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Neuvorstellung zur Übersicht
10.03.2008
Karl Heinz Brisch & Theodor Hellbrügge (Hrsg.): Kinder ohne Bindung. Deprivation, Adoption und Psychotherapie
Brisch Hellbrügge: Kinder ohne Bindung Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007 (2. Aufl.)

278 S., fester Einband

Preis: 39,00 €

ISBN-10: 3608941827
ISBN-13: 978-3608941821
Klett-Cotta-Verlag





Maria Eberstaller, Wien:

In dem Buch „Kinder ohne Bindung“ sind insgesamt zwölf Beiträge von international renommierten Autoren zusammengefasst, die das Thema der frühkindlichen Deprivation zum Inhalt haben. Dabei werden sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung und Tierforschung dargestellt, sowie die psychotherapeutische Arbeit mit Adoptiv- und Pflegekindern veranschaulicht.
Theodor Hellbrügge gibt in seinem Beitrag einen sehr guten Überblick über die Anfänge der Deprivationsforschung. Er gibt Einblick in die Entwicklung der Deprivationsdiagnostik, welche das Verhalten des Säuglings analysiert, wobei ihm in seiner Forschungsarbeit die rechtzeitige spezifische Therapie und Entwicklungs-Rehabilitation ein Anliegen ist. In den Arbeiten von Stephen Suomi und Kim Bard wird über neue Befunde aus der Tierforschung mit Primaten berichtet. Beeindruckend ist der Zusammenhang von übermäßig aggressiven Verhaltensweisen der Affen und Defizite im Serotoninstoffewechsel. Diese Defizite führen zu mangelhaftem sozialen Lernen, mit Folge einer geringen Überlebenschance. In der Forschungsarbeit konnte jedoch auch die Bedeutung einer frühen Bindungserfahrung mit einer kompetenten Mutter nachgewiesen werden.
Mechthild Papousek beginnt mit einer Vorstellung der Bindungsforschung, um dann die Bedeutung der vorsprachlichen Kommunikation, mit besonderem Augenmerk des Blick- und Ausdrucksverhaltens, aufzuzeigen. Weiteres gibt sie Einblick in die psychotherapeutischen Interventionsformen bei Schreibabies.
Die Beiträger von Michael Rutter, Dana E. Johnson und Jaroslav Sturma beschäftigen sich mit den psychischen und physiologischen Auswirkungen früher Heimerziehung. Michael Rutter diskutiert den Zusammenhang zwischen Zeitpunkt und Dauer der Deprivation, und ihre schädlichen Einflüsse auf die kindliche Entwicklung. Dana Johnson zeigt durch ihre Forschungsergebnisse die schädigenden Auswirkungen von Deprivation auf das Körperwachstum. Die Forschungsarbeiten schließen die Veränderungen durch Adoption, und damit die Erfahrung neuer, emotional tragender Beziehungen mit ein. Sturma und Matejcek geben einen historischen Überblick der Heimsituation in der Tschechoslowakei, und zeigen damit, wie Politik auf das Menschenbild einwirkt, und in weiterer Folge auf die Erziehung und Beziehung zu Kindern und Familien Einfluss nimmt.
Der Beitrag von Miri Keren beschäftigt sich damit, in welches diagnostische Dilemma man geraten kann, wenn eine Differentialdiagnose bei einem Kind gestellt werden soll, das emotional depriviert ist. Sie zeigt weiteres auf, wie wichtig es ist, bei der Psychotherapie die neue Eltern- Kind-Interaktion soweit zu stützen, damit positive Interaktionen in Gang gesetzt werden können. Mit der Frage, welche therapeutische Ansätze erfolgversprechend sind, herrscht nach wie vor große Unsicherheit. Angie Hart schildert mit Hilfe von Fallbeispielen, wie viel Kreativität in der Therapie von Adoptivkindern gefordert ist. Die Einbeziehung von Adoptiveltern sowie von leiblichen Eltern in die Therapie werden von ihr kritisch diskutiert und durch Fallbeispiele veranschaulicht.
Im Beitrag von Karl Heinz Brisch werden Fragen wie Besuchskontakt, begleiteter Umgang und Rückführung in die Ursprungsfamilie bei Adoptiv- und Pflegekindern diskutiert. Dabei zeigt er die Risiken und Chancen, die eine Betreuung eines bindungsgestörten Kindes durch Pflege- und Adoptiveltern mit sich bringt.
Der abschließende Beitrag von Ludwig Salgo beschäftigt sich mit den gesetzlichen Bestimmungen für Adoptiv- und Pflegekindern und welche Auswirkungen diese Bestimmungen auf die Entwicklung dieser Kinder haben können.
Das Buch stellt zum einen eine umfassende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Deprivation und Adoption dar. Zum anderen werden durch zahlreiche Fallbeispiele auch therapeutische Interventionen sehr gut veranschaulicht. Jeder Beitrag kann für sich gelesen werden, was bedeutet, dass sich beim Lesen der gesamten Lektüre einige Statements über Bindung und Deprivation wiederholen. Das mag einerseits den Eindruck von „Länge“ erzeugen, hat aber andererseits den Vorteil, dass die unterschiedlichen Zugangsweisen der Autoren zu diesem Thema auch beim Leser eine „Weite der Betrachtungsweise“ zulässt. Eine bindungsorientierte Sichtweise der Problematik zieht sich jedoch einheitlich durch alle Beiträge und gibt damit dem Buch seine Grundrichtung. Das Buch ist ein „Muss“ für all jene, die auf dem Gebiet der Adoption und Pflegschaft professionell tätig sind.

