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Neuvorstellung zur Übersicht
28.01.2007
Tillman Allert: Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform
Tilman Allert: Familie de Gruyter, Berlin New York 1998

301 Seiten. Broschur

Preis: 28,95€ / sFr 46,-
ISBN 978-3-11-014860-2
de Gruyter





Oliver König, Köln:

Tisch und Bett, Symbole des Universums von Familie und Paar, werfen lange Schatten auf der Umschlagsillustration, was gleichsam nicht nur den Gegenstand, sondern auch den Umgang mit ihm markiert. Denn es geht um "das Rätsel des Ursprungs", genauer "um die formale Struktur und das dynamische Potential der Kommunikation in der Familie, um die Dauerspannung zwischen der affektiv exklusiven Elterndyade und der Positionierung des Kindes in ihr (VIII)". Die Habilitationsschrift von Tilmann Allert stellt eine der ambitioniertesten Arbeiten aus der (Familien)Soziologie der letzten Jahre dar und weicht stark ab von der mitunter allzu großen Routine "eines entweder postmodern lässigen oder steril aufgeregten Geredes vom Ende der Familie" (IX). Im engeren Sinne geht es um die Dyade als der strukturellen Achse des Systems Familie, d.h. um die "Affektivität in der Zweierbeziehung von Mann und Frau" (213), die immer auf ein "dynamisches Potential des Dritten" (214) ausgerichtet ist, sei es ein Kind, ein "Außen", gegen das sich das Paar abgrenzt, oder ein anderes Gemeinsamkeitssymbol. Das in komplexe Wechselwirkungen eingebundene Handeln in diffusen, gefühlsbestimmten Sozialbeziehungen stellt die "Basisinstitution der Entstehung von Formen menschlicher Gegenseitigkeit" (280) dar, und eine derart reformulierte Familiensoziologie verlangt eine (erneute) Anbindung an die allgemeine Soziologie, was Allert beeindruckend einzulösen vermag. "Die Exposition des Materials hat, was die theoretischen Grundlagen angeht, in einer Oktave Platz, die mit den Namen Freud, Lévi-Strauss, Lepsius, Luhmann, Oevermann, Parsons, Simmel und Weber, grob perspektivisch bezeichnet sei" (IX). Zugleich steht diese Ankündigung für eine gelegentliche theoretische Überladung einerseits und eine ästhetisierende Weltsicht andererseits.
Im einleitenden Kapitel über "die Familie als soziologisches Problem" verdeutlicht Allert den Theorieverlust, den die Familiensoziologie erfahren hat durch die Ausdifferenzierung des Faches in Subdisziplinen, einer Akzentverschiebung durch die "Durchsetzung des Frauenthemas", sowie die Abkoppelung von Anthropologie, Ethnologie und Psychoanalyse. Statt einer "überstürzter Annäherung an die Familientherapie und systemische Familienanalyse" (12) schlägt er eine Kombination von historischer und strukturtheoretischer Perspektive vor, und einen Anschluss an die allgemeine soziologische Theorie.
Den empirischen Weg, den er dazu wählt, ist die Kasuistik als "die Heimat der Theorie" (12). Hierbei bezieht er sich vor allem auf die objektive Hermeneutik von Ulrich Oevermann, zu dessen Umfeld er gezählt werden kann. Diese Methode ist zwar, ebenso wie die Fallanalyse insgesamt, in der qualitativ ausgerichteten Soziologie inzwischen unangefochten, hat aber ebenso wie diese ihre Marginalität (noch) nicht ganz abstreifen können, was sich auch in den gängigen Lehrbüchern zur qualitativen Sozialforschung in Form von wissenschaftlichen Legitimationsbemühungen zeigt, die ungewollt auf den Maßstab verweisen, von dem sie sich abzugrenzen versuchen.
Das folgende methodologisch-methodische Kapitel breitet die zentralen Prinzipien seiner Vorgehensweise aus, die Orientierung an den "Text als Datum" bzw. als Ausdruck einer "symbolisch konstituierten Weltauffassung", die in Binnen- wie Beobachterperspektive zu rekonstruieren ist, um in der "Gegenüberstellung von Möglichkeit und Wirklichkeit" (18) eines jeweiligen biographischen Verlaufs die zugrundeliegenden Strukturgesetzte sichtbar zu machen. Dabei spielen die objektiven Daten der Lebensgeschichte, Milieu- und Familienkonstellation bei Geburt, Geschwisterreihenfolge und Geschlechterstatus ebenso eine Rolle wie spätere Statuspassagen und Karrierestationen, in denen sich eine Reihe von lebenspraktischen Entscheidungen manifestieren. Und im Unterschied zur familientherapeutischen Vorgehensweise, deren "beeindruckende Fallsensibilität" (5) hervorgehoben wird, "rekonstruieren wir eine Lebensgeschichte als typisiert, und zwar nicht erst am Ende der Materialsammlung, sondern von Anfang an" (25).
