Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Klassiker |
zur Übersicht |
Simon, Fritz B.
Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik
|
|
|
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999 (3. Aufl.)
500 S., broschiert
Preis: 25,00 €
ISBN: 351828696X |
|
Suhrkamp Verlag
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
F.B. Simon hat sich in den letzten Jahren profiliert als wortgewandter Wegbereiter systemischer Therapie und offensichtlicher Kronprinz in der Heidelberger Szene. Insbesondere für die Erarbeitung einer tragfähigen Grundlage systemischer Therapie erweisen sich seine Beiträge als wichtig. In seinem Nachwort zum von ihm herausgegebenen Symposionsband "Lebende Systeme" (1988) hat er die Notwendigkeit betont, systemische Therapie als klinische Epistemologie zu verstehen, weil sie nur so "eine konsistente Theorie wie auch pragmatische Behandlungsmethode" entwickeln könne. Im vorliegenden Buch macht Simon nun "Klinische Epistemologie" zum zentralen Thema und umreißt damit das Spannungsfeld zwischen den Bedingungen des Erkennens durch Beobachter und den Bedingungen der Wechselwirkung zwischen "Erkenntnisstruktur und Symptombildung" . Die zugrundeliegende These einer spezifischen Korrespondenz "zwischen der Art und Weise, wie Menschen ihre Wirklichkeit konstruieren, und körperlichen und/oder psychischen Symptombildungen" (S.5) impliziert eine (von Simon vorsichtig' 'Fernziel" genannte) Perspektive, "ganz pragmatisch Methoden für die Therapie 'gestörter' geistiger Prozesse abzuleiten" (S. 5). Der Gedanke an sich ist natürlich nicht neu, wenn man sich z. B. an die groß angelegte Untersuchung von Alexander et al. (1968) zur "Spezifizitätshypothese" erinnert. Dennoch gewinnt Simon dem Ansatz neue Aspekte und innovative Perspektiven ab. Ein wesentliches Moment scheint mir dabei neben der Fokussierung spezifischer interaktionialer (familiärer) Muster die Erarbeitung eines formalen Rahmens zu sein, mit dessen Hilfe ein Beobachter seine Beobachtungen strukturieren kann. "Unterscheiden" heißt das Zauberwort, und Simon legt mit einer Zusammenfassung von Spencer Browns "Gesetzen der Form" ein in deutscher Sprache in dieser Ausführlichkeit bislang vermißtes Handwerkszeug vor (Keeneys (1988) Darstellung bleibt eher allgemein). Mit Hilfe der zugehörigen "primären Algebra" zeigt Simon einen Weg der "Analyse der Schlüsse. . , welche die untersuchten Personen aus irgendwelchen Prämissen ... ziehen" (S. 42). Im Kapitel "Strukturelle Analyse des Transkripts" (S. 214ff.) demonstriert er die praktische Anwendung. (Inwieweit dieses Verfahren in der geschilderten Ausführlichkeit über die Forschungspraxis hinaus im therapeutischen Alltag eine Rolle spielen kann, erscheint mit jedoch etwas fraglich.) Beispielhaft deutlich wird in seiner Tragweite das Unterscheiden zwischen aktiver und passiver Negation. "Immer dann, wenn aus einem Verbot … gefolgert wird, daß das Gegenteil des Verbotenen getan werden muß, (ist) durch die Verwechslung von aktiver und passiver Negation das Gleichgewicht zwischen Entropie fördernden und verneinenden Prozessen und Handlungen in Frage gestellt" (S. 80). Dies findet Ausdruck in der Entstehung psychiatrischer und psychosomatischer Symptomatik und ermöglicht ein Verständnis von Symptomen als Vehikeln, die dafür sorgen, "daß das System zu zwei unterschiedlichen Formen der Interaktion befähigt wird: Die Wirkung einer 'kränkenden Interaktion' kann aktiv oder passiv negiert werden." (S. 116). Und selbst "effektives therapeutisches Handeln" kann mit Hilfe dieser Unterscheidung beschrieben werden: "Entweder wird eine störende System-Umwelt-Interaktion aktiv bekämpft ..., oder aber es wird passiv negiert und dadurch in seiner Wirkung entschärft" (S. 119). Existentielle Bedeutung gewinnt Unterscheiden im Kontext der Frage nach dem "Selbst selbstreferenter Systeme" (S. 93f.). Die