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Systemisch – integrativ – kassenfinanziert: Welche psychotherapeutische Versorgung wollen wir?

Jochen Schweitzer
Prof. Dr. Jochen Schweitzer:


Systemisch – integrativ – kassenfinanziert: Welche psychotherapeutische Versorgung wollen wir? Einige Thesen


1. Der systemische Ansatz bietet einige einzigartige theoretische und praktische Beiträge, auf die eine leistungsfähige kassenfinanzierte psychotherapeutische Versorgung m. E. langfristig nicht verzichten kann:
  • Systemdenken: das Achten auf den Kontext, die Komplexität und die Zirkularität krankheitsrelevanter Prozesse.
  • Die Achtsamkeit gegenüber der Selbstorganisation und Nicht-Instruierbarkeit lebender Systeme.
  • Eine erkenntnistheoretische Behutsamkeit, die die Therapeutin als Miterzeugerin ihrer diagnostischen Formulierungen mitdenkt.
  • Die Wertschätzung und Nutzung dessen, was die Klienten und deren Umfeld in die Therapie mitbringen – therapeutische Haltungen wie Allparteilichkeit, Neugier, Neutralität, Ressourcen- und Lösungsorientierung.
  • Anliegen- und Auftragsklärung: Die sorgfältige Klärung multipler und oft widersprüchlicher Aufträge an die Therapie – mit den „Klienten als Kundigen“ – und einen darauf „passgenauen“ Zuschnitt der Therapie.
  • Zahlreiche Gesprächssettings, Frage- und Interventionstechniken, die diese Grundlagen realisieren helfen.
2. Auch Systemiker können in einer schulenübergreifenden Psychotherapie hinzulernen. Andere Schulen liefern in bestimmten Problem- und Lösungsbereichen fein(er) ausdifferenzierte Beiträge, die systemischen Therapeutinnen und Therapeuten sowohl für die Grundlegung wie für die Verfeinerung ihres eigenen therapeutischen Handelns dienen können:
  • Gespräche respektvoll und einfühlsam führen: Kongruenz, Empathie, Wertschätzung (klientenzentrierte Therapie).
  • Feinfühlig merken, was sich zwischen Klienten und Therapeut abspielt: Übertragung und Gegenübertragung (Tiefenpsychologie).
  • Psychische Konstellationen symbolisch aktualisieren (Psychodrama und Gestalttherapie).
  • Die Aufmerksamkeit auf Lösungsmöglichkeiten richten (Hypnotherapie).
  • Schwierige Situationen in vivo durchstehen (Reizkonfrontation) und neue Kompetenzen trainierend festigen (Verhaltenstherapie).
3. Eine schulenübergreifende Psychotherapie mit starker systemischer Grundierung kann in folgenden Aspekten leistungsfähiger arbeiten als die jetzigen Richtlinienverfahren:
  • Sie nutzt die Ressourcen des Umfeldes der Patienten doppelt: Sie behandelt mitleidende Angehörige mit, und sie nutzt sie als Mitbehandler.
  • Sie orientiert sich genauer an den Aufträgen, den Ressourcen und der Selbstorganisation ihrer Patienten-Systeme.
  • Deshalb arbeitet sie ökonomischer: Mehr Menschen werden in weniger Sitzungen zumindest gleich gut behandelt.
  • Deshalb ermöglicht sie kürzere Wartezeiten und erhöht damit die Zugangschancen zur Kassenpsychotherapie.
  • Sie erhöht auch die Zugangsgerechtigkeit: Sie schließt seltener einzelne Störungsbilder (z. B. Schizophrenie oder Sucht), sozioökonomische Gruppen (Unterschichtfamilien oder schlecht deutsch sprechende Einwanderer) sowie Menschen mit im OPD-Sinne niedrigem Strukturniveau und Menschen mit schwacher Therapiemotivation aus.
4. Eine schulenübergreifende Psychotherapie mit starker systemischer Grundierung erfordet allerdings, um diese Potentiale zu entfalten, einige Veränderungen der Organisation psychotherapeutischer Versorgung:
  • Zulassung der Systemischen Therapie und der Gesprächspsychotherapie als weitere Grundlagenverfahren, um die beschriebene Qualitätsverbesserung der Richtlinienpsychotherapie zu ermöglichen.
  • Die Überwindung von Sektorengrenzen, die eine kontextorientierte und kontinuierliche Psychotherapie erschweren:
