Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Klassiker |
zur Übersicht |
Simon, Fritz B.
(Hrsg.): Lebende Systeme
|
|
|
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main
3. Auflage September 2002
200 S., Kt
ISBN: 3-518-28890-3
Preis: 10,00 €
stw 1290 |
|
Suhrkamp Verlag
Rezension der Erstausgabe im Springer-Verlag (1988) von Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
Im Frühjahr 1986 veranstaltete die Internationale Gesellschaft
für systemische Therapie ein Symposium zum Thema "Lebende Systeme".
Damit sollte ein Forum geschaffen werden, auf dem therapeutische
Praktiker sich mit einigen der "prominentesten Vertreter der
gegenwärtigen systemtheoretischen Forschung" auseinandersetzen konnten.
Das gegenwärtige Verhältnis von Theorie und Praxis systemischen
Arbeitens ist nun wohl gekennzeichnet durch einen immensen innovativen
Schub einerseits, und ein nicht unerhebliches Maß an Konfusion über
Wege, Kriterien und Sinn der notwendigen Komplexitätsreduktion
andererseits. Die nun in Buchform vorliegenden Beiträge des genannten
Symposiums markieren dies in beeindruckender Weise. Heinz von FOERSTER
(Ingenieur, Physiker), Francisco VARELA (Neurobiologe) und Niklas
LUHMANN (Soziologe) stellen grundlegende Aspekte ihrer Forschung vor.
Helm STIERLIN (strukturierend), Gunthard WEBER und Bernd SCHMID
(anwendend) demonstrieren an einem Fallbeispiel den Stand
systemisch-therapeutischer Praxis.
Als reizvoll erweist sich die Idee, die eingeladenen Meister der
Theorie zu einer Falldemonstration (WEBER und SCHMID) Stellung nehmen
zu lassen. Möglicherweise erleichtert systemische Praktiker die
Vorstellung, daß die Theoriecracks in der konkreten Situation mit
Klienten auch nur mit Wasser kochen würden. Darüber hinaus vermitteln
ihre Stellungnahmen jedoch eine Fülle von Beschreibungsmöglichkeiten
(sowohl zur internen Strukturierung von Therapeuten als auch zur
Belebung der Suche nach angemessenen Beschreibungen von Therapeuten
füreinander im Sinne der von Luhmann erwähnten Anschlußmöglichkeiten).
Ein Kreuzverhör, bei dem die Theoretiker zirkulär befragt ihr
Verständnis der Positionen der beiden anderen deutlich machen, sowie
Fragen an und Antworten von LUHMANN, VARELA und von FOERSTER (jeweils
allein mit dem Auditorium) geben weitere Einblicke, z.T. ergeben sich
(natürlich und erleichternderweise) Redundanzen.
Die theoretischen Positionen:
LUHMANN stellt in zwei Beiträgen seine Gedanken über Kommunikation und
selbstreferentielle Systeme vor. Seine strikte Beachtung
"theoriebautechnische(r) Verwendbarkeit" und sein voluminöses Wissen
lassen die Überlegungen des Autors sowohl beinahe zwingend stringent
erscheinen, stellen jedoch eine ziemliche Herausforderung dar, sowohl
an die eigene Verstehenskapazität als auch an übliche Denkgewohnheiten.
Der Vorstellung, es seien "doch immer Menschen, Individuen und
Subjekte, die handeln", stellt er entgegen "daß nur die Kommunikation
kommunizieren kann" (S.10). Luhmann unterscheidet drei "zirkulär
geschlossene Systeme, die jeweils nur den Modus der autopoietischen
Reproduktion verwenden können“ (S.16). Soziale Systeme operieren im
Modus der Kommunikation, psychische Systeme operieren im Modus der
Bewusstheit, und lebende Systeme im Modus biologischer Prozesse. Jedes
dieser Systeme ist für die jeweils anderen Umwelt und erzeugt
"füreinander jeweils nur Rauschen" (S.48). Mit Hilfe des Begriffs der
Interpenetration erklärt Luhmann die Beziehung zwischen diesen
Systemen. Er geht davon aus, daß es jeweils einen Kapazitätsüberschuss
des jeweiligen Systems über die Operationen der anderen Systeme gebe
(z.B. synthetisiere Kommunikation Information, Mitteilung und Verstehen
derart, daß es für das Einzelbewußtsein nie möglich sei, dies
vollständig nachzuvollziehen). Von daher gebe es nie "problemlose
Kongruenz". Indem Systeme interpenetrieren, stellen sie sich nun ihre
Komplexität gegenseitig zur Verfügung. Die daraus resultierende
Notwendigkeit von Selektion ermöglicht Differenzerfahrungen im Sinne
von Kontingenz (es könnte jeweils auch anders sein) und
Unsicherheit, was Luhmann gleichsetzt mit der "unerlässliche(n)
Betriebsbedingung von außen" (S.51). Aus diesen Überlegungen verstehen
sich Luhmanns Gedanken zur therapeutischen Intervention: Er formuliert
als therapeutisches Prinzip das Wiederherstellen von Kontingenz. Z.B.