Unterscheidungen, die Mitglieder eines Systems darüber treffen, was als kleinste Überlebenseinheit zu begreifen ist, stehen in unmittelbarer Wechselwirkung mit der Auslösung von Streßphänomenen. "Das Verhalten eines erwachsenen Patienten läßt sich nur erklären, wenn verstanden wird, welches aus seiner Sicht der Interaktionsbereich ist, in dem es für ihn zu (über)leben gilt" (S. 132). "Streß als eine Beschreibung des Interaktionsbereichs" (S. 88ff.) erweist sich somit sowohl als eine zentrale Metapher für das Verständnis der Dynamik sozialer Systeme aus der Außenperspektive als auch für die Innenperspektive eines erlebenden Menschen. Darüber hinaus bietet Simon eine Vielzahl von Begriffsbestimmungen, Strukturierungshilfen und' zusammenfassenden Beschreibungen (z.B. zu familiären Spielregeln). In der grundsätzlichen Einordnung seiner Überlegungen und Beobachtungen orientiert sich der Autor an Maturana. Lebende Systeme werden daher als kognitive Systeme beschrieben, Autopoiese als zentrales Prinzip begriffen, Kommunikation als Konstruktion einer konsensuellen Realität in Form struktureller Koppelung. Die in den theoretischen Teilen zusammengefaßten Überlegungen bilden die Grundlage für eine großzügig angelegte Untersuchung mit dem Ziel, "Transformationsregeln zu formulieren", mit deren Hilfe die Wechselwirkungen zwischen körperlichen, psychischen und interaktionalen Prozessen beschrieben werden können ("spezifische Verknüpfungen zwischen individueller Handlungsorientierung, interaktionalen Mustern und Symptombildung" , S. 248). In Bezug auf diese Transformationsregeln wird die Spezifizität psychosomatischer, schizophrener und manisch-depressiver Symptomatiken untersucht. Als "Mischformen" werden Anorexie und schizoaffektive Psychose zusätzlich berücksichtigt. Simon beschreibt die Grundlagen ausführlich und entwickelt ein Beurteilungsschema, das sowohl für die Einschätzung individuell bevorzugter Handlungsmuster der einzelnen Familienmitglieder, als auch für die gesamtfamiliäre Beziehungsdiagnose verwendet werden kann. Für jeden der beiden kontradiktorischen Dimensionen jedes Kriteriums (z.B. Generationsgrenze: öffnend vs. schließend) wird unterschieden nach: Bevorzugung von Akten, Bevorzugung von Unterlassungen, Gleichgewicht von Akten und Unterlassungen. So ergibt sich die Möglichkeit, beobachtete Ambivalenzen und spannungsgeladene Relationen zu skalieren, so wie "dem Prinzip des systemischen Antagonismus bei der Beurteilung familiärer Interaktions- und Kommunikationsmuster gerecht zu werden und den Fallstricken eines statische Eigenschaften voraussetzenden Diagnosesystems zu entgehen" (S. 181). In der Beschreibung des Vorgehens unterläßt es Simon nicht, auf (möglicherweise sublime) Gefahren des Klassifizierens hinzuweisen, vor Verdinglichung, Festschreibung, "schrecklicher ,Vereinfachung" zu warnen, und das Primat der Einzelfallstudie für die Familienforschung im Prinzip hervorzuheben. Ganz in diesem Sinn stellt er eine (in der Tat facettenreiche) Familie besonders ausführlich dar (auf 50 Seiten!), verdeutlicht daran Grundlagen, Vorgehen und Auswertung. In der Folge entwirft er eine Typologie der Wechselwirkung von "interaktionellen Spielregeln und Symptombildung" (S. 258ff.), die anschließend in der Darstellung idealtypischer psychosomatischer, schizophrener und manisch-depressiver Patienten und deren Familien wiederzufinden ist. Obwohl diese Passagen sicherlich als heuristisch wertvolle Ideenlieferanten sowie als griffig zusammengefaßte Überblicke einzuschätzen sind, komme ich darüber zu einem eher skeptisch stimmenden Eindruck: nachdem die Nomenklatur steht, ein glänzend erarbeitetes Modell vorliegt, nachdem die Schubladen zunächst vorsichtig eingeräumt wurden, kommt es zum großen Durchvariieren mit zunehmender Tendenz zur Ontologisierung nach dem Muster "Der psychosomatische Patient (Typ A) unterdrückt aktiv