(mit freundlicher Erlaubnis des Springer-Verlages Wien aus Psychotherapie Forum Heft 3-2007)





Weitere Rezensionen von Liselotte Ahnert für socialnet.de, Kurt Eberhard für AGSP.de, und Verena Liebers für wissenschaft-online.de.






Verlagsinformation:

Die Untersuchungen von René Spitz zum Hospitalismus haben gezeigt, daß ausreichende Ernährung und Versorgung allein nicht ausreichen: Kinder brauchen für eine gesunde psychische Entwicklung auch Bindungspersonen, die ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen. Vor dem Hintergrund der Bindungstheorie von John Bowlby konnte die Bindungsforschung nachweisen, daß eine Vernachlässigung der frühen emotionalen Bedürfnisse eines Säuglings Schädigungen in der Hirnreifung zur Folge hat. Diese sind eine Ursache für die Entwicklung von schweren psychopathologischen Auffälligkeiten, die wir auch als Bindungsstörungen diagnostizieren. Wenn die elterlichen Fähigkeiten zur Förderung der emotionalen Entwicklung ihres Kindes nicht ausreichen oder sich schädigend auswirken, wird oft eine Fremdbetreuung des Kindes in einer Pflege- oder Adoptivfamilie erwogen. Dies kann zu neuen, »heilenden« Bindungserfahrungen des Kindes führen. Die Beiträge erläutern die rechtlichen Zusammenhänge und Fragen wie etwa Besuchskontakte, betreuter Umgang oder Rückführung des Kindes in seine Ursprungsfamilie unter bindungs dyna mischen Gesichtspunkten.


Inhalt:

Hellbrügge, Theodor: Vom Deprivationssyndrom zur Entwicklungs-Rehabilitation. S. 13-28

Suomi, Stephen J.: Die wechselseitige Beeinflussung zwischen genetischen und Umweltfaktoren formt individuelle Differenzen der Verhaltensentwicklung bei Primaten. S. 29-43

Bard, Kim A.: Die Entwicklung von Schimpansen, die von Menschen aufgezogen wurden. Fähigkeiten der Mütter, Bindung und Bewältigungsverhalten. S. 44-60

Papoušek, Mechthild: Bindungssicherheit und Intersubjektivität. Gedanken zur Vielfalt vorsprachlicher Kommunikations- und Beziehungserfahrungen. S. 61-90

Rutter, Michael: Die psychischen Auswirkungen früher Heimerziehung. S. 91-137

Johnson, Dana E., & (IAP), Internationales Adoptionsprojekt-Team: Zusammenhänge zwischen dem Wachstum von psychisch belasteten Kindern und kognitiver sowie emotionaler Entwicklung. S. 138-160

Šturma, Jaróslav: Deprivationsstudien in der ehemaligen Tschechoslowakei und ihre Folgen für die Familienpolitik. S. 161-168

Matĕjček, Zdeněk: Ehemalige Heimkinder in Adoption und Familienpflege. S. 169-182

Keren, Miri: Wie soll man ein Kleinkind diagnostizieren, das in einem Waisenhaus gelebt hat? S. 183-189

Hart, Angie: Die alltäglichen kleinen Wunder. Bindungsorientierte Therapie zur Förderung der psychischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von Pflege- und Adoptivkindern. S. 190-221

Brisch, Karl Heinz: Adoption aus der Perspektive der Bindungstheorie und Therapie. S. 222-258

Salgo, Ludwig: Das Wohl des Kindes unter den Aspekten gesetzlicher Einflüsse. S. 259-276


Vorwort:

