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14.11.2005
Hermann Scheuerer-Englisch, Gerhard Suess, Walter-Karl P. Pfeifer (Hrsg.): Wege zur Sicherheit. Bindungswissen in Diagnostik und Intervention
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Psychosozial-Verlag
330 Seiten, Broschur, 2003
€ 29,90
ISBN 3-89806-254-3 |
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Psychosozial-Verlag Gießen
Kai Brüggemann, Bonn:
Der vorliegende Sammelband von Scheuerer-Englisch, Suess und Pfeifer
beinhaltet Beiträge der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung und ist
der dritte Band einer fortlaufenden Reihe, die den Austausch zwischen
Bindungsforschung und Jugendhilfepraxis anregen soll. Er ist unterteilt
in bindungsbezogene Interventionen der frühen Kindheit und im
Vorschulalter (Teil 1) sowie der mittleren Kindheit bis zum
Erwachsenenalter (Teil 2). Teil 3 handelt von Bindungsdiagnostik in der
Kindheit, das Abschlusskapitel über die Bewältigung von Trauer wird von
einer therapeutischen Geschichte illustriert.
Beim Interventionsprogramm „Circle of Security“ von Robert S. Marvin
und Kollegen handelt es sich um ein Gruppenprogramm für 6 Eltern von
1-4jährigen Kindern, das sich über 20 wöchentliche Sitzungen erstreckt.
Hierbei werden die Eltern-Kind-Interaktionen videografiert und die
entsprechenden Ausschnitte in der Gruppe primär an gelingenden Stellen
besprochen. Die Ideen von Bowlby und Ainsworth werden
benutzerfreundlich in einer Grafik dargestellt als Kreis der
Sicherheit: Die obere Hälfte des Kreises stellt die sichere Basis dar,
von der aus das Kind seinem Erkundungsdrang nachgehen kann, die untere
Hälfte den sicheren Hafen, wo das Kind Trost und Halt findet. Eine
weitere Grafik zeigt einen Kreis begrenzter Sicherheit, hier sind
kindliche Reaktionen den beiden Kreishälften zugeordnet, die für ein
unsicheres Bindungsmodell stehen. Der Fokus der Intervention liegt nun
darauf, den Eltern zu verdeutlichen, dass kindliches Bindungsverhalten
bei allen Eltern Gefühle auslöst; diese können auch schmerzhaft sein
und sogar ein Warnsignal von Gefahr werden. Müssen Eltern diese
emotionalen Zustände abwehren, da sie für sie selbst sonst zu
schmerzhaft werden, entstehen „Kreise begrenzter Sicherheit“, etwa
indem der Wunsch des Kindes nach Nähe oder Trost zurückgewiesen wird.
Die Eltern sollen in dem Programm lernen, anders als mit ihrem
gewohnten Muster (wie z.B. Abwehr) auf kindliche Bedürfnisse zu
reagieren und dabei zunehmend feinfühliger werden, indem sie
Fehlinterpretationen kindlicher Signale aufgeben. Das therapeutische
Vorgehen in einer Elterngruppe richtet sich nach den
Bindungserfahrungen der einzelnen Teilnehmer, ist also auf jedes
Bindungsmuster einer Eltern-Kind-Dyade zugeschnitten. Schließlich heben
die Autoren noch hervor, dass der Fokus der Intervention auf der
erwachsenen Bezugsperson liegt – nicht weil diese die
Hauptverantwortung für das Gelingen der Eltern-Kind-Interaktion trage,
sondern weil sie im Zweifelsfall immer mehr Möglichkeiten und
Freiheitsgrade einer Veränderung hat als das Kind.
Das Programm wird gegenwärtig auch empirisch etwa durch Vergleiche mit
anderen Frühinterventionsprogrammen durchgeführt werden (vgl. hierzu
auch die sehr lesenswerte homepage des Programms, die darüber hinaus
zahlreiche Materialien zum downloaden enthält:
www.circleofsecurity.org).