den Ausdruck seiner Gefühle … " (S. 315). Bei der vorliegenden Massierung solcher Begriffswahlen besteht m. E. nicht wenig Gefahr, irgendwann (bewußt oder unbewußt) die in der Tat häufig ausgesprochenen Warnungen vor Festschreibungen zu vergessen. In diesem Zusammenhang eine Überlegung zu der auch von Simon betonten Unmöglichkeit instruktiver Interaktion. Wiederholt (S. 63, S. 103) weist der Autor darauf hin, daß im Falle sprachlicher Beschreibung interner Repräsentationen Sprache den "Charakter einer Umwelt" annehme, "mit deren Strukturen … interagiert werden" (S. 63), bzw. "an deren Bedingungen Anpassung geleistet werden muß" (S. 103). Mit einiger Wahrscheinlichkeit dürfte im vorliegenden Fall eine Anpassung an den reichlich verwendeten Indikativ überlebensfähig sein. Und dies wiederum erscheint mir bedenkenswert in Anbetracht des offensichtlich vorgesehenen Rezeptionsbereich dieses Buches. Es scheint eher nicht für solche gedacht zu sein, die regelmäßig die "Post aus der Werkstatt" lesen, stets aufs Neue von den Reizen des Verflüssigens angelockt. Jedenfalls enthält der vom Verlag beigelegte Waschzettel die Angabe "Interessiert sind Ärzte der obigen Fachgebiete…", andere Interessenten werden offensichtlich nicht vermutet. Selbst unter der verdienstimplizierenden Prämisse, Simon habe sozusagen medizinische Gewohnheiten utilisierend dortselbst einen systemischen Claim abstecken wollen, erscheint die Massierung ontologischer Beschreibungsvarianten umso bedauerlicher: Ob ich nun ein Individuum oder eine Familie mit "ist" oder "hat" beschreibe, ist das dann noch ein Unterschied, der einen Unterschied macht? Therapie selbst erhält in diesem Buch explizit 6 Seiten. Dies kann zum einen als konsequente Fortführung des Gedankens gelten, den Schwerpunkt auf die verwendeten Prämissen zu legen, wie sie zustande kommen, wie sie in verschiedenen Phänomenbereichen und Sinnzusammenhängen zur Geltung kommen. "Verstören" (als aktive Negation der Prämissen von Klienten) erscheint dann als therapeutisches Prinzip, "zirkuläres Fragen" als therapeutisches Vademecum (wodurch "Therapie" in diesem Buch dann doch mehr als 6 Seiten erhält, sozusagen als durchgängiges Grundmuster) . Formal besticht das Buch durch ausführliche Gliederung (vorbildlich) und Register. Beide erleichtern die gezielte Bearbeitung des Textes. Insgesamt halte ich das Buch für sehr nützlich, ansprechend gestaltet, und etwas respektlos, vermutlich eine sehr überlebensfähige Mischung. Die Entwicklung hin zu einem Standardwerk steht zu erwarten.
Literatur: Alexander, F., French, T.M. & Pollock, G. H. 1968. Psychosomatic Specifity. Vol. l. Chicago: The University of Chicago Press. Keeney, B.P. 1987. Ästhetik des Wandels. Hamburg: ISKO. Simon, F. B. (Hrsg. 1997). Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der Systemischen Therapie. Frankfurt/Main, Suhrkamp (Erstauflage: Berlin - Springer 1988) Simon, F. B. & Weber, G. "Post aus der Werkstatt". Familiendynamik, in regelmäßiger Folge seit 1987.
(Erstveröffentlichung in: Systhema 3(1): 54-58, 1989)
Die website von Fritz B. Simon
Fritz B. Simon: "Dieses Buch ist nicht leicht einzuordnen. Es stellt die Grundlagen und Vorgehensweisen der Familientherapie, genauer der systemischen Familientherapie, auf dem heutigen Erkenntnisstand zusammen und mit dem Blick für das Wesentliche dar. Es beginnt mit einer kritischen Diskussion der erkenntnistheoretischen Grundlagen der systemischen Therapie. Ausgehend von George Spencer Browns „Laws of Form” werden die Prinzipien menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen in ihrer Logik dargestellt und in Bezug zu den Regeln der familiären Kommunikation gesetzt. Vor diesem Theoriehintergrund werden die Bedingungen unterschiedlicher (psychosomatischer, manisch-depressiver und schizophrener) Symptombildung dargestellt und die therapeutischen Konsequenzen diskutiert."
|
|
|