  • zwischen Erwachsenen- und Kinder-Jugendlichentherapie
  • zwischen ambulanter, teilstationärer und vollstationärer Psychotherapie
  • zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychotherapie und Kinder- und Jugendhilfe.
  • Eine andere Finanzierung der ambulanten Psychotherapie: Finanzielle Förderung (höhere Stundenhonorare) und organisationale Erleichterung (keine Gutachten) intensiven Arbeitens in der frühen und besonders anstrengenden Phase der Therapie (den ersten 5 bis 20 Sitzungen), insbesondere der Kriseninterventionen, zulasten von späteren Therapiesitzungen (z. B. jenseits der 40. Sitzung).
  • Leicht zugängliche, gut organisierte psychotherapeutische Ambulanzen als „Erstkontaktstellen“, die für Menschen ohne Erfahrung in der Psychotherapieszene Problemklärung, Krisenintervention und bei Bedarf qualifizierte Weitervermittlung in spezialisierte therapeutische Angebote leisten. Die dort Arbeitenden müssen die regionale Versorgungsszene und die verschiedenen Therapieansätze gut kennen.
5. Eine schulenübergreifende Aus- und Weiterbildung mit systemischer Grundierung könnte sich in einem schulenübergreifenden Grundcurriculum und in einem – wirkliche Wahlmöglichkeiten bietenden – Vertiefungscurriculum verwirklichen. Zu einem Grundcurriculum sollte m. E. zumindest gehören:
  • psychotherapeutische Auftragsklärung, Problemklärung, Lösungsvorbereitung;
  • Krisenintervention;
  • Übersicht über das Spektrum psychotherapeutischer Ansätze und über andere Lösungsansätze (Psychopharmakologie, Sozialarbeit, Gemeindepsychologie, Selbsthilfe);
  • Übersicht über einzelne Störungen und deren Beziehungsdynamiken, Risiken, Vorsichtsmaßnahmen;
  • professionelle Kooperation: Patientenvermittlung, Intervision, regionales Fallmanagement.
  • In einem Vertiefungscurriculum sollten angeboten werden:
  • als Grundlagenverfahren neben Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie zumindest Systemische Therapie und Gesprächspsychotherapie;
  • als Zusatzverfahren entweder ein anderes aus diesen Grundlagenverfahren oder Psychodrama, Gestalt, Transaktionsanalyse, Hypnotherapie;
  • störungsspezifische Methoden: z. B. Traumatherapie, Dialektisch-Behaviorale Therapie, Multisystemische und Multifamilientherapie.
6. Für die Psychotherapeutische Aus- und Weiterbildung könnte in einem nach Bachelor- und Master-Studiengängen gegliederten Hochschulsystem zwischen Hochschulen und außeruniversitären Aus- und Weiterbildungsinstituten folgende Aufgliederung sinnvoll sein:
  • Theoretische Grundlagen und empirische Befunde können m.E. gut bereits in Master-Studiengängen an den Hochschulen vermittelt werden – in fachübergreifenden Master-Studiengängen „Psychotherapie“ wie in klassischen Disziplinen (Psychologie, Sozialarbeit, praktische Theologie – auch in der Medizin, wenn man im Studium der Psychotherapie mehr Platz einräumt).
  • Klinische Haltungen und Techniken sowie Supervision können m. E. am besten post-gradual, parallel zur bereits anlaufenden psychotherapeutisch orientierten Praxistätigkeit, in Aus- und Weiterbildungsinstituten mit praxiserfahrenen Dozenten vermittelt werden.
Schulenübergreifende (nicht auf Verhaltenstherapie oder Tiefenpsychologie eingeschränkte) Lehre der Psychotherapie an Hochschulen erfordert auch eine schulenübergreifende Besetzungspolitik der Lehrstühle, z. B. in Klinischer Psychologie oder Psychotherapeutischer Medizin.
Ich würde in der postgradualen Aus- und Weiterbildung einen fairen Wettbewerb zwischen verschiedenen Institutstypen begrüßen (gemeinnützige Vereine, profitorientierte GmbHs, Institute an Universitäten/Fachhochschulen). Fair ist dieser Wettbewerb nur, wenn postgraduale Aus- und Weiterbildungen als solche nicht zugleich zu einem akademischen Titel führen, auch nicht an Aus- und Weiterbildungsinstituten an Hochschulen.