George Downing gibt einen Überblick über die
Video-Mikroanalyse-Therapie, bei der 5-20 min einer
Eltern-Kind-Interaktion aufgenommen und gemeinsam betrachtet werden. Er
betont, dass sowohl gelungene als auch negative Beispiele mit den
Eltern hinterher analysiert werden könnten, dies allerdings immer so,
dass Therapeut und Eltern sich darüber verständigen können, wie eine
gelungene Lösung aussehen kann. Ein Schwerpunkt liegt auf der
Bewusstmachung von Körperhaltungen und -erfahrungen der Eltern in
Interaktion mit ihrem Kind. Damit sollen die Eltern erfahren, wie sie
etwas mit dem Kind machen, also Zugang zum prozeduralen Gedächtnis
bekommen, z.B. wie sie bei einer bestimmte Handlung (Füttern)
angespannt sind. Dies kann den Eltern in der Mikroanalyse besonders gut
sichtbar gemacht werden. Fortschritte können so leichter erzielt
werden, als wenn man explizit darüber spreche, was sie mit dem Kind
machen (dies entspräche dem Abruf von expliziten Wissen aus dem
deklarativen Gedächtnis). Er lässt die Eltern andere, unterschwellig
bereits verfügbare Körperstrategien in der jeweiligen Situation mit dem
Kind ausprobieren. Downing vergleicht dies mit dem Vorgehen in der
Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Therapie von Mechthild Papousek: Darin wird
die Blockade „intuitiver elterlicher Fähigkeiten“, die durch belastende
Erfahrungen oder akute Stressoren der Eltern entstehen kann und zu
einem Entgleisen in der Eltern-Kind-Interaktion führen kann,
fokussiert. Bereits vorhandene Fähigkeiten der Eltern sollen in dieser
Therapie sichtbar gemacht und wieder aktiviert werden. Allerdings ist
der Begriff der Intuition bei Papousek wesentlich weiter gefasst und
umfasst neben Körperhaltungen auch kognitive und affektive Anteile.
Carola Bindt schreibt über die Vorläufer der Bindung in der frühen
Mutter-Kind-Beziehung und hebt dabei vor allem auf den Begriff der
Mutterschaftskonstellation von Daniel Stern ab. Demnach setzt sich eine
Mutter nach der Geburt zum einen damit auseinander, wie gut sie als
Mutter ihr Kind versorgen kann, und zum anderen, wie es ihr als Tochter
mit ihrer Mutter erging. Denn ein wesentlicher Prädiktor für die
Bindung zum Kind im ersten Lebensjahr ist die Art und Weise, wie
kohärent und emotional vielschichtig (d.h. weder
idealisierend-abwehrend noch anklagend-verstrickt) die Mutter über
diese frühen eigenen Kindheitserlebnisse berichten kann. In ihren
Fallbeispielen geht es um Mütter, die ihren Säuglingen Absichten
unterstellen, die sie von der Entwicklung her noch gar nicht haben
können, wie z.B. „mein Kind will mich quälen“. Diese Phantasien tragen
dazu bei, dass entgleiste Mutter-Kind-Interaktionen, wie sie auch in
sicheren Bindungsmustern auftauchen, noch aufrechterhalten werden,
statt wieder in eine gemeinsame harmonische Abstimmung zu münden.
Eine Fehlabstimmung zwischen Mutter und Kind, wie sie oft bei
Schreibabies zu finden ist, könne meist zügig über eine
entwicklungsbezogene Beratung abgewendet werden, indem die Eltern
informiert werden über Aufgaben einer Bindungsperson wie z.B. Erregung
und Aktivität des Säuglings zu regulieren und ihm nach und nach zu
helfen, eigene Stressbewältigungsmittel zu finden. Dies helfe jedoch
nicht mehr, wenn gravierende Fehlinterpretationen seitens der
Bindungspersonen zum Verhalten des Säuglings bestehen. Hier interagiere
die Mutter mit einem „Gespenst“ aus ihrer eigenen Kindheit, so dass man
die Kindheitserfahrungen der Mutter unter psychodynamischen
Gesichtspnkten bearbeiten müsse, um die Projektionen zu beheben.
