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06.03.2005
Bruno Hildenbrand über Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch
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Suhrkamp-Verlag 2002
edition suhrkamp 2311
151 S.
mit einem Nachwort von Franz Schultheis
ISBN: 3518123114
Preis: 8,50 € |
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Suhrkamp
Bruno Hildenbrand: Anmerkungen zu Pierre Bourdieus "Selbstversuch"
Etwa im Jahr 2000 hatte Pierre Bourdieu damit begonnen, seine
Überlegungen zur Stellung des Subjekts im sozialen Raum in Bezug auf
sich selbst darzustellen. Teile daraus wurden kurz nach Bourdieus Tod
von der Wochenzeitschrift „Le Nouvel Observateur“ veröffentlicht, ohne
dass sie dazu autorisiert war (zu dieser Veröffentlichungsgeschichte
vgl. Franz Schultheis’ Nachwort zum hier zu besprechenden Buch, S.
144-148). Zudem wurde der veröffentlichte Text als „Autobiographie“
etikettiert, obwohl jeder Kenner des Werks von Bourdieu wissen musste,
dass dieser von Biographien nichts hielt: „Den Versuch zu unternehmen,
ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende
Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu beschreiben, ohne andere
Bindung als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos lediglich in
der des Eigennamens besteht, ist beinahe so absurd wie zu versuchen,
eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu
stellen“ (Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion. BIOS 1990 Heft
1, S. 80).
Bourdieu liefert also mit seinem soziologischen Selbstversuch die
Beschreibung einer Beobachtung des Beobachters. Dem Systemiker zeigt
dies, dass es jenseits von Bateson ebenfalls Beobachter gibt, die sich
beobachten, dass man dazu also kein Kybernetiker zweiter Ordnung sein
muss.
Was sieht der Beobachter seiner selbst? Angemessen der Breite seines
Werks sieht Bourdieu natürlich eine Menge, zum Beispiel seine Stellung
im akademischen Feld Frankreichs und Insonderheit in der Soziologie.
Für die hier vorliegenden Zwecke, ein lesenswertes Buch vorzustellen,
will ich einen Aspekt herausgreifen, der mich besonders berührt hat.
Eines der wichtigsten Werke und zugleich eines seiner frühen (Pierre
Bourdieu und Jean-Claude Passeron, Les heritiers. Les étudiants et la
culture, Paris 1964) befasst sich mit den rigiden Klassenschranken, die
in Frankreich vor allem durch ein wenig durchlässiges Bildungswesen
produziert und reproduziert werden. Im „Soziologischem Selbstversuch“
lesen wir über den persönlichen Weg Bourdieus durch dieses
Bildungswesen (S. 98ff.): Wie er, Sohn eines kleinen Postbeamten und
einer aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammenden Mutter, die
demnach „nach unten“ geheiratet hat, sich nach oben kämpft, Erfolg hat,
Blessuren davon trägt, aus seiner Außenseiterposition nie heraus kommt,
davon aber theoretisch und methodisch inspiriert wird und die Wahl
seiner Untersuchungsthemen davon bestimmen lässt. Wir lesen (zwischen
den Zeilen), wie er schließlich diese Außenseiterposition zelebriert.
In diesen Text hinein, der so wenig eine Autobiographie ist, wie
Magrittes Pfeife eine Pfeife ist, schießt eine Passage, die davon
handelt, wie Bourdieu in den 50er Jahren seinen Vater ermunterte, sein
an gefährlicher Stelle einer Route Nationale stehendes Haus umzubauen,
wie der Vater in diesem Haus umkommt, und wie Bourdieu heute „eine fast
magische Verbindung zwischen seinem Tod und er Ankündigung eines
Erfolges (knüpft – B. H.), der sich jetzt wie eine Mischung aus
Anmaßung und Verrat ausnahm. Nächte der Schlaflosigkeit“ (S. 123).