Durch die Untersuchungen von René Spitz zum Hospitalismus wurde erstmals bekannt, welche extremen Auswirkungen frühe emotionale Deprivationserfahrungen auf die körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes haben. Kinder brauchen für ihre gesunde Entwicklung sowohl eine ausreichende Ernährung als auch Bindungspersonen, die für ihre emotionalen Bedürfnisse verfügbar sind. Viele Eltern fühlen sich heute aber überfordert und hilflos, die gesunde emotionale Entwicklung ihrer Kinder ausreichend zu unterstützen. Auf dem Hintergrund der Bindungstheorie von John Bowlby konnten die Bindungsforschung sowie Tierstudien nachweisen, daß eine Vernachlässigung der frühen emotionalen Bedürfnisse eines Säuglings großen Streß bedeutet. Dies spiegelt sich auch in einer langfristigen Erhöhung der Ausschüttung von Streßhormonen wider, die eine Schädigung in der Hirnreifung zur Folge haben kann. Auch der körperliche Wachstumsprozeß kann stagnieren, und bereits erworbene motorische, kognitive und psychische Fähigkeiten können wieder verlorengehen. Solche Prozesse sind Ursachen für die Entwicklung von schweren psychopathologischen Auffälligkeiten, die wir auch als Bindungsstörungen diagnostizieren.
Wenn die Fähigkeiten der Eltern zur Förderung der emotionalen Entwicklung ihres Kindes nicht ausreichen oder sich ihr Handeln bzw. Unterlassen schädigend auswirkt, wird oft eine Fremdbetreuung des Kindes in einer Pflege- oder Adoptivfamilie erwogen. Ziel einer solchen Fremdbetreuung ist es, die negativen Folgen der Deprivation durch neue Beziehungserfahrungen mit den Pflege- oder Adoptiveltern zu mildern oder sogar rückgängig zu machen. Auf Pflege- oder Adoptiveltern lastet aber oft ein großer Druck, wenn sie sich einerseits auf die Bindungserwartungen des Pflege- oder Adoptivkindes einlassen müssen, sich andererseits aber auch mit juristischen Fragen, Forderungen nach Besuchskontakten und Umgangsrecht der leiblichen Eltern mit "ihrem" Kind oder mit Planungen für eine Rückführung des Pflegekindes in die Ursprungsfamilie auseinandersetzen müssen.
Bahnbrechende Erkenntnisse zur Frage der psychischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) nach frühen Deprivationserfahrungen und der Möglichkeiten von körperlicher, kognitiver und psychischer Regeneration oder sogar von Heilungsprozessen durch Adoption verdanken wir den jahrelangen Untersuchungen von Prof. Sir Michael Rutter aus London. Während verschiedener Phasen als Kliniker und Forscher hat er einen großen Teil seines enormen Lebenswerkes diesen Fragestellungen gewidmet; in seiner Forschung hat er mittels Längsschnittstudien Ergebnisse gewonnen und publiziert, die für alle Berufsgruppen im Pflege- und Adoptionswesen eine enorme Bereicherung darstellen, weil sie erstmals viele offene Fragen beantworten können. In den vergangenen Jahren haben seine Nachuntersuchungen von Kindern aus rumänischen Waisenhäusern, die von englischen Familien adoptiert worden waren, erneut die wissenschaftliche Diskussion um die Resilienz des kindlichen Gehirns entscheidend angeregt; auf einer soliden Datenbasis aufbauend, wurden so äußerst wichtige Erkenntnisse gewonnen, die Ausgangspunkt für weitere Forschungen auf dem Gebiet der frühen Deprivation von Kindern sind und Fragen zu Möglichkeiten der Entwicklung durch Adoption beantworten. Zu Ehren von Prof. Sir Michael Rutter wurde - von der Internationalen Akademie für Entwicklungs-Rehabilitation und der Theodor-Hellbrügge-Stiftung - am 29. und 30. Oktober 2004 an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München ein internationaler Kongreß mit dem Titel Kinder ohne Bindung: Deprivation, Adoption und Psychotherapie (Children without Attachment: Deprivation, Adoption and Psychotherapy) durchgeführt. Im Rahmen dieses Kongresses wurde Herrn Prof. Sir Michael Rutter als Zeichen der Würdigung für sein außergewöhnliches wissenschaftliches Lebenswerk der "Arnold-Lucius-Gesell"-Preis der Theodor-Hellbrügge-Stiftung verliehen.
Die überaus große Resonanz der Konferenz ermutigte die Veranstalter, die Beiträge mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren, daß sie ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Unser herzlicher Dank gilt Frau Roswitha Schmid, die mit großem Engagement und Zuverlässigkeit die englischsprachigen Beiträge übersetzt hat. Dank der hervorragenden Arbeit von Herrn Thomas Reichert und der Unterstützung von Herrn Prof. Burkhard Schneeweiß konnten die Beiträge rasch editiert werden. Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta sei herzlich gedankt, daß er sich mit großem Engagement für die Herausgabe dieses Buches beim Verlag eingesetzt und für eine rasche Herstellung gesorgt hat.
Ein besonderer Dank gilt der Theodor-Hellbrügge-Stiftung München, mit deren großzügiger finanzieller Unterstützung sowohl die Konferenz als auch die Entstehung dieses Buches realisiert werden konnten.
Wir hoffen, daß dieses Buch allen, die in der Betreuung von Pflege- und Adoptivkindern Sorge tragen - wie etwa Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter, Heilpädagogen, Sprachtherapeuten, Krankengymnasten, Kinderärzte, Juristen, Kinder - und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten sowie Eltern -, zahlreiche Anregungen gibt, die für die tägliche Arbeit fruchtbar aufgegriffen werden können.


