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Neuvorstellung zur Übersicht
17.01.2007
Kenneth Gergen: Konstruierte Wirklichkeiten. Eine Hinführung zum sozialen Konstruktionismus
Gergen Wirklichkeiten Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2002

308 S., broschiert

Preis: 27,80 €
ISBN-10: 317017102X
ISBN-13: 978-3170171022
Verlag W. Kohlhammer





Peter Steinkellner, Wien:

Dieses Buch ist ein Highlight für jeden, der sich mit konstruktivistischen Ideen beschäftigt. Kenneth J. Gergen gilt seit seinem Beitrag „The social constructionist movement in modern psychology“ 1985 im "American Psychologist" als führender Vertreter des Sozialen Konstruktionismus. In diesem Buch macht er deutlich, wie der Soziale Konstruktionismus die Welt sieht, nämlich als einen vielstimmigen Chor unterschiedlichster Stimmen. Er betont die Bedeutung von Dialogen und Metaphern für die Konstruktion unserer Welt. Dabei greift er auch als Autor auf die Kraft von Dialogen und Metaphern zurück, um den Leser auf seinen Weg zum Sozialen Konstruktionismus „mitzureißen“. Dialoge werden hier allerdings nicht genutzt, um zu bestimmen, was richtig oder falsch ist. Es geht Gergen nicht darum, Konsens herzustellen und Vielfalt in Einfalt überzuführen, sondern er will ganz im Gegenteil die Vielstimmigkeit der Welt zum Ausdruck bringen.
Der (Radikale) Konstruktivismus ist ja mittlerweile in der deutschsprachigen Wissenschaftswelt sehr bekannt geworden. Autoren wie Watzlawick, Maturana, von Foerster oder von Glasersfeld sind die klingenden Namen in diesem Zusammenhang. Der soziale Konstruktionismus, dessen wichtigster Vertreter Kenneth J. Gergen ist, ist dagegen im deutschsprachigen Raum noch weniger bekannt. Dieses Buch wird aus meiner Sicht zum Popularitätsgewinn und der Bekanntheit des Sozialen Konstruktionismus beitragen.
Der Soziale Konstruktionismus stellt die soziale Eingebundenheit von Wissen und Erfahrung in den Mittelpunkt und steht damit in einem direkten Gegensatz zur Auffassung des Radikalen Konstruktivismus, der von der prinzipiellen Geschlossenheit kognitiver Systeme ausgeht. Nicht das Denken, sondern das Kommunizieren wird in den Mittelpunkt gestellt und eine relationale Sichtweise üblicherweise als individuumsbezogener verstandener Zustände und Prozesse angestrebt. So schreibt bereits Hans Westmeyer im sehr lesenswerten Vorwort dieses Buchs: „Dieser Gegensatz zwischen Radikalem Konstruktivismus und Sozialem Konstruktionismus kommt auch in der Gegenüberstellung von ‚Ich denke, also bin ich’ und ‚Ich kommuniziere, also denke ich’ zum Ausdruck. Die relationale Reinterpretation üblicherweise als individuumsbezogen konstruierter Zustände und Prozesse ist aus meiner Sicht das eigentliche Revolutionäre am Sozialen Konstruktionismus. … Die relationale Sichtweise dessen, was wir gemeinhin unter dem ‚Gegenstand der Psychologie’ verstehen, ist es gerade, was den Sozialen Konstruktionismus in besonderer Weise charakterisiert“ (S. 5). Oder in Gergens eigenen Worten: „Ohne Beziehungen gäbe es keine bedeutungshaltigen Diskurse; und ohne Diskurse gäbe es keine verstehbaren ‚Objekte’ oder ‚Handlungen’ – oder Mittel, um diese in Zweifel zu ziehen. Wir können daher Descartes’ berühmten Satz ersetzen durch Communicamus ergo sum – wir kommunizieren, also bin ich!“ (S. 274).
Der Untertitel des Buches „Eine Hinführung zum sozialen Konstruktionsmus“ ist gewissermaßen auch Programm und Ziel: eine Einführung in die geschichtlichen Wurzeln, die wissenschaftliche Begründung und in die Anwendbarkeit sozialkonstruktivistischer Ideen zu geben. Bereits in einem „Prolog“ (S. 9) definiert Gergen die Vorgehensweise in seinem Buch und seine keineswegs bescheidenen Ziele, „einen Einblick zu geben in ein breites Spektrum aufregender Diskussionen, die gegenwärtig weltweit innerhalb verschiedener Disziplinen der Wissenschaft und Domänen der Kultur geführt werden“ und meint damit vor allem postmoderne und sozialkonstruktionistische Ideen. Gleichzeitig gibt er auch ein wenig Verantwortung an den Leser ab: „Es liegt an Ihnen, meine Worte mit Leben zu erfüllen“ (S. 10). Aus meiner Sicht hat Gergen seine „keineswegs bescheidenen Ziele“ erreicht, dieses Buch habe ich mittlerweile dreimal (das erste Mal am Beginn meiner Dissertation, das zweite Mal als Vorbereitung zum Rigorosum, und jetzt noch mal für diese Rezension!) gelesen, und immer noch finde ich unzählige Anregungen und Ideen.
