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Dörte Foertsch: Sichtvermerke
Mein Pass wurde am 22. November 1989 ungültig, wenn er nicht verlängert würde.
Ich hätte aber schon im Sommer 1989 einen neuen Reisepass beantragen müssen, die Seiten für die Sichtvermerke/Visas waren erneut bis auf die letzte Seite voller rechteckiger Stempel in schwarz-grün, rotblau, grünblau, braun, gelbblau oder schlicht schwarz, mit Namen wie Staaken, Marienborn, Drewitz, Horst, Schwanheide, Frankfurt/Oder, Wartha, Görlitz und DDR 087, 188, 069 Transit oder wie auch immer voll und so also aufgebraucht. Auch der 9. November 1989 war ein Tag, an dem ich es erfolgreich vermieden hatte, einen neuen Reisepass zu beantragen. Wenn man gegen die Übellaune dieser großmützigen DDR-Grenzbeamten  andiskutierte, weiblicher Charme half nur wenig, bekam man ja immerhin für die Transitstrecke lose Blätter in den Reisepass gelegt, auf denen die Stempel sogar etwas farbenfroher als auf den grünen BRD-Seiten wirkten. Welchem Rhythmus die Farben und Nummerierungen folgten, ist eines der vielen Rätsel, die die damalige DDR mit in ihr Grab genommen hat.
Am 9. November hatte ich für den Kinderladen, in dem Johanna, geb. 1987, seit einem Jahr während meiner Arbeit essen, spielen und schlafen konnte, Borschtsch und Rote Grütze gekocht, bei den Kindern war dies als Vampiressen beliebt, kleine Tricks, um Kindern den Geschmack von roten Rüben aus Ländern wie dem eigenen, Polen, Weissrussland, Ukraine, Georgien, Kasachstan usw. unterzujubeln. Das einzig nicht-Rote war die Vanillesauce in den Sichtvermerken bei den Kindern.
Der Tag war zunächst einer von vielen, ich habe Katharina, geb. 1984, im anderen Kinderladen abgeholt. Beide würden meine Westberliner Vergangenheit nicht mehr nachvollziehen können, dieses studentische Inselparadies im SO36, geschützt durch die Mauer mit Bob Dylan im Wrangelkiez feiern, mit der Reich-S-Bahn für 20 Pfennig bis Dahlem zur FU, im Tränenpalast 23.55 Uhr Abschied nehmen von Freunden aus dem Prenzlberg, Westberlin war reich, arrogant und alternativ. Damit war auf jeden Fall Schluss.
Abends in den Tagesthemen… so könnten nun viele Erzählungen beginnen, auch meine.
Im Sommer hatten meine Eltern uns besucht und wir machten auf der Westseite des Griebnitzsees, in Steinstücken, einen Spaziergang. Sichtvermerke: Vater war schweigsam, er mochte nicht das andere Ufer schauen.
Die Grenze verlief in der Mitte dieser Seenkette, die in Wannsee beginnt, Kleiner Wannsee, Pohlesee, Griebnitzsee, Havelseen, die sich bis Potsdam hinziehen. Am gegenüberliegenden Ufer im damaligen Sperrgebiet war mein Vater bis zu seinem sechsten Lebensjahr groß geworden, Stahnsdorfer Straße 115 in Babelsberg, gegenüber dem Eingang der DEFA-Studios, und ich wusste am 9. November, dass er sein Geburtshaus nicht mehr sehen würde, er starb Weihnachten 1989 an Kehlkopfkrebs.  So verschlägt es einem die Sprache, wenn betonierte zugemauerte Sinnlosigkeit sich in Nichts auflöst.
Als Anfang der neunziger Jahre auf dem Niemandsland zwischen Ost und West am Potsdamer Platz die rote Infobox aufgestellt wurde, um über die geplante Stadtentwicklung inklusive des heutigen Hauptbahnhofs zu simulieren, las ich in einer Zeitung, dass das Gelände am Potsdamer Platz, welches in diesem Jahr 2009 meistbietend weiterverkauft wurde, schon im August 1989 an Sony für einen Spottpreis von 5,95 DM pro Quadratmeter verkauft worden war.
Am Morgen des 10. November waren viele Menschen in ihren Trabis in unserem bürgerlichen Charlottenburg gestrandet. Bei uns im goldenen Westen gab es kein Zweitaktergemisch, sie waren  liegengeblieben und hatten in ihren Autos übernachten müssen.
Wir waren ganz euphorisch, diese Menschen in unsere großen Wohnungen mit Berliner Zimmern zum Kaffee einzuladen, meine alte BMW brauchte auch so ein Gemisch, das sprach sich herum, für einige paar Stunden war ich bei Trabifahrern beliebt.
Am 10. November hatte ich gemeinsam mit einem Kollegen einen Termin im Bezirksamt Wedding. Den ließen wir sausen und sind zur Bornholmer Brücke gegangen, er war dort 1961 mit seiner Mutter vom Prenzlauer Berg in den Wedding gegangen, Sichtvermerke ohne Wiederkehr, und wir sind mindestens ein dutzend Mal auf der Brücke hin und her gegangen. Mein Kollege war in eine Art Trancezustand gefallen, er konnte es nicht glauben, die Brücke war nun wieder Teil der gesamten Bornholmer Straße.