Gerhard Suess macht deutlich, dass wissenschaftliche Studien über
Entwicklungsverläufe allzu häufig mit Hilfe von Zustandskategorien
ausgewertet werden, anstatt dabei den Prozeßcharakter der untersuchten
Entwicklungen zu beachten. Ein Kind hat bspw. innerhalb seiner
Bindungsentwicklung eine spezifische Vorstellung davon bekommen, wie es
mit anderen Menschen in Beziehung tritt, und hat dies im sog.
Internalen Arbeitsmodell abgespeichert. Es muss dann im Laufe seiner
weiteren sozialen Entwicklung lernen, seine Beziehungserfahrungen und
damit sein Arbeitsmodell je nach anstehender Entwicklungsaufgabe
(Kindergarten-Eintritt, peer group, Einschulung, Intimität in der
Pubertät) ständig an Erfordernisse der Umwelt anzupassen. Dies
bedeutet, dass man es beim Thema Bindung mit komplexen Transaktionen
zwischen Individuum, Umwelt und Zeit zu tun hat, was in statischen
Zustandsbegriffen nicht hinreichend abzubilden ist.
Ferner bildeten die Ergebnisse solcher Gruppenstudien die Komplexität
von Verläufen ungenügend ab und könnten auch von daher wenig für die
praktische Fallarbeit sensibilisieren, weil sich die Ergebnisse an
statistischen Maßen wie dem Mittelwert orientieren. Ausnahmen, mit
denen der Praktiker eigentlich ständig zu tun hat, werden dabei
ausgeklammert. Daher steht auch ein Fallbeispiel im Mittelpunkt des
Beitrags: Hierin berichtet der Autor von einer Beratung einer Mutter
mit einem desorganisiert-gebundenen Kind. Als Therapeut dient er der
Mutter als sichere Basis, von der aus sie neue Erziehungsformen
erkundet. Gleichzeitig steht er ihr als ein Modell sicherer Basis zur
Verfügung, auch wenn dabei dem Therapeut selbst Fehler unterlaufen –
analog den Fehlabstimmungen in der Eltern-Kind-Interaktion. Wie auch
Bindt betont Suess, ein wesentliches Merkmal sicherer Bindung gegenüber
Erziehungsfehlern der eigenen Eltern sei eine Haltung, die diese Fehler
in der eigenen Rückerinnerung nicht leugnet und von Nachsicht und
Versöhnung geprägt sei.
Robert S. Marvin beschreibt in einem weiteren Beitrag Grundlagen von
entwicklungspsychopathologischen Interventionen, die auf der
Bindungstheorie und der Familiensystemtheorie beruhen. Er geht davon
aus, dass pathologischen und gesunden Entwicklungsverläufen die
gleichen Prinzipien zugrundeliegen. Somit kann der Therapeut eine
Störung zwar als Abweichung vom günstigeren Pfad sehen, muss aber nicht
von einem andersartigen Verlauf ausgehen, der eigenen Gesetzmäßigkeiten
unterliegt. Symptome können somit umgedeutet werden als
Bewältigungsversuch eines Individuums zu einem früheren Zeitpunkt: Ein
unsicheres Bindungsmuster kann als kompetente Strategie gesehen werden,
unter ungünstiger Bedingung die Nähe zur Bindungsperson zu erhalten.
Kann man das dem Klienten bewusst machen, wird ihm auch klar, dass ihm
dieses einst adaptive Muster jetzt nicht mehr hilft, da sich sein
Lebenskontext geändert hat, und man kann ihm helfen, ein neues Muster
aufzubauen. Mit dieser systemischen Sichtweise gelinge es eher, ein
Interventionsziel festzulegen, was wieder in eine optimalere
Entwicklungsrichtung mündet, als wenn man von einem gänzlich anders
gearteten Krankheitsprozess ausginge.