Ausgeführt wird dieses Programm an drei verschiedenen Fällen aus dem bürgerlichen Milieu, sowie zwei Fällen aus dem kleinbürgerlich-(sub)proletarischen Milieu mit zum Teil krassen Desorganisationserscheinungen. Alle Fälle haben eine gewisse "Prominenz" aufzuweisen, allerdings unterschiedlicher Art.  Für das Bürgertum stehen zwei "Heroen" aus den Human- und Naturwissenschaften, Max Weber mit seiner Frau Marianne und Albert Einstein mit seiner ersten Frau Mileva und seiner zweiten Frau Elsa, sowie als Dritter der Schriftsteller Walter Kempowski, der seine Familiengeschichte in einem Romanzyklus verarbeitet hat. Auch wenn es in allen drei Fällen um die Geschichte des Paares bzw. der (Herkunfts)Familie geht, geben die männlichen Biographien den Ton an.
Die Ehe der Webers steht für "Typus und Individualgestalt von affektiver Solidarität in der Gattenbeziehung" im besonderen sozialisatorischen Milieu des Protestantismus, das zu einem zentralen Analysegegenstand von Max Weber werden sollte. Die kinderlose bleibende Ehe der Webers, die als Vetter und Großcousine innerhalb des verwandschaftlichen Netzwerkes heiraten, ist von einem distanzierten Verhältnis zu Sexualität und affektiver Spontanität gekennzeichnet, der die methodische Kontrolle der Lebensführung und ein hoher Selbstreflexionszwang entgegengesetzt wird. Die Kehrseite davon ist eine immer wieder ausbrechende depressive Arbeitshemmung Webers und zwei außereheliche Liebesbeziehungen. Allert setzt die lebensgeschichtlichen Daten in Zusammenhang mit dem Werk Max Webers, der als ein Begründer des Faches gilt, zugleich aber "Liebe, Ehe, Familie und Sozialisation ... systematisch unterbelichtete bzw. kategorial falsch erfasste" (63), während seine ebenfalls wissenschaftlich ausgewiesene Frau "eine sublime Theorie der Intimität entwirft" (64). So scheint der (deutschen) Soziologie eine spezifische Blindheit bzw. Abstinenz gegenüber Gefühl und Intimität in die Wiege gelegt zu sein, mit Ausnahme des lange Zeit randständigen Georg Simmel, den Allert dann im theoretischen Teil ausführlich zu Wort kommen läßt.
Im zweiten Fall wird die "Vererbung sozialer Marginalität im deutsch-jüdischen Milieu" anhand der im schwäbischen Milieu angesiedelten Familie Albert Einsteins aufgezeigt. Auffällig ist bei Einstein seine "legendäre moralische Radikalität" und seine gleichzeitige "relative Blindheit gegenüber den Normen der Gegenseitigkeit im eigenen Familienverband" (76). In erste Ehe heiratet er, gegen den Wunsch der Herkunftsfamilie, die serbische Studienkollegin Mileva Maric, die als die bessere Mathematikerin galt und deren nichtgenannte Mitautorenschaft an der Relativitätstheorie jüngst die feministische Forschung eingeklagt hat. Aus der Beziehung gehen drei Kinder hervor, von denen die erste unehelich geborene Tochter zur Adoption weggegeben wird. Ehe und Kinder bedeuten für Mileva das Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere und untergraben dabei paradoxer Weise auch das Fundament der Beziehung, die anfangs auf intellektueller Kooperation aufgebaut war. Die zweite Ehe mit der Cousine führt Einstein dann wieder in sein Herkunftsmilieu zurück.
Die dritte Fallgeschichte, auf die ich aus Platzgründen nicht eingehen will, schildert die Geschichte der Familie Kempowski als Abstieg aus dem Wirtschaftsbürgertum und einer intellektuellen Sublimierung der damit verbundenen Marginalität in der kulturellen Tätigkeit des Schriftstellers.