In seinem Buch „Elend der Welt“
(Konstanz 1997) lesen wir dann über Probleme der Vater-Sohn-Beziehung
und darüber, dass hier ein unübersteigbares Dilemma vorliege: „Er (der
Vater – B. H.) sagt gleichzeitig: Sei wie ich, mache es wie ich, und:
Sei anders, geh’ fort“. Und weiter: „Solche Erfahrungen neigen dazu,
einen zerrissenen, in sich gespaltenen Habitus hervorzubringen, der
sich in ständiger Negation seiner selbst und seiner eigenen
Ambivalenzen befindet“ (ich zitiere nach einem ausschnittsweisen
Abdruck in: Hans Bosse, Vera King, Hrsg., Männlichkeitsentwürfe, Frankfurt am Main: Campus 2000, S. 88).
Es wäre unangemessen, zu behaupten, Bourdieus wissenschaftliches Werk
sei aus der Dynamik seines Lebens abgeleitet: Vielmehr schildert
Bourdieu als Beobachter seiner selbst den Spannungsrahmen, der ein
wissenschaftliches Werk entstehen lässt und es antreibt, ohne es
inhaltlich zu definieren. Die Passage über Väter und Söhne in dem
umstrittenen Werk „Das Elend der Welt“, zusammen gelesen mit den
kryptischen Bemerkungen zu seiner Beziehung zum Vater in „Ein
soziologischer Selbstversuch“, zeigt allerdings die Kosten, die
entstehen, wenn es darum geht, diese Spannungen zu bewältigen. Dass der
Leser nur unverdienterweise (denn auf dem Manuskript stand zunächst: Ne
pas faire circuler) daran teilhaben kann, hinterlässt gleichwohl einen
schalen Geschmack.
Der Perlentaucher fasst Zeitungsrezensionen des Buches zusammen:
Neue Zürcher Zeitung vom 22.02.2003
Obwohl Bourdieus "Selbstversuch" ausdrücklich keine Autobiografie sein
will, sind, befindet Hans Berhnard Schmid, die vielleicht am stärksten
autobiografischen Teile des Buches - über Bourdieus Kindheit auf einem
kleinen Bauernhof und die von Auflehnung geprägte Schulzeit - "wohl die
eindringlichsten des Buches". Trotz einer deutlichen Wertschätzung für
Bourdieus Werk spart der Rezensent außerdem nicht mit Kritik an dem
Versuch, mit diesem Buch, wie Schmid es sieht, der möglichen Wendung
von Bourdieus soziologischem Instrumentarium - das nicht zuletzt die
"intellektuelle Welt in Frage" stellte - gegen ihn selbst und sein
Wirken zuvorzukommen. Bourdieu spreche demgegenüber zwar ausdrücklich
davon, dass er die intellektuelle Selbstkritik als "ein kollektives
Unternehmen" begreife, der "Vorzeigeintellektuelle" habe dann jedoch in
seinen Kritikern "kaum je Mitarbeiter zu sehen vermocht". Vor allem
Bourdieus Behandlung seiner Rolle innerhalb seiner eigenen
Forschergruppe ruft für Schmid nach einer unabhängigen Untersuchung
durch andere: In Bourdieus Darstellung erscheine diese Gruppe einmal
wie eine "intellektuelle Guerilla", und Bourdieu als deren
charismatischer Führer, ein andermal berufe sich Bourdieu zur
Beschreibung der Gruppe auf Husserls "Beamte der Humanität".
Süddeutsche Zeitung vom 06.11.2002
In seiner während seines letzten Lebensjahres verfassten Selbstanalyse
beschreibt der Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu seinen
intellektuellen Werdegang, berichtet Sonja Asal. Im Zentrum steht für
Asal dabei, was Bourdieu eine "echte epistemologische Konversion"
nennt: die Zuwendung zur Soziologie und damit zur sozialen
Wirklichkeit. Mittels einer "soziologischen Selbstbeschreibung"
(Bourdieu) sucht er zu einer Objektivierung der eigenen Position im
Erkenntnisprozess zu gelangen, erklärt die Rezensentin. Wie sie
ausführt, baut Bourdieu seinen methodischen Vorgaben folgend zunächst
die Kulisse auf, um das Feld, in dem er seine Ausbildung in den frühen
fünfziger Jahren begann, zu beschreiben: das französische
Bildungssystem mit seinem elitären Selbstverständnis, die Bedeutung
Sartres als "absoluten Intellektuellen", die starke Wirkung des
Existenzialismus. Später wendet sich Bourdieu enttäuscht und beschämt
von all dem ab und schlägt den Weg zur Soziologie ein, hält Asal fest.
