Heute, am 24.2.2007, wird Rosmarie Welter-Enderlin 72 Jahre alt. Sie
hat die deutschsprachige familientherapeutische und systemische Szene
mit zahlreichen Vorträgen, Workshops und Veröffentlichungen nachhaltig geprägt,
vor allem aber mit ihren wegweisenden Kongressen, die sie mit ihrem
Meilener Team in regelmäßigen Abständen in Zürich organisierte, mit
denen sie nicht nur bedeutsame Akzente im systemischen Diskurs setzte,
sondern auch dafür sorgte, dass bestimmte Themen überhaupt (wieder)
Eingang in diesen Diskurs fanden. Mittlerweile hat sich Rosmarie
Welter-Enderlin – wie lange geplant – aus dem Institutsbetrieb des von
ihr gegründeten Ausbildungsinstituts in Meilen zurückgezogen. Zum
Geburtstag bringt systemagazin ein Interview mit ihr über ihre eigene
Lerngeschichte, das kurze Zeit vor ihrem Rückzug aus dem Institut
geführt wurde, verbunden mit einem herzlichen Glückwunsch.
Tom Levold
TL: Ich möchte mit Dir darüber
sprechen, wie sich Deine Lebensgeschichte als Lerngeschichte darstellt.
Gibt es eine früheste Lernerfahrung?
RWE: Bei uns war ja Lesen ein Privileg, weil wir arbeiten mussten. Und
Lesen wurde nicht mit Arbeiten verknüpft. Wenn ich der Arbeit
ausweichen wollte, d.h. verschwinden wollte, damit die mich nicht
fanden, bin ich immer auf den Dachboden gestiegen. Da gab es
wunderschöne alte gebundene Bücher, die waren von meinem Großvater, der
war Lehrer. Da gab es Goethe und Schiller unter anderem, und da hab ich
mich durch dieses Zeug durchgefressen und hab' unglaublich viel
gelernt. Völlig unbeleckt von irgend etwas, aber gerade das war für
mich eine ganz tolle Lernerfahrung, weil ich damit einen Raum für mich
selber gefunden habe und weil ich weg von allem Pädagogischen und
Schulmeisterlichen war und meine eigenen Gedanken gedacht habe.
Lernen als etwas ganz Eigenes, aber immer in der Auseinandersetzung mit dem, was Du um Dich herum vorgefunden hast?
Genau. Damit ging natürlich auch die Erfahrung einher, etwa nur ein
Viertel von dem verstanden zu haben, was da geschrieben war, Hölderlin
zum Beispiel, aber dass ich unglaublich viel einfach von mir her da
herausbekommen habe. Ich erinnere mich noch immer an Szenen aus meiner
damaligen Lektüre.
Und konntest Du das mit irgendwem teilen?
Ja. Geteilt habe ich das mit meinem Vater, der der Intellektuelle in
der Familie war, als ich alle diese Bücher heruntergeschleppt habe vom
Dachboden und eingebunden habe, weil die alle so ein bisschen
zerfleddert waren. Da hat er mal sehr traurig gesagt „Ja, das habe ich
auch alles mal gelesen - und dann weggelegt, weil eben das Geschäft
dazwischen kam“.
Wenn ich mir heute diese Bücher anschaue, die ich noch habe, da könnte
ich das gar nicht mehr lesen. Es ist alles noch in der alten
Sütterlin-Schrift geschrieben. Ich habe mir vieles davon später in
modernem Druck gekauft und lese es auch noch, als Kind habe ich mich
aber in diese alte Schrift hineingekniet.
Lernen ist also mit Lesen ganz innig verbunden?
Absolut: Mit Lesen und mit Sprache.
War der Dachboden ein Ort, mit denen Du mit Lernen assoziierst? Und gibt es andere Orte?
Eben der Dachboden, ganz allein hinter Kisten mich verstecken - und
unten haben sie meinen Namen gerufen und ich habe nicht reagiert.