Marvin stellt ferner fest, dass verschiedene Entwicklungsverläufe zum
gleichen späteren Störungsbild führen können: Eine aktuell beobachtbare
Verhaltensstörung wie das ADS kann sowohl aus einer sehr frühen
Entwicklungsstufe des Kindes (Regulationsstörung) hervorgegangen sein
wie auch aus einer sich viel später entwickelnden
Eltern-Kind-Interaktionsstörung. Und umgekehrt kann für eine Reihe
phänotypisch verschiedener Störungen der gleiche ätiologische Faktor,
nämlich Störungen im Bindungs-Fürsorgemuster verantwortlich gemacht
werden. Daher könne eine Vielzahl von Störungen im Kindes- und
Jugendalter mit der gleichen Intervention behandelt werden, wie etwa
bei chronischem Schmerz: Typische Reaktionsweisen einer Familie auf
solch eine Erkrankung sind die Entlastung des Kindes von der Übernahme
von Pflichten und Aufgaben, was zu einer Infantilisierung führen kann,
wenn sie nicht an den Kontext (d.h. den Genesungsprozess des Kindes)
angepasst wird. Hier wird angenommen, dass es dem Kind in einer
bestimmten Entwicklungsphase der Familie nicht anders als etwa durch
Schmerzausdruck möglich ist, Fürsorge zu aktivieren und Bindung
herzustellen. Auch Zuschreibung von Kompetenz an die Ärzte und Verlust
der „Führungsmacht“ im Elternsubsystem unterbrechen normale
Familienmuster und können zu einer deutlichen Interaktionsstörung
führen. Anhand einer Behandlungsstudie zum pädiatrisch psychogenen
Schmerz stellt der Autor zu diesen Problemen verschiedene
Interventionen vor. Das Kind wird wieder in Aufträge und Pflichten
eingebunden, und es wird davon entlastet, Bindung über Schmerzausdruck
herzustellen. Die übrigen Familienmitglieder sollen so mit dem
Index-Patienten umgehen, als wäre er nicht krank, Eltern werden in
ihrer Eltern- und auch Paarrolle wieder gestärkt. Bei
entwicklungspsychopathologischen Interventionen sind also stets
bindungs- und systemische Aspekte zu beachten: Der Therapeut muss die
spezifischen Bindungs-Fürsorgemuster der Familie kennen; in seiner
Intervention kann er sich aber auf aktuell anstehende Probleme (z.B.
Aushandlungskonflikte zwischen Eltern und Pubertierendem) konzentrieren
und muss sich nicht auf frühe Mutter-Kind-Muster beziehen.
Fabienne Becker-Stoll zeigt anhand des Begriffspaares Autonomie vs.
Verbundenheit auf, welche Relevanz bindungsbezogene Interventionen bei
Essstörungen im Jugendalter haben. Sie zieht eine Parallele zwischen
Bindungs- und Autonomieforschung, was zunächst kontraintuitiv wirkt;
denn Ziel von Bindungsverhalten ist ja, Nähe herzustellen, während
Autonomie die Selbstregulation eines Individuums betrifft. Deutlich
wird die Parallele, wenn man bedenkt, dass sichere Bindung erst
Voraussetzung für Exploration ist und analog dazu eben autonomes
Verhalten erst ermöglicht, sich bei Bedarf an Bezugspersonen zu wenden
und um Hilfe zu suchen; somit ist Autonomie eine Voraussetzung für
Verbundenheit. Eine weitere Ähnlichkeit beider Forschungsrichtungen
liegt dann darin, dass es sowohl in der Bindungs- wie der
Autonomieentwicklung um die Zunahme von Kompetenz geht: Die in der
Bindungsentwicklung erworbenen Internalen Arbeitsmodelle bestimmen
wesentlich die soziale Kompetenz ab dem Kindergartenalter, und
autonomieförderliches Elternverhalten bestimmt späteres
Selbstwertgefühl, Anpassung im Jugendlichenalter und Zufriedenheit in
Partnerschaften
In einer eigenen Studie zur Mutter-Kind-Interaktion Magersüchtiger
berichtet Becker-Stoll dann von einem oftmals feindseligen,
destruktiven Gesprächsstil der Patientinnen. Dabei ließen sich
verschiedene Unterformen von Störungen in der Autonomie und
Verbundenheit der Patientinnen finden, das Bild einer globalen
Autonomiestörung als Ursache ließ sich jedoch nicht bestätigen. Somit
sei ein differenzierterer Blick auf die Interaktionsmuster bei der
Behandlung nötig, was u.a. anhand zwei verschiedener Gesprächsaufgaben
auch im klinischen Alltag möglich sei: Beim „Streitgespräch“ werden
Mutter und Tochter gebeten, sich über häufige alltägliche Streitpunkte
auseinanderzusetzen, die sie zuvor festgelegt haben. Bei der
„Urlaubsplanung“ sollen beide einen gemeinsamen, spontanen Kurzurlaub
fiktiv planen. Beide Aufgaben sollen Interaktionsprozesse der Autonomie
bzw. Verbundenheit aktivieren. Durch Beobachtung solcher Interaktionen
können mögliche Ressourcen in einer zunächst hochgradig belastet
wirkenden Beziehung festgestellt werden, wenn z.B. immerhin versucht
wird, Meinungen und Ziele abzustecken, es aber bei der Aushandlung
derselben ständig zu Missverständnissen kommt. Gleichzeitig können
Interaktionstypen unterschieden werden (z.B,. passiv-vermeidend,
konstruktiv oder aggressiv-feindselig) und Interventionen darauf
abgestimmt werden.