Einführung:


Das vorliegende Buch faßt verschiedene Beiträge zusammen, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeiten; es werden sowohl Ergebnisse aus der Tierforschung und der Grundlagenforschung dargestellt sowie anhand von Fallbeispielen die psychotherapeutische Arbeit mit Pflege- oder Adoptivkindern und ihren Eltern veranschaulicht. Abschließend werden juristische Fragestellungen diskutiert.
Der Beitrag von Theodor Hellbrügge gibt einen historischen Überblick über die Anfänge der Deprivationsforschung und eine Einführung in die vielfältigen Symptome des Hospitalismus. Dabei würdigt er sowohl die Pionierarbeiten von Rene Spitz als auch die des Pädiaters Meinhard von Pfaundler. Er berichtet über Ergebnisse von eigenen Untersuchungen zum Deprivationssyndrom sowie von Längsschnittstudien zur kindlichen Entwicklung und zeichnet den Entstehungsweg der Entwicklungs-Rehabilitation nach, wie sie heute in der Sozialpädiatrie verankert ist.
In den Aufsätzen von Stephen Suomi und Kim Bard wird über neue Befunde aus der Tierforschung mit Primaten berichtet. Suomi zeigt anhand seiner Studien, wie sich bei Rhesusaffen das Verhaltensrepertoire aus einem Wechselspiel zwischen Umwelt und Genetik entwickelt. Bard hat ein Interventionsprogramm verwirklicht, das Schimpansenmüttern, die von Menschen aufgezogen werden, hilft, intuitive Fähigkeiten zur Pflege ihres Nachwuchses und zum Aufbau von Bindungsverhalten wieder zu erlernen. Auf der Grundlage der Berichte zur Primatenforschung stellt Mechthild Papoušek umfassend dar, wie sich aus den elterlichen intuitiven Verhaltensbereitschaften die Fähigkeit des Säuglings zur Intersubjektivität entwickelt und welche Konsequenzen sich hieraus für den Aufbau von psychischen Strukturen des Säuglings ergeben.
In einem zentralen Beitrag stellt Sir Michael Rutter die Ergebnisse aus seiner Längsschnittstudie dar, in der Kinder aus den rumänischen Waisenhäusern nach ihrer Adoption in englische Familien immer wieder nachuntersucht wurden. Die hieraus gewonnenen Daten über die körperliche, kognitive und psychische Entwicklung dieser Kinder ermöglichen es ihm, den Zusammenhang zwischen Zeitpunkt und Dauer der Deprivation und ihren schädlichen Einflüssen auf die kindliche Entwicklung zu diskutieren. Auf dieser Basis erörtert er einige Fragen über die möglichen Wirkungen von frühen Deprivationserfahrungen und leitet Hypothesen über mögliche kausale Zusammenhänge zwischen Deprivation, Hirnreifung und psychopathologischen Auffälligkeiten der Kinder ab. Dieser Beitrag wird ergänzt durch die Forschungsergebnisse von Dana Johnson über die schädigenden Auswirkungen von Deprivationserfahrungen auf das Körperwachstum und die möglichen positiven Veränderungen in der körperlichen Entwicklung von Adoptivkindern durch neue, emotional tragende Erfahrungen mit Adoptiveltern.
In der ehemaligen Tschechoslowakei wurde eine große Zahl von Säuglingen zur Pflege in Kinderheimen abgegeben, wo sie unter deprivatorischen Bedingungen aufwuchsen. Durch die Längsschnittstudien von Zdeněk Matějček und Jaróslav Šturma konnten wichtige Hinweise auf solche Faktoren gewonnen werden, die es den Kindern trotz der schwierigen und traumatischen Startbedingungen ermöglichten, eine psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) aufzubauen, und die manche von ihnen vor einer psychisch auffälligen Entwicklung schützen.
Welche differentialdiagnostischen Schwierigkeiten entstehen, wenn man ein Kind mit den Symptomen einer schwerwiegenden Deprivationserfahrung diagnostizieren soll, verdeutlicht der Beitrag von Miri Keren. Anhand eines kasuistischen Beispiels schildert sie sehr anschaulich die nur langsam positiven psychischen Veränderungen eines deprivierten Heimkindes in der Zeit nach seiner Adoption. Die Therapie beruhte auf einem multidimensionalen Behandlungsansatz. Die verschiedenen Diagnosen, die sich unter der Therapie ändern, werden von Keren immer wieder zur Diskussion gestellt.