Natürlich durfte man in den Ferien lesen, da waren wir in der
Innerschweiz, über dem Vierwaldstätter See in einer Hütte. Und da haben
sich eben alle von uns irgendwo unter einen Baum gelegt und gelesen.
Wie waren Deine Erfahrungen mit Schule?
Ja wenn ich das vergleiche mit Ruedi, meinem Mann, der war nicht in der
gleichen Klasse wie ich, der hat unglaublich gelitten, weil er es so
langweilig fand, und ich fand es so spannend, dass ich immer unter dem
Tisch geschrieben habe – für mich selber. Das war wieder das Thema
„eigenen Raum haben“, nicht arbeiten müssen, also nicht im Geschäft
sein müssen.
Heißt das, dass Lehrer eigentlich keine große Rolle gespielt haben?
Ja, zunächst nicht. Auf dem Gymnasium war es dann anders. Da hatte ich
eine wirklich gute, trockene, aber interessante Deutschlehrerin. Die
hat mich zu Kleist hingeführt, weil Kleist ihr Lieblingsschriftsteller
war. Mit der konnte ich gut und sie hat auch alle meine Aufsätze
bestens bewertet und auch mir immer Zuspruch gegeben.
Und später?
Da war natürlich die Erfahrung mit Amerika. Da war die Fremdsprache -
und ich habe ziemlich schnell bemerkt, dass ich mich in der
Fremdsprache, also im Englischen, besser ausdrücke als im Deutschen,
weil ich viel konzentrierter schreiben konnte. Ich habe viele gute
Noten für das bekommen, was ich geschrieben habe, habe auch stundenlang
in der Bibliothek gehockt und alles andere gelesen als das, was
Pflichtlektüre war. So z.B. bin ich auf Jay Haley gestoßen.
Wann bist Du in die USA gegangen?
64-74 waren wir da. Ich habe von 1965 bis 1967 dort studiert und 1967
ist auch unsere Tochter Barbara zur Welt gekommen. Irgendwie ist es
unglaublich: Ich lese damals irgendwann die erste Nummer von „Family
Process“ und bin überrascht, denn ich verstehe nicht nur alles, sondern
finde auch alles toll. Jay Haley schreibt (als Gründungsherausgeber)
über Family Therapy in einer Weise, die für mich ganz neu und
faszinierend ist, und jetzt bin ich selbst im Board of Editors von
Family Process. So ist das bei mir: Alles ein bisschen quer, eben nicht
nur brav die Pflichtlektüre lesen, sondern eigenständig etwas finden.
Dann habe ich Haley geschrieben, später ist er auch nach Ann Arbor
gekommen, da haben wir wirklich eine gute Freundschaft mit ihm
gewonnen. Er kam 1975 sogar nach Zürich. Aber um auf‘s Lernen
zurückzukommen: Im Grunde bin ich da wie Ruedi, ich liebe das
Eigenständige und nicht das, was man tun muss.
Du bist ja mit 29 nach Amerika gegangen. Was war in der Zwischenzeit, zwischen Schule und Auslandsaufenthalt?
Dazwischen habe ich die Schule für Soziale Arbeit in Zürich drei Jahre
gemacht. Auch hier wieder dieses Muster: stundenlang in der Bibliothek
gesessen und alles gelesen, was nirgends auf einem Lehrplan war. Da bin
ich oft gerügt worden, weil ich nicht die Pflichtaufgaben gelesen
hatte. Stattdessen hatte ich Freud gelesen. Ich habe mich riesig
gefreut über die Zeit, die ich da verbracht habe.
Wie ist der Entschluss zustande gekommen, ins Ausland zu gehen?