Der Aufbau des Buches ist sehr leserfreundlich, jedes der neun Kapitel kann als eine Einheit betrachtet werden, mit Anmerkungen und Angaben zu weiterführender Literatur am Ende. Man ist also nicht gezwungen, das Buch sequentiell zu lesen, man kann auch mit bestimmten Kapiteln beginnen und die anderen später nachholen. Damit soll aber nicht angedeutet werden, dass der Aufbau des Buches unbedacht oder beliebig ist. Konsequent wird hier der Leser von Kapitel zu Kapitel zum Sozialen Konstruktionismus hingeführt. Dabei zeigt Gergen „dass der Konstruktionismus die Stimmen der Tradition und der Kritik zu einem Dialog einlädt, ohne eine dieser beiden Richtungen zu bevorzugen. Verpflichtungen bedingen keine Rigidität, ebenso wenig wie Kritik zu einem Verlust der Vergangenheit führt. Vor allem aber beinhalten die konstruktionistischen Dialoge ein enormes Potenzial. Sie bieten uns eine Vielfalt an Möglichkeiten, unsere Zukunft zu gestalten. Dies gilt sowohl für die Wissenschaft als auch für die Arbeitswelt und das Alltagsleben“ (S. 15).
Im ersten Kapitel stellt Gergen traditionelle Sichtweisen von Wissen, Wahrheit und Identität dar und zeigt Kritikpunkte dazu auf. Im zweiten und dritten Kapitel stellt er diesen neue Sichtweisen gegenüber und beschreibt die „Arbeitshypothesen“ des Sozialen Konstruktionismus. Dabei werden gegenwärtige Überzeugungen von Realität, Selbst und Moral reflektiert.  Im vierten und fünften Kapitel werden neue Möglichkeiten des sozialen Zusammenlebens untersucht und eine neue Sicht auf das individuelle Selbst dargestellt – „das individuelle Selbst als ein in vielfältige Beziehungen eingebundenes Wesen“.
Nachdem Gergen mit den vorigen Kapiteln den theoretischen Grundbau der konstruktionistischen Lehre dargestellt hat, widmet er sich nun ab dem Kapitel sechs vermehrt der konstruktionistischen Praxis. Er zeigt unter anderem, wie transformative Dialoge  zu einem Abbau von Konflikten und Feindseligkeiten beitragen können. Die Anwendung sozialkonstruktionistischer Ideen in der Praxis wird im siebenten Kapitel an Hand von Beispielen aus den Bereichen Psychotherapie, Erziehung, Führung und Wissenschaft gezeigt.
Das achte Kapitel beschäftigt sich mit der konstruktionistischen Analyse gesellschaftlicher Bedingungen. Das letzte Kapitel gibt Antworten auf die häufigsten Kritikpunkte am Sozialen Konstruktionismus und beschäftigt sich vor allem mit Themen wie Wahrheit, Objektivität, Wissenschaft, moralischer Relativismus und politischer Aktivismus.
Gergen liefert nicht nur eine gelungene Darstellung des Sozialen Konstruktionismus als die Erkenntnistheorie der Postmoderne, sondern auch einen neuen Blick auf die Dinge des Alltags. So  versucht er die Augen für das Magische des alltäglichen Lebens wieder zu erwecken, wenn er ausführt: „Je mehr wir uns mit dem ’wirklichen Realen’ der physischen oder materiellen Welt begnügen, umso mehr verlieren wir die Wertschätzung für das Magische des alltäglichen Lebens“ (S. 277).
Auch der Kritik am Sozialen Konstruktionismus stellt sich Gergen, indem er die häufigsten kritischen Fragen zum Sozialen Konstruktionismus konstruktionistisch erwidert. Er zeigt, dass der Konstruktionismus nicht versucht, „darüber zu entscheiden, was grundsätzlich real ist und was nicht. Was immer ist, ist einfach. … Jede Festlegung auf das Reale begrenzt das große Meer an Alternativen und jede Unterdrückung alternativer Diskurse schränkt unsere Handlungsmöglichkeiten ein“ (S. 276). Er kommt hierbei zum Schluss: „Sollten wir … nicht skeptisch sein gegenüber Versuchen, die Diskussion durch Verweise auf das ‚Wahre’ und ‚Wirkliche’ zu beenden?“ (S. 278). Es ist aus seiner Sicht sinnvoll, die Sichtweise der Wissenschaft als einen Weg zu einer einzigen Wahrheit aufzugeben. Als Beispiele führt er unter anderem die Physik und die Psychologie an. So wenig, wie es der Physik nicht peinlich sein muss, sowohl die Wellen- als auch die Teilchentheorie des Lichtes zu bewahren, „ebenso wenig muss es für die Psychologie ein Problem sein, dass es mehrere Theorien geistiger Störungen gibt. Vielfältigkeit geht mit Flexibilität einher. Indem wir uns von dem Ideal der ‚einen, einzigen Wahrheit’ trennen, öffnen wir das Tor zu einer weitreichenden Beteiligung an den Dialogen der Wissenschaft“ (S. 296).
Die Ideen dieses Buches sind eine enorme Bereicherung, das Buch ist wissenschaftlich auf hohem Niveau und kann dennoch mitreißen. Fazit: eine Pflichtlektüre nicht nur für alle, die an Konstruktivismus und Konstruktionismus interessiert sein, sondern auch wichtig für Wissenschaftler, um ihr Wissenschaftsverständnis zu reflektieren.  Meine Empfehlung: kaufen, öfters lesen und vor allem: erfüllen Sie die Worte Gergens mit Leben!