sei "eine Motivunterstellung (...) eigentlich nur eine Herstellung von
Ablehnungsbereitschaft, Ablehnungsfähigkeit , (...) eine Herstellung
von doppelter Kontingenz" (S.85), die wiederum eine Möglichkeit zu
einer neuen Reduktion von Komplexität schaffe. Als Weg schlägt er vor,
"Unsicherheit und Desintegration in ein hoch integriertes System"
einzuführen (S.135). Die Effekte dieser Intervention erkennt er als
nicht präzis prognostizierbar an, woraus folgt: "Die Kunst der
Intervention könnte darin bestehen, Gelegenheiten, wenn sie sich
bieten, zu nutzen; und vielleicht auch darin, die Chance, daß sich
Gelegenheiten bieten, planmäßig zu verdichten" (S.53).
Als interessant erweist sich seine Einschätzung, daß die
Attributionstheorie für therapeutische Praktiker nützlicher sein könnte
als Systemtheorie. Die weitere Entwicklung der Rezeption und
Verarbeitung der Luhmann'schen Gedanken für die systemtherapeutische
Praxis verspricht einiges. Zunächst bleibt festzuhalten, daß ein
wesentliches Verdienst des Luhmann-Ansatzes zu sein scheint, einen
Impuls dafür gesetzt zu haben, wie das Autopoiese-Konzept auf andere
als biologische Systeme angewendet werden kann.
Von FOERSTER stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die
Unterscheidung von trivialen und nicht-trivialen Maschinen. Erstere
sind in ihren Eigenschaften voraussagbar, zweitere nicht. Die Theorie
der rekursiven Funktionen liefert ihm einen weiteren Aspekt, für den er
den Begriff "Eigen-Wert" wählt. Seine Überlegungen lassen von Foerster
"Schwierigkeiten, die eine Familie um Hilfe bitten
läßt", verstehen "als eine unglückliche Entwicklung eines sehr stabilen
Verhaltens der Familienmitglieder zueinander" (S.31). Seine "Diagnose
einer Familie in Not ist - so komplex ihr Vorliegen klingen mag - eine
Verkrüppelung des Zugangs zu ihrer potentiellen Komplexität" (S.33).
Von daher schlägt er als therapeutisches Vorgehen – ähnlich wie Luhmann
- "nicht Reduktion, sondern Expansion der Komplexität" vor. Als
Beispiel greift er zirkuläres Fragen auf. "Das Faszinierende am
zirkulären Fragen ist für mich diese Notwendigkeit, etwas zu erfinden.
(...) Man darf aber nicht glauben, das habe etwas mit der Präzisierung
der Relationen zu tun (das wäre Reduktion; Anm.) (...) Es hat lediglich
damit zu tun, daß diese Frau (im Beispiel; Anm.) durch diesen Trick in
eine Stimmung versetzt wird, eine schöne Relation zu erfinden" (S.82).
Ganz in diesem Sinne formuliert er als ethischen Imperativ: "Handle
stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst" (S.33).
VARELA entwickelte zusammen mit Maturana das Konzept der Autopoiese. In
seinen Beiträgen stützt er sich auf seine neurophysiologische
Forschungsarbeit. Wahrnehmung beschreibt er mit Hilfe des Begriffs der
Koppelung: neuronale Verknüpfungen, die konstant bleiben, ermöglichen
eine Geschichte von Koppelungen. Dabei sieht Varela seinen Ansatz als
Mittelweg zwischen der Annahme interner Repräsentation von Objekten und
der Annahme willkürlicher Projektion: "Die Welt...entsteht aus dieser
Geschichte von Koppelungen, die eine bestimmte Kohärenz hervorbringt;
und es gibt viele mögliche Formen der Kohärenz, die brauchbar sind"
(S.41). Diese möglichen Formen der Kohärenz seien von Beobachtern nicht
mehr klassifizierbar. Klassifizieren geht nur von außen, und als
Beobachter ist man drinnen, sobald es um menschliche Systeme gehe.