Während die ersten drei Fallanalysen sprachlich manchmal sehr aufgeladen sind, so ist der Sprachduktus der nächsten zwei Analysen klarer, und die Darstellung rückt aufgrund der starken Desorganisationserscheinungen in den beschriebenen Familien in die Nähe zur Familientherapie, womit sich allerdings ungewollt (und unreflektiert) auf der Ebene der Darstellung die Bedeutung von Schichtunterschieden nochmals verdoppelt. Im ersten Fall handelt es sich um eine Flüchtlingsfamilie aus dem bäuerliche Milieu des Sudetenlandes, in der es zu einem multiplen Inzest kommt, erst des Vaters mit seinen Töchtern, dann der Brüder mit ihren Schwestern. Die Analyse der Familiensituation, historisch, strukturell, dynamisch und auf der Verhaltensebene, die soziodynamische und psychodynamische Mechanismen in ihrer gegenseitigen Verflechtung sichtbar macht, stellt vieles, was in der familientherapeutischen Literatur zu diesem Thema zu lesen ist, in den Schatten.
Im folgenden Fall, der Geschichte eines "jugendlichen Autocrashers", dessen Familie früh in die Zuständigkeit professioneller Hilfesysteme gerät, führt dies bei dem betroffenen Jungen zu einer institutionellen Karriere, in deren Verlauf sich die familiäre Dynamik nochmals zwischen den verschiedenen Beteiligten aus der Sozialen Arbeit wiederholt.
In den folgenden zwei Kapitel von ca. 65 Seiten wird nun, in nur lockerer Anbindung an die Fallgeschichten, ein vielschichtiges strukturtheoretisches Modell formuliert, das um das zentrale Handlungsproblem jeden Paares aufgebaut ist. "Jede Intimbeziehung steht unter dem Zwang, die Differenz der Personen zu kommunizieren, ohne Gemeinsamkeit aufzugeben und die Gemeinsamkeit der Personen zu kommunizieren ohne Verzicht auf Differenz" (223). Das Zusammenspiel von Fremdheit und Vertrautheit, angetrieben vom biographischen Material, lässt die "Liebe als Einheit einer Differenz" (224) zu einer diffizilen Gleichgewichtskommunikation werden. Das Konzept wird dann vorwärtsgetrieben zur Erweiterung der Dyade zur Triade, der eigentlichen Familiengründung, und den daran anschließenden Bildungsprozessen in der Triade, um dann nochmals Besonderheiten der deutschen historisch und sozialstrukturell vorgegebenen Randbedingungen zu diskutieren.
Abschließend wird nochmals die Anbindung an die Allgemeine Soziologie diskutiert und hier wird, wie schon im theoretischen Teil, nochmals ein zentrales Problem deutlich, das Allert zwar anspricht, aber nicht wirklich mitdenkt. Der "reine Typus" der Dyade, den Allert strukturtheoretisch herausarbeitet, lässt die Liebe des Paares zu "einem exemplarischen sittlichen Verhältnis unter den Menschen" (236) werden. Diese und andere Wendungen erinnern in Sprachwahl und Tonfall unausweichlich an bildungsbürgerlich geprägte Bilder. Damit ist genau die Schwierigkeit benannt, die die Familiensoziologie seit den 70er Jahren von der allgemeinen Soziologie hat abrücken lassen, da sich das Allgemeine bei genauerem Hinsehen allzu schnell als partikulär herausstellte, genauer gesagt als ökonomisches und soziales Privileg, das nur völlig theoretisch allen Menschen in gleicher Weise zugesprochen werden kann, was von Pierre Bourdieu - dessen Arbeiten zur Familie bezeichnenderweise völlig ausgeblendet bleiben, obwohl sie sich an mancher Stelle geradezu aufdrängen - als "scholastische Sicht" bezeichnet wird. Zugleich machen auch Entwicklungen in der Familientherapie bzw. der Berufsgruppe der Psychotherapeuten (z.B. das "Hellinger-Phänomen") darauf aufmerksam, dass im kommunikationstheoretischen Vakuum so einige Blumen blühen, denen eine (allgemein)soziologische Düngung gut täte. Daß die Soziologie hier einiges zu bieten hat, beweist die Arbeit von Allert, die mehr als eine einmalige Lektüre bedarf, es aber auch wert ist.
(Erstveröffentlicht in Familiendynamik 4/1999)





Die etwas magere website von Tilman Allert





Über den Autor:

Tilman Allert, geboren 1947, ist Professor für Soziologie mit Forschungsschwerpunkt in der Mikrosoziologie und Familiensoziologie an der Universität Frankfurt am Main.
Jüngste Buchpublikation: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste, 2005 bei Eichborn. Für seine Habilitationsschrift Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, erschienen 1998 bei de Gruyter, erhielt Allert 1999 den »Christa-Hoffmann-Riem-Preis« für qualitative Sozialforschung.



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