Susanne Hauser stellt den Nutzen der Bindungstheorie für die
analytische Therapie von Jugendlichen dar. In einem Alter, in dem die
Entwicklungsaufgabe in der Herstellung von Intimität besteht, bekommen
die frühen Bindungserfahrungen eine neue Bedeutung. Beispielsweise
erschwert ein unsicher-dismissiver Bindungsstil im Jugendlichenalter
(der einem unsicher-meidenden Bindungsverhalten im Kleinkindalter
entspricht) die Bereitschaft zur Öffnung in einer Partnerschaft: Ein
äußerlich selbständig und abgeklärt wirkender Eindruck entsteht, da der
Jugendliche als Kind gelernt hat, Gefühle gegenüber den
Bindungspersonen nicht mitzuteilen, was das Zulassen von Intimität in
der Pubertät und Adoleszenz erschwert. Noch gravierender als die
Zurückweisung von Bindungswünschen wirkt sich der Verlust eines
Elternteils aus auf die Fähigkeit, Bindungen einzugehen und somit
Freundschaften zu schließen, wie Fallbeispiele zeigen.
Die Autorin stellt Ursachen für Entwicklungskrisen im Jugendalter aus
verschiedenen Sichtweisen gegenüber: Die Psychoanalyse sieht eine
fehlende Integration des sich verändernden Körpers und der sexuellen
Reifung in das Selbst als pathogenetisch an, die Bindungstheorie
markiert hier eine fehlende Fähigkeit zur Mentalisierung, also über die
emotionale Verfassung von sich oder anderen reflektieren und
kommunizieren zu können. Das bedeutet auch, sich von seinem Erleben
distanzieren zu können. Wenn Jugendliche in einer Zeit, in der
Emotionalität hochbedeutend wird, keine feinfühligen Eltern zur
Verfügung haben, die ihnen ihre Affekte spiegeln können, kann dies zu
einer Entwicklungskrise führen. Vor diesem bindungstheoretischen
Hintergrund leitet die Autorin folgendes für die Psychotherapie mit
Jugendlichen ab: Den oft negativen bis destruktiven Tendenzen
Jugendlicher muss vom Therapeuten im Sinne eines Containment begegnet
werden, er muss als sichere Basis zur Verfügung stehen. Hauptschauplatz
einer thematischen Durcharbeitung in der Analyse sind dann die
peer-Beziehungen, in denen sich ja das Thema der Intimität aktuell
stellt. Bei stabiler Beziehung lassen sich dann sensiblere Themen wie
Bindungserfahrungen mit dem Therapeuten selbst und mit den Eltern
besprechen. Ziel in einer solchen haltenden therapeutischen Beziehung
ist die Neubewertung von früheren Bindungserfahrungen und die
Erfahrung, aktuell neue Bindungen einzugehen, was zu einer
Neuorganisation der Bindungrepräsentation führen sollte. Hierbei müssen
klare Beziehungsangebote seitens des Therapeuten an den Jugendlichen
erfolgen, was einer Modifikation der analytischen Behandlungsmethode
(Abstinenz) durch die Bindungstheorie entspricht. Ein Fallbeispiel
eines delinquenten Jugendlichen zeigt einen solchen Zugang über
aktuelle Bindungsbeziehungen (nämlich zu Gleichaltrigen und der
Freundin) auf und wie der Jugendliche dadurch im therapeutischen
Gespräch Gefühle mehr zulassen und besser kommunizieren kann – statt
über Aggressivität Selbstsicherheit und Kontrolle zu erlangen.