Sie hebt hervor, dass Bourdieu in vorliegendem Text zum ersten Mal auf
seine kleinbürgerliche Herkunft eingeht und seinen von Auflehnung
gegenüber der Schulde und Scham über seine Herkunft geprägten
Bildungsgang beschreibt.
Eine interessante Rezension mit dem Fokus auf den
Grundkonflikt Bourdieus zwischen dem Wunsch nach Anerkennung durch die
französische Wissenschaftselite einerseits und dem Schuldgefühl, die
eigene Herkunft verraten zu haben, andererseits von Thierry Chervel aus
der Berliner Zeitung vom 17.2.03
Eine weitere Rezension von Urs Hafner in der Wochenzeitung
vom 3.3.05: "Pierre Bourdieu blickt auf sein Leben zurück, rechnet mit
der Pariser Intelligenzija ab und setzt sich ein wenig in Pose"
Im Rezensionsforum literaturkritik.de findet sich eine weitere ausführliche Besprechung von York-Gothart Mix: "Intellektuelle und Anti-Intellektuelle"
Biografie von Pierre Bourdieu (Quelle: www.suhrkamp.de):
Pierre Bourdieu, am 1.August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques)
geboren, besuchte dort das Lycée de Pau und wechselte 1948 an das
berühmte Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nachdem er die Eliteschule
der École Normale Supérieure durchlaufen hatte, folgte eine
außergewöhnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er
Assistent an der Faculté des lettres in Algier, wechselte dann nach
Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der École Pratique des
Hautes Études en Sciences Sociales. Im selben Jahr begann er, die Reihe
Le sens commun beim Verlag Éditions de Minuit herauszugeben und erhielt
einen Lehrauftrag an der Ècole Normale Supérieure. Es folgten
Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton und am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seit 1975 gibt er die
Forschungsreihe Actes de la recherche en sciences sociales heraus. 1982
folgte schließlich die Berufung an das Collège de France. 1993 erhielt
er die höchste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben
wird, die Médaille d'or des Centre National de Recherche Scientifique.
1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen.
In seinen ersten ethnologischen Arbeiten untersuchte Bourdieu die
Gesellschaft der Kabylen in Algerien. Die in der empirischen
ethnologischen Forschung gemachten Erfahrungen bildeten die Grundlage
für seine 1972 vorgelegte Esquisse d'une théorie de la pratique
(dt. Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979). In seinem wohl
bekanntesten Buch La distinction (1979, dt. Die feinen Unterschiede,
1982) analysiert Bourdieu wie Gewohnheiten, Freizeitbeschäftigungen,
und Schönheitsideale dazu benutzt werden, das Klassenbewußtsein
auszudrücken und zu reproduzieren. An zahlreichen Beispielen zeigt
Bourdieu, wie sich Gruppen auf subtile Weise durch die feinen
Unterschiede in Konsum und Gestus von der jeweils niedrigeren Klasse
abgrenzen. Mit Le sens pratique (dt. Sozialer Sinn.
Kritik der theoretischen Vernunft, 1987) folgte 1980 eine ausführliche
Reflexion über die konkreten Bedingungen der Wissenschaft, in der
Bourdieu das Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu denken versucht.
Ziel dieser Analysen ist es, die "Objektivierung zu objektivieren" und
einen Fortschritt der Erkenntnis in der Sozialwissenschaft dadurch zu
ermöglichen, daß sie ihre praktischen Bedingungen kritisch hinterfragt.
Seit dem Beginn der 90er Jahre engagiert sich Bourdieu für eine
demokratische Kontrolle ökonomischer Prozesse. 1993 rief er zur
Gründung einer "Internationalen der Intellektuellen" auf, deren Ziel
darin besteht, das Prestige und die Kompetenz im Kampf gegen
Globalisierung und die Macht der Finanzmärkte in die Waagschale zu
werfen. Die im selben Jahr gegründete Zeitschrift Liber soll dazu
ein unabhängiges Forum bieten. Seine politischen Aktivitäten zielen
darauf ab, eine Versammlung der "Sozialstände in Europa" einzuberufen,
die den europäischen Einigungsprozeß kontrollieren und begleiten soll.
Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris.
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