(im September 2008)


24.10.2008: Peter Kaimer

Aha, Herr Schweitzer hat sich die "Wunderfrage" gestellt. Ja, so ähnlich würde ich sie wohl auch beantworten.
Und wenn sich alle Beteiligten unseres Gesundheitssystems wirklich an dem Wohle der Klient/inn/en orientieren würden, dann müsste es wohl auch so aussehen. Aber die Hochschulpolitik verfolgt ganz andere Interessen, die Ausbildungsinstitute verfolgen ihre eigenen Ziele, die Krankenkassen, die geneigte Ärzteschaft ...
So bleibt mir als geborener Österreicher nur ein: Wunderbar, aber sie spielen's halt nicht!!!

Freundliche Grüße - Peter Kaimer


24.10.2008: Mathias Wölfelschneider

Die Perspektiven für die Versorgung ohnehin, insbesondere aber auch die Möglichkeiten für die Ausbildung wären so unglaublich erweitert. Als Arzt in Weiterbildung ist die Situation geradezu skurril: Hochschulen und Berufsverbände tragen politische Kämpfe mit schulentheoretischen Argumenten aus. An einem externen Institut für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lasse ich mir von Psychoanalytikern erzählen, was man mit dem "reduzierten" Setting alles nicht machen kann und wozu einem die Zeit fehlt. Wenn ich dann ein Minimum an erkenntnistheoretischer Neugier und Offenheit aufbringe, kann ich die Attraktivität systemischer Arbeitsweisen überhaupt nicht übersehen - integriert sie doch all jene Aspekte, welche die "traditionellen" Schulen nach und nach für sich entdecken und implementieren (Ressourcenorientierung, Auftragsklärung, Sensibilität für Kontexte, Zirkularität [OPD-Beziehungsachse anyone?]...) und kann dabei sogar als veritable Metatheorie genutzt werden. Aber halt! Ich muss ja berücksichtigen, wovon ich einmal meine Familie ernähren möchte. Also muss ich mich klinisch und wissenschaftlich (an der Uni) zunächst an "anerkannte" Verfahren halten (Stichwort: Facharztanerkennung und Richtlinienpsychotherapie) - auch wenn ich erkenne, dass das möglicherweise nicht der Weg ist um meinen Patienten bestmögliche Voraussetzung zum Entwickeln neuer Lösungen zu bieten.
Eine "schulenübergreifende Psychotherapie mit starker systemischer Grundierung" muss ich mir heute selbst zusammenbasteln und dabei aufpassen, dass niemand "Eklektizismus!" schimpft. Das Erweitern der eigenen therapeutischen Wirklichkeitskonstruktionen und des technischen Repertoires muss schließlich auch eine Resonanz in Ausbildung, Supervision und Forschungstätigkeit finden können (was paradoxerweise gerade an den Universitäten und Ausbildungsinstituten nicht ohne weiteres gegeben ist - ich fühle mich diesbezüglich dank aufgeschlossener Lehrer und Vorgesetzter persönlich noch einigermaßen im Luxus).
Wo kann ich unterzeichnen? Wen muss ich in welches Gremium wählen? Ich glaube, dass ich nicht nur für mich spreche, wenn ich in Prof. Schweitzers Postulat nicht zuletzt eine potentielle Antwort auf die Identitätskrise der jüngsten Generation von Psychotherapeuten (in Ausbildung) sehen kann, insbesondere derer, die den "klassischen" therapeutischen Berufsgruppen (Psychologen, Ärzte) angehören.




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