Von daher kommt es für Varela darauf an, das "Verständnis der
Basisdimensionen von Koppelung, die all diese kollektiven Realitäten
entstehen lassen", zu erhöhen (S.100). Familien erhalten daher eine
besondere Bedeutung, weil die fundamentalen Koppelungen in der Familie
mit biologischen Notwendigkeiten (Reproduktion, Sexualität, Wohnen,
usw.) zu tun haben, so daß Varela vorschlägt, "Familie als
Gruppenkörper zu betrachten" (S.114).
Innerhalb dieses hochkomplexen Kontextes systemtheoretischer Forschung
erweisen sich STIERLINs 12 Seiten "Prinzipien der Systemischen Therapie
"für mich schließlich als überraschender als die "Neuigkeiten" aus den
anderen Forschungsbereichen, und dies nicht etwa, weil er grundsätzlich
Neues dabei vermittele. Stierlin gibt hauptsächlich einen Überblick
über "Fragen, die sich der Therapeut zu stellen hat" (z.B.: Wer gehört
zum Problemsystem? Wie können erstarrte Konstruktionen "verflüssigt"
werden?), so wie über eine Reihe von Aspekten zirkulären Fragens. Das
mehr oder weniger deutlich werdende Ringen um die sprachliche
Vermittlung der theoretischen Erkenntnisse der Hauptreferenten wird in
Stierlins Beitrag beinahe Trance-induzierend einfach und verständlich
ersetzt durch eine Sprache, die man glaubt auf Anhieb zu verstehen (Das
Gefühl, wie es ist, wenn man nach Stunden auf einer Schotterpiste
plötzlich auf eine normale Straße kommt). Nicht nur von der Plazierung
her erinnert mich daher Stierlins Beitrag an die Zentraleinheit in der
Lankton'schen "Struktur der eingebetteten Metaphern". Offensichtlich
bedarf es einer solch komplexitätsüberlegenen Umwelt (der Bereich der
System-Forschung), um ein klareres Verständnis davon zu bekommen, was
bei der Gestaltung systemischer Therapie vor sich geht, und wie man das
verständlich mitteilen kann.
In seinem reflektierenden Nachwort vermittelt SIMON (wohl etwas
untertreibend) die Position eines Praktikers, der die Fülle der
Anregungen aus diesem Symposium etwas ambivalent verdaut: Einerseits
brauche man, "um therapeutisch wirksam zu werden, (...) keine
konsistente Theorie" (S.139), andererseits werde systemische Therapie
nur dann "eine konsistente Theorie wie auch pragmatische
Behandlungsrezepte (! , Anm.) ... entwickeln können, wenn sie sich als
klinische Epistemologie versteht, in der es gilt, die Entwicklung,
Veränderung und Aufrechterhaltung der Erkenntnisstrukturen von
Patienten und ihren Familienmitgliedern wie auch von Therapeuten in der
Interaktion (...) zu studieren" (S.142). Dabei definieren sich
Verantwortung und Grenzen des Therapeuten aus dem "Dilemma, zu
gestalten ohne die Gestalt bestimmen zu können".
Ein sehr anregendes Buch, allerdings wohl nichts für Phasen, in denen
man sich konsolidieren und in Ruhe Erworbenes anwenden und überprüfen
will.
Niklas Luhmann, Heinz von Foerster und Francisco Varela sind mittlerweile (2005) verstorben.
Das systemagazin hat im Sommer 2005 ein umfangreiches Luhmann-Special mit Beiträgen und Rezensionen veröffentlicht.
Über Heinz von Foerster gibt es mittlerweile auf der website der Wiener Universität ein schönes Online-Archiv. Hier gibt es auch eine schöne, umfangreiche , von Monika Broecker und Alexander Riegler herausgegebene Festschrift zum 90. Geburtstag.
Auch Franciso Varela
ist mit einer Website vertreten, auf der zahlreiche Arbeiten von ihm
(in der Regel in englischer Sprache) gelesen werden können.
Und hier die Website des Herausgebers Fritz B. Simon
Herausgeber:
Fritz B. Simon, Dr. med. habil., Professor für Führung und Organisation
am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke.
Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und
systemischer Familientherapeut. Verleger (Carl-Auer-Verlag).
Geschäftsführender Gesellschafter des Management Zentrum Witten GmbH
und der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung
GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 200 wissenschaftlichen
Fachartikeln und 18 Büchern, die in 10 Sprachen übersetzt sind.
|
|
|