Elisabeth Fremmer-Bombik zeigt anhand eines Fallbeispiels, dass die
Stabilität des Betreuungsangebots der Kinder- und Jugendpsychiatrie und
der Jugendhilfe maßgeblich entscheidend dafür ist, ob korrigierende
Bindungserfahrungen i.S. Bowlbys möglich werden. Im Fallbeispiel
durchläuft ein Mädchen ab dem 18. Lebensmonat mehrere
Jugendhilfe-Einrichtungen und –Maßnahmen, von der Pflegefamilie über
Heim und Kinder- und Jugenpsychiatrie bis zur Einzelbetreuung und
Wohngruppe, erlebt z.T. weitere Traumatisierungen, z.T. korrigierende
Bindungserfahrungen. Deutlich wird daran, dass das Mädchen durch den
häufigen Wechsel zwar verschiedene Bindungserfahrungen macht, diese
aber nicht in eine stabile Repräsentation integrieren kann, weil sich
keine bewährt hat, sondern ständige Anpassung an wechselnde Umwelten
und Anforderungen erforderlich sind – die Unberechenbarkeit der
leiblichen Eltern in der frühesten Kindheit wird somit institutionell
re-inszeniert. Nach dieser langwährenden unsteten Betreuung war dann
eine Einrichtung hilfreich, in der das Personal besonders die
Nähe-Distanz-Regulation des Mädchens nicht überstrapazierte und klare
Regeln des sozialen Miteinanders auf der Station durchsetzte.
Im letzten Teil des Buches werden drei Instrumente zur Erfassung der
Bindungsorganisation von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter
vorgestellt, das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GES-B),
der Separation Anxiety Test (SAT) und das Bindungsinterview für die
späte Kindheit (BISK). Mit allen Verfahren lassen sich Kinder in die
vier Bindungsklassifikationen einteilen. Sie erfordern jedoch eine
Ausbildung in der Klassifikation und sind wegen des Aufwandes und
Umfangs nicht nur der Erhebung, sondern auch der Auswertung eher für
den Forschungsbereich praktikabel.
Beim GES-B werden den Kindern 5 Geschichtenanfänge mit Puppen
vorgespielt, die die Kinder weiterspielen sollen. Dabei handelt es sich
um Anfänge, die das Bindungssystem der Kinder aktivieren sollen, wie
z.B. ein Kind, das sich am Knie verletzt hat, Trennung von den Eltern
und Wiedervereinigung. Beim SAT werden Kindern 8 Bilder von Jungen oder
Mädchen gezeigt, die von ihren Bezugspersonen getrennt sind (z.B.
Mutter wird auf einer Trage in einen Notarztwagen gebracht). Hierzu
werden dem Kind Fragen gestellt, was seiner Meinung nach die Person auf
dem Bild wohl denkt und fühlt und wie die Geschichte weitergeht.
Anschließend wird nach ähnlichen eigenen Erfahrungen des Kindes gefragt.
Das BISK wird am ausführlichsten in Aufbau, Durchführung, bisherigen
Forschungsergebnissen und praktischer Verwendung dargestellt. Es
handelt sich um ein halbstrukturiertes Interview für Kinder zwischen 8
Jahren und 13 Jahren, dabei werden für Kinder typischerweise belastend
erlebte Situationen und Erlebnisse erfragt, die das Bindungssystem
aktivieren (z.B. Traurigsein, Erleben von Enttäuschung, Angst und
Schmerz bei Trennung bis hin zu Verlust von Bezugspersonen). Neben den
eigenen Gefühlen wird das Kind hier, im Unterschied zu den obigen
Verfahren, auch nach den Reaktionen der Eltern gefragt („wie geht es
dir, wenn Mama/Papa so reagiert?“) und inwiefern diese zur
Affektregulation des Kindes im Sinne einer „sicheren Basis“ beitragen.
