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13.11.2005
Jürgen Kriz: Lebenswelten im Umbruch - Zwischen Chaos und Ordnung
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Picus Verlag Wien
75 Seiten, Kt. 2004
€ 7.90
ISBN 3854525060 |
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Picus-Verlag Wien
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
In der Reihe „Wiener Vorlesungen im Rathaus“ ist nun Jürgen
Kriz‘ Rede vom Juni 2003 erschienen. Das Büchlein umfasst neben der
Rede zwei kurze und verständige Einleitungen der Professoren Hubert
Christian Ehalt und Rudolf Richter. Jürgen Kriz gehört zu den ganz
wenigen unserer Profession, die es auf sich nehmen,
gesellschaftspolitische Themen explizit mit zu berücksichtigen und
Wechselwirkungen zwischen kognitiven, kommunikativen und
gesellschaftlichen Prozessen zu untersuchen. Dabei ist das Verwobensein
von Mikro- und Makroprozessen ein Standardthema
selbstorganisationstheoretischer Perspektiven! Nicht jedem gelingt es
allerdings, dies so verständlich und motivierend zu beschreiben wie
Jürgen Kriz. Nicht jeder argumentiert allerdings auch so engagiert auf
das Gemeinwesen bezogen, also politisch, wie er. Kriz verknüpft dabei
Empathie mit der erlebenden Person und Kritik an einem entmündigenden
und – wenn man so will – seelenlosen Wissenschaftsverständnis mit
Ermutigung zum angemessenen Umgang mit Komplexität. Ein zentraler
Gedanke in seiner Argumentation bezieht sich auf die grundlegende
Angst vor dem Erleben nicht berechenbarer Einflüsse und einem daraus
resultierenden Bestreben, unter allen Umständen „für Ordnung zu
sorgen“. Solange diese Ordnung als heuristisch begriffen wird, als
wegbereitende Hypothese, hat das seine lebenserleichternden
Qualitäten. Nicht umsonst verweisen zwei der drei Säulen
salutogenetischer Überlegungen zum Überleben unter Stressbedingungen
auf Überschaubarkeit und Handhabbarkeit. Genau dies ist jedoch unter
den Bedingungen einer zunehmend vernetzten Welt nicht mehr so ohne
weiteres zu haben. Kriz weist darauf hin, „dass die für die
Chaosproblematik so entscheidende Vernetzung der Teilprozesse faktische
Realität geworden ist. Damit wird das Systemverhalten eben auch in der
Realität grundsätzlich anders beschreibbar als das ‚klassische‘
Verhalten relativ isolierter – oder als hinreichend isoliert zu
betrachtender – Einzelteile eines Gesamtsystems“ (S.64). Dies wiederum
ist von Bedeutung für die Wahrscheinlichkeit eines ausreichend sicheren
Selbstwirksamkeitserlebens. Querverbindungen zur Traumaforschung, zur
Bindungsforschung, zur Radikalisierung von Umgangsformen ergeben sich
wie von selbst. Wer sich in einem als chaotisch erlebten Leben keine
ausreichend faire Chance mehr ausrechnet, selbst etwas für sich
Notwendiges bewirken zu können, wird sich wohl oder übel für
Notlösungen entscheiden: nach innen in Form von Rückzug oder passender
Dekompensierung, nach außen in Form effektiver Provokation von
Reaktionen. Umso wichtiger wird der Verweis auf die dritte Säule
salutogenetischer Perspektiven: das Sinnerleben. Hier trägt Jürgen Kriz
m.E. Entscheidendes dazu bei, zu einem Umgang mit Komplexität zu
ermutigen, der der Vielfalt gerecht wird. Bemerkenswert seine Mahnung,
dass „heute selbst in der Psychotherapie weit mehr Programme zur
Förderung von Selbstkontrolle (...) als von Selbstvertrauen“ die Runde
machen. Er argumentiert gegen den absurden Versuch, „jedes Detail eines
komplexen nicht-technischen Ablaufs bürokratisch planen zu wollen,
statt eher mit flexiblen und allgemeinen Leitlinien die
Selbstorganisationskompetenz zu unterstützen“ (S.62). Praktisch schlägt
er vor, „die einseitige Überbetonung des Planens gegenüber der
Imagination kritisch zu hinterfragen“ (S.71). Dies allerdings setze ein
deutlicheres Bekenntnis zu Werten voraus.
Auch wenn im Rahmen einer Rede vor einer interessierten
Öffentlichkeit manches ein wenig geglättet und im Erzählton daherkommt,
und manche Themen eher assoziativ verknüpft erscheinen, so entsteht
doch der Eindruck, dass dieses vermeintlich kleine Bändchen es in sich
hat. Geradezu tröstlich fand ich es, dass es offensichtlich möglich
ist, über komplexe und gesellschaftlich unter den Nägeln brennende
Themen verständlich zu reden ohne auf Plattheiten
zurückzugreifen. Es fördert die Hoffnung auf Alternativen zu
einem manchmal irrsinnig erscheinenden Pseudobewältigungsbetrieb. „Die
Stimme der Vernunft ist leise“, wird Freud auf dem Gedenkstein vor der
Votivkirche zitiert, aber immerhin: sie ist zu hören. Und Jürgen Kriz
trägt überzeugend dazu bei.
(mit freundlicher Genehmigung von systeme 2005)
Die Website des Autors Jürgen Kriz
Verlagsinfo:
"Umbrüche sind immer auch Krisen, da sie nicht nur als Übergang erlebt
werden, sondern ebenso eine langfristige Ungewissheit und Unsicherheit
darstellen, die für manche schwer oder gar nicht zu ertragen ist. Der
Psychologe und Psychotherapeut Jürgen Kriz zeigt Möglichkeiten auf, wie
erstarrte Dynamiken und Kontrollzwänge abgebaut und Umbrüche auf diese
Weise als lebensförderliche Transformationschancen erkannt werden
können."
Inhaltsverzeichnis:
Hubert Christian Ehalt: Die Wiener Vorlesungen im Rathaus. S. 7-10
Hubert Christian Ehalt: Alte und Neue Ordnungen zwischen Normierung und Flexibilisierung. S. 11-14
Rudolf Richter: Das Bedürfnis nach Ordnung. Vorwort. S. 15-22
Jürgen Kriz: Lebenswelten im Umbruch
Paul E. Lazarsfeld. S. 23-27
Die Verwobenheit von Mikro- und Makroprozessen. S. 27-40
Ordnung und Kontrolle als Chaosvermeidung. S. 40-50
Die Macht der Sprache. S. 50-53
Die Kontrollideologie im Weltbild klassischer Wissenschaft. S. 53-59
Moderne Systemtheorie: ein adäquateres Bild einer komplex vernetzten Welt. S. 59-69
Resümee: Systemische Flexibilität in Zeiten des Umbruchs. S. 69-72
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