Leider wird der Fall der Mauer immer wieder auf die wenigen Tage der Euphorie im November 1989  zu reduzieren versucht. Unter der Rubrik Sichtvermerke ist für Komplexität zu wenig Platz.
Am Abend waren wir mit unseren Kindern am Brandenburger Tor, es war ihnen zu laut und zu kalt, wir blieben nicht lange, schon an diesem Tag wurde viel Mauerwerk abgerissen, noch bis Mitte des ersten Jahrzehnts unseres neuen Jahrhunderts wurden so viele Bruchstücke dieser Mauer für Rubel und Dollar als Souvenirs verkauft, so lang und breit kann sie gar nicht gewesen sein.
Ende 1988 war Rosemary Whiffen aus London bei uns am BIF und hatte Kontakte zu Ostberliner Kollegen mitgebracht, wir hatten selber bis dahin keine. Es gab eine Gruppe von 12 Psychologen, die interessiert waren, Familientherapie zu lernen. Wir fuhren daraufhin zu ihnen nach Ostberlin, um einen Weiterbildungskurs zu planen. Tagesvisum und Zwangsumtausch von DM 25,00 kannten wir Westberliner ja längst, dafür konnten wir üppig essen gehen, Bücher, Schallplatten, Noten von Partituren, Zigaretten, Schnaps und sonst wenig kaufen, es blieb immer etwas bei Freunden oder im Intershop übrig.
Unsere Beziehungen veränderten sich mit dem 9. November, bis dahin hatte die Idee einer Weiterbildung in Ostberlin für uns etwas Konspiratives und reizvoll Verbotenes, für die Ostberliner etwas Elitäres und Verschworenes, aber das war nun hinfällig geworden. Wir wurden zu vereinnahmenden Besserwessies und sie die überwältigten Wendeverlierer.
Beziehungsgestaltend wurde einmal wieder die Art und Weise und nicht das eigentliche Geschehen.
Wir eröffneten 1990 schon im Februar eine Beratungsstelle in Berlin- Treptow, in der ehemaligen Poliklinik des Elektroapparatewerks EAW. Im niedrigen Obergeschoss der Verwaltung mit den noch vorhandenen endlosen Karteikästen mir nicht bekannter und nur erahnter Vorgänge einer Ostbürokratie und Überwachung begannen wir den Versuch einer Ost-West-Kooperation.
Im Treppenhaus gab es einen wohl heute denkmalgeschützten Linoleumfußboden in beige-ocker-gelb-braunen geometrischen Formen von Kreis bis Vieleck. Heute gehört das ehemalige Hauptgebäude der Poliklinik der Allianz.
Damals konnten wir ABM-Stellen für zwei Psychologen beantragen. Wir arbeiteten im Team und mit Videoaufzeichnungen, die Ostkollegen fühlten sich kontrolliert und wenig bereichert, wir hatten viele Familien, die durch berufliche und soziale Wendungen in Krisen geraten waren, wir diskutierten die Bedeutung der Psychiatrie in Ost und West, wir taten uns schwer in der Zusammenarbeit. Ohne die Ostkollegen wäre keine therapeutische Beziehung entstanden. Wir sind kein gleichberechtigtes Team geworden. Die Hierarchien in den Köpfen ließen sich nicht so schnell auflösen.
Mit der Mauer war über Nacht das Rückrat Berlins verschwunden, Berlin ohne Wirbelsäule hatte keine motorische Koordination mehr, der Westen wucherte in den Osten, der Osten wucherte in den Westen, keine Sichtvermerke mehr zur Orientierung. Wir befanden uns in einer Grauzone guter Nachbarschaft, in wesentlichen emotional besetzten Gebieten bezweifle ich noch heute, dass die Mauer gefallen sein soll.
Berlin konnte eventuell nur zu einer beliebten, ausgelassenen, fröhlichen und kulturell interessanten Stadt werden, indem die Mauer nach Osten verschoben wurde. Ich bin gerade von einer Reise in die Ukraine zurückgekommen und habe wieder einen rechteckigen Stempel in den Sichtvermerken. Die Einreise nach Polen kann zehn und mehr Stunden dauern, nun verläuft hier die Grenze zwischen EU und Osten, zwischen Stalin und Adenauer, West- und Ostwährung, Kapitalismus und Oligarchie, Pressefreiheit und Unterdrückung.
Vielleicht ist die Idee der EU nur eine psychologische Kompensation postimperialer loser, von denen es keinem gelungen sein wird, an der Weltherrschaft wirklich mitzudrehen. Alleinige Supermacht werden zu wollen, sollte ein Abschreibungsobjekt Europas geworden sein. Vielleicht bleibt das eine gute Voraussetzung dafür, todernst gemeinte Grenzen überschreiten zu können und letztendlich so etwas wie Frieden zwischen Menschen als etwas Wichtigeres zu erleben. Ich finde, dass Günter Schabowski in seiner Pressekonferenz vom 9. November 1989 etwas augenzwinkernd unbeholfen und dadurch  ganz menschlich wirkt.
Dörte Foertsch, Systemische Therapeutin, Supervisorin und Lehrtherapeutin am BIF, lebt seit 2006 wieder im SO36.



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