Das BISK sollte in der Beratungsarbeit der Familie als Möglichkeit, die
Beziehungen innerhalb des Systems mehr öffnen zu können, angekündigt
werden. Anhand von Fallvignetten wird geschildert, wie man mit Hilfe
des BISK einen spezifischen Beratungsfokus gewinnen kann, z.B. indem
man etwas darüber erfährt, wie hilfreich das interviewte Kind
Beziehungen (zu seinen Eltern und anderen Bezugspersonen) erlebt, um
Probleme zu bewältigen.
Den Abschluss bildet ein Fallbeispiel aus der Beratungspraxis von
Hermann Scheuerer-Englisch, in welchem eine 15jährige Klientin in ihrer
Trauerbewältigung durch eine therapeutische Geschichte begleitet wird:
Darin wird von einem kleinen Elefanten erzählt, der einen Freund
verliert. Der Verlust einer geliebten Person wurde auch von Bowlby im
Zusammenhang damit thematisiert, wie bestehende Bindungsbeziehungen
genutzt werden können, um diese Trauer zu bewältigen. Die in Bowlbys
Phasenmodell der Trauer beschriebenen Reaktionen– Phase der Betäubung,
Suche nach der verlorenen Person, Wut und Resignation – finden sich
auch in der Geschichte des kleinen Elefanten wieder. Im Fallbeispiel
wird die Klientin nach dem Lesen der Geschichte entsprechend ermutigt,
sich ihre Trauer zuzugestehen, sie offen zu zeigen und mit ihrer Mutter
darüber zu sprechen.
Das Buch gibt einen anschaulichen Einblick in bindungsbasierte
Diagnostik und Intervention im Säuglings-, Kinder- und
Jugendlichenbereich, sowohl was die Elternberatung als auch die direkte
Arbeit mit (Kindern und v.a.) Jugendlichen anbelangt. Dabei wird
deutlich, dass entsprechende Diagnostikinstrumente wie das BISK
empirisch bereits sehr gut abgesichert sind, während nach wie vor
erstaunlich wenig empirische, kontrollierte Studien zu
bindungsbasierten Interventionen (v.a. im deutschsprachigen Bereich)
vorliegen. Die in den Fallbeispielen thematisierten Konflikte, die sich
aus dem Nicht-Bewältigen von Entwicklungsaufgaben oder dem Umgang mit
Verlust und Trauer ergeben, decken jedoch eine große Bandbreite von
Problemkonstellationen ab und liefern wertvolle Hinweise und
Handlungsanregungen für die beraterische/therapeutische Praxis.
Eine weitere Rezension von Christoph Malter für die Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie
Online-Veröffentlichungen von Herausgeber H. Scheuerer-Englisch
Die Website des Mitherausgebers Gerhard Suess
Verlagsinfo:
Eine Bestandsaufnahme des aktuellen Standes bindungsorientierter
Therapiekonzepte aus Jugendhilfe und Gesundheitswesen: Neben der
Vorstellung neuer diagnostischer Verfahren werden aktuelle
Interventionskonzepte, besonders die videogestützte Beratung und
Therapie von George Downing und das Frühinterventionsprogramm von Bob
Marvin, erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Interessante
Fallberichte runden die Darstellungen ab.
