann gemeinsam mit den Auftraggebern gestalten kann.
Danksagung und Wünsche
Bevor ich den interessierten Lesern viel Spaß und Anregung bei der Lektüre wünsche, möchte ich mich bei den Mitautoren dieses Buches bedanken. Ohne ihre Mithilfe wäre der Band in seiner Vielstimmigkeit nicht zustande gekommen. Ebenso bedanke ich mich beim transcript Verlag für seine Unterstützung, insbesondere für die Arbeit von Gero Wierichs, der dieses Projekt nicht nur ermöglicht hat, sondern auch wertschätzend gefördert hat.
Ich wünsche allen Lesern, dass sie in diesem Buch für ihre weitere Arbeit in und mit Familienunternehmen einen kleinen, aber nützlichen Begleiter finden.
Klaus G. Deissler
Marburg, im Juli 2006
Anmerkungen
(1) Bereits erschienen: Deissler/Gergen (Hg.) (2004): Die Wertschätzende Organisation.
(2) "Homophonie" = Gleichklang, im Unterschied zu "Polyphonie" = Vielstimmigkeit.
(3) "Beziehung", "Kommunikation" und "Umgang miteinander" werden hier synonym verwendet.
(4) Eigenzeit = die einem System eigene Zeit (~ Lebendauer).
Über den Autor:
Klaus G. Deissler (Dr. phil., Dipl.-Psych.) wuchs in einer Unternehmerfamilie auf. Er gehört zu den Wegbereitern und Mentoren systemischer und postmoderner Beratungs- und Therapieformen. Seit 1976 ist er als Berater und Psychotherapeut tätig und seit 1992 gibt er die »Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung« heraus. Er ist seit 1999 Gastprofessor am »Servicio de Psyquiatria Professor René Yodú, Hospital Universitario Dr. Joaquin Albarran«, Havanna. Er ist leitender Geschäftsführer des Weiterbildungsinstituts viisa in Marburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Beratung. |
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