Die website von Kenneth Gergen

Kenneth Gergen im Gespräch mit Peter Mattes und Ernst Schraube: "Die 'Oldstream'-Psychologie wird verschwinden wie die Dinosaurier!" (FQS 2004)





Verlagsinformation:

Das Buch lädt ein zu einer intensiven Auseinandersetzung mit postmodernen, konstruktivistischen Positionen, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften bereits fest verankert sind und in zunehmendem Maße auch in den Naturwissenschaften diskutiert werden. In seinem sehr anschaulich und persönlich geschriebenen Buch entwickelt der Autor eine eigene Perspektive und hält ein leidenschaftliches Plädoyer für die Berücksichtigung der Vielstimmigkeit der Welt, die die Grundlage für die Vielfalt menschlicher Konstruktionen in Wissenschaft und Alltag bildet. Gerade im interkulturellen Vergleich wird besonders deutlich, dass Menschen sich und ihre Welt sehr unterschiedlich konstruieren und dass deshalb die Annahme einer einheitlichen Welt für alle nicht weiterführt. Die in dem Buch behandelten Fragen sind von ebenso grundlegender Bedeutung für die Psychologie und ihre Anwendungsgebiete wie für benachbarte Geistes- und Sozialwissenschaften (u.a. Philosophie, Pädagogik, Ethnologie).


Über den Autor:


Prof. Dr. Kenneth J. Gergen ist der weltweit führende soziale Konstruktionist. Er lehrt Sozialpsychologie am Swarthmore College (California, USA).



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