Wege zur Sicherheit ist von Fachleuten aus der Praxis für die Praxis
geschrieben und beruht auf innovativen diagnostischen, beraterischen
und therapeutischen Konzepten, die allesamt auf modernsten
entwicklungspsychologischen Erkenntnissen gründen. Die Autoren und
Autorinnen belegen in einer neuen Art und Weise die Relevanz
praxisorientierter Grundlagenforschung für therapeutische und beratende
Prozesse. Bei den Beiträgen wird die Verknüpfung zwischen einem
Verständnis der Entstehung von Symptomen und Problemen aus einer
Entwicklungsperspektive und den daraus abgeleiteten Interventionen
deutlich und durch Fallbeispiele eindrucksvoll belegt. Die Betonung der
Praxis macht das Buch für alle Fachleute, die mit Kindern, Jugendlichen
und deren Familien im Jugendhilfebereich oder Gesundheitswesen
arbeiten, interessant. Die Autorinnen und Autoren verfügen über
unterschiedliche therapeutische Ausbildungen und die Vielfalt der
Ansätze unterstreicht die integrative Kraft der zugrunde gelegten
Sichtweise.
Inhaltsverzeichnis:
Stierlin, Helm: Zum Geleit. S. 7-9.
Scheuerer-Englisch, Hermann, Suess, Gerhard J., & Pfeifer,
Walter-Karl P.: Einleitung: Wege zur Sicherheit. Bindungswissen in
Diagnostik und Intervention. S. 11-22.
Marvin, Robert S., Cooper, Glen, Hoffmann, Kent, & Powell, Bert:
Das Projekt "Kreis der Sicherheit": Bindungsgeleitete Intervention bei
Eltern-Kind-Dyaden im Vorschulalter. S. 25-49.
Downing, George: Video-Mikro-Analyse-Therapie: Einige Grundlagen und Prinzipien. S. 51-67.
Bindt, Carola: "Mein Baby will mich quälen" - Mütterliche Phantasien,
psychosomatische Symptombildung im Säuglingsalter und die Chancen der
Psychotherapie. S. 69-92.
Suess, Gerhard J.: Bindungssicherheit als Prozess: Konsequenzen für die Praxis der Frühintervention. S. 93-105.
Marvin, Robert S.: Entwicklungspsychopathologische Intervention auf der
Basis der Bindungs- und der Familiensystemtheorie. S. 109-134.
Becker-Stoll, Fabienne: Bindung, Autonomie und Essstörungen im Jugendalter. S. 135-150.
Hauser, Susanne: Psychoanalytische Theorie im Jugendalter aus der Sicht der Bindungstheorie. S. 151-174.
Fremmer-Bombik, Elisabeth: Frühe Bindungsstörung und der Gang durch die
Institutionen: Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Kinder- und
Jugendpsychiatrie anhand eines Fallbeispiels. S. 175-189.
Gloger-Tippelt, Gabriele: Entwicklungswege zur Repräsentation von Bindung bei 6-jährigen Kindern - Fallbeispiele. S. 193-222.
Julius, Henri: Bindungsorganisation und kindliches Narrativ. S. 223-239.
Zimmermann, Peter, & Scheuerer-Englisch, Hermann: Das
Bindungsinterview für die späte Kindheit (BISK): Leitfragen und
Skalenauswertung. S. 241-276.
Scheuerer-Englisch, Hermann: Die innere Welt des Kindes: Das
Bindungsinterview für die späte Kindheit (BISK) in Beratung und
Therapie. S. 277-310.
Scheuerer-Englisch, Hermann: Bewältigung von Trauer mit einem sicheren
Bindungsmodell. Eine therapeutische Geschichte von Monika Weitze und
Eric Battut: Wie der kleine rosa Elefant einmal sehr traurig war und
wie es ihm wieder gut ging. S. 313-324.
Herausgeber:
Dr. phil. Hermann Scheuerer-Englisch, geb. 1957 ist Diplom-Psychologe,
psychologischer Psychotherapeut, Familientherapeut und Supervisor. Er
ist Leiter der Erziehungsberatungsstelle der Katholischen
Jugendfürsorge Regensburg. Lehrauftrag an der Universität Regensburg.
Dr. Gerhard J. Suess ist Diplom-Psychologe und Leiter einer
Erziehungsberatungsstelle in Hamburg. Er hat zahlreiche Aufsätze zum
Thema veröffentlicht.
Walter-Karl P. Pfeifer ist Diplom-Psychologe, wissenschaftlicher
Referent und Leiter der Zentralen Weiterbildung der Bundeskonferenz für
Erziehungsberatung.
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