Therapeutische Hilfestellungen für Pflege- und Adoptivkinder sowie ihre Eltern werden von vielen Seiten immer wieder für notwendig gehalten. Es besteht aber eine große Unsicherheit, wie diese Hilfen genau auszusehen haben und welche Ansätze erfolgversprechend sein könnten. Mit diesen Fragen und den Möglichkeiten sowie Grenzen der psychosozialen und psychotherapeutischen Hilfe beschäftigt sich der Beitrag von Angie Hart. Hier kommt besonders zur Geltung, daß Angie Hart selbst sowohl Adoptivmutter als auch Therapeutin ist. Sie schildert anhand von mehreren eindrucksvollen Fallbeispielen kreative Zugänge zu psychisch sehr belasteten Adoptivkindern. Verschiedenste therapeutische Zugänge zu den traumatisierten Jugendlichen und die Möglichkeit der Einbeziehung von Adoptiveltern sowie von leiblichen Eltern in die Therapie werden von ihr kritisch diskutiert.
Nach einer kurzen Einführung zur Entstehung von Bindungssicherheit und der Bedeutung von traumatischen Erfahrungen für die Entwicklung von Bindungsstörungen diskutiert Karl Heinz Brisch in seinem Beitrag, wie eine bindungsdynamische Sichtweise im Pflege- und Adoptionswesen auf Fragen wie Besuchskontakt, begleiteter Umgang, Rückführung und Psychotherapie angewandt werden kann. Dabei ist es ihm ein Anliegen, sowohl die Risiken als auch die Chancen der Betreuung eines bindungsgestörten Kindes durch Pflege- oder Adoptiveltern zu diskutieren und dies anhand eines Fallbeispiels zu erläutern.
Da richterliche Entscheidungen und sich verändernde Rechtsauffassungen das Kindeswohl erheblich bestimmen können, befaßt sich der abschließende Beitrag des Juristen Ludwig Salgo mit den gesetzlichen Einflüssen auf die Entwicklung von Pflege- und Adoptivkindern sowie von Kindern, die in den Rechtsstreit der Eltern involviert sind. An einzelnen Gerichtsurteilen diskutiert er exemplarisch, wie Entscheidungen gegen das Kindeswohl getroffen wurden und welche Auswirkungen diese für die psychische Situation des einzelnen Kindes haben können. Dabei nimmt er eine sehr bindungsorientierte Position ein, die dem Wohl des Kindes eine übergeordnete Rolle im Rechtsstreit zuschreibt.
Alle Beiträge zeigen somit auf unterschiedlichste Weise, wie sich unser Wissen aus der Tierforschung, der Grundlagenforschung sowie aus den verschiedenen Längsschnittstudien zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen des Deprivationssyndroms und seinen Folgen anwenden läßt. Die klinischen Beiträge zur Problematik der Diagnosestellung und Therapie machen Mut, daß positive Entwicklungen auch bei Kindern mit schwerwiegenden Deprivationserfahrungen und Bindungsstörungen möglich sind, wenn diese Kinder neue "sichere" Bindungserfahrungen etwa mit Pflege- oder Adoptiveltern machen können.


Über die Herausgeber:

Karl Heinz Brisch, Privatdozent, Dr. med. habil, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotherapeutische Medizin sowie Nervenarzt und Psychoanalytiker. Er leitet als Oberarzt die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Ludwig-Maximilians-Universität, in München. Er ist Dozent sowie Lehr- und Kontrollanalytiker am Psychoanalytischen Institut Stuttgart. Sein Forschungsschwerpunkt umfaßt den Bereich der frühkindlichen Entwicklung zu Fragestellungen der Entstehung von Bindungsprozessen und ihren Störungen.

Theodor Hellbrügge, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., em. Prof. für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, ist Pionier und Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde und einer der bedeutendsten Kinderärzte der Gegenwart.



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