Na ja, der kam nicht von mir (lacht). Ich hatte alle Vorurteile, die
man haben kann. Ich habe die ganze Nacht vor unserer Abreise geheult,
weil ich es unglaublich gemein von Ruedi fand, dass er in so ein
scheußliches Land wollte mit mir. Als wir 1964 ankamen, da war gerade
Präsidentschaftswahlkampf. Alles war genau so, wie ich es erwartet
hatte, dieses Lautschreierische, diese Fernsehshows, dieses „In your
heart you know he is right“-Zeugs. Dann gab es natürlich auch noch
dieses Bild der USA, das viele Europäer aus den 50er Jahren hatten:
tolle Kühlschränke, tolle Autos, also Technik.
Was hast Du dann in den USA gelernt?
In Ann Arbor, das ist eine mittelgroße Stadt mit starken deutschen
Wurzeln, hatten wir im Nu viele Freunde. Aber an der Uni war ich
natürlich die Ausländerin für relativ lange Zeit. Das war nicht
einfach. Gegen Ende des Studiums hatte ich eine Enkelin von Freud als
Tutorin, die mir sehr Mut zusprach, das hat mir schon geholfen. Aber
die Ausbildung und vor allem meine Praxistage in der Psychiatrie, das
war sehr anregend.
Kann man sagen, Du hast Dir praktisch Deine Lehrer gesucht?
Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen. Ruedi hat ja bestimmt, dass
wir an die University of Michigan gehen, d.h. wir hatten vorher noch
etwas anderes, aber er hat gesagt, da gehe ich nicht hin. Die
University of Michigan hatte aber ein wunderbares social sciences
department. Dort habe ich Anatol Rapaport kennen gelernt und habe viel
Zeug von ihm gelesen, Spieltheorie zum Beispiel - etwas, das nicht
„offiziell“ anerkannt war, wobei ich aber eine Menge gelernt habe.
War das Dein erster Lehrer in Systemtheorie?
Ja. Das kann man sagen. Robert L. Kahn
war ein anderer wichtiger Lehrer. Vor allem Richard Stuart, den ich
immer noch sehr mag, so etwa vier Jahre älter als ich, ein New Yorker
Jude, der Rabbiner war und Behavior Modification lehrte. Ich hatte zwar
immer Mühe mit dem „technokratischen“ Teil, aber ihn als Person habe
ich sehr geschätzt. Er hatte viel Witz und setzte den auch viel in
Life-Gesprächen ein. Irgendwann hörte ich mal, wie er zu einer jungen
Frau sagte: „You have to learn to shake hands, not penises“.
Wer war noch in Deinem Umfeld in Ann Arbor, von dem Du sagen würdest, dass er Dich beeindruckt hat?
John Kenneth Galbraith. Der hat die Ansprache auf unserer
Abschlussfeier gehalten. Kurt Lewin, der Gruppendynamiker, war auch
dort. Und gute Soziologen gab es, viel Gemeindesoziologie, eine ganze
Reihe. Aber am meisten beeinflusst hat mich Stuart, der dann auch Jay
Haley nach Ann Arbor gebracht hat, Bill Lederer, Clarissa Freud und
eben Anatol Rappaport.
Wie hast Du Jay Haley als Lehrer erlebt? Konnte man bei ihm gut lernen?
Was ich besonders an ihm mochte - ich hatte ja viele Life-Gespräche bei
ihm gemacht in seiner Gegenwart - war folgendes: wenn ich ihm sagte
„Ich habe Angst“ oder „das war keine gute Therapie“, dann war er immer
sehr unterstützend. Für manche war sein Stil vielleicht etwas
unangenehm, ich hatte da nie mit ihm Probleme.
War denn damals für Dich schon klar, wohin das für Dich gehen sollte?
Nein, noch nicht. Ich war einfach neugierig, ich war sehr angeregt von Leuten, die denken konnten. Das war es einfach.
Gab es für Dich Schlüsselmomente, in denen Du das Gefühl hattest, jetzt ist eine Weiche gestellt worden?
Ja, das waren immer Situationen, wo ich merkte: „das willst Du auf gar
keinen Fall“. Zum Bespiel in der psychiatrischen Klinik in Toledo,
Ohio, eine Stunde weg von Ann Arbor. Da gab es einen tschechischen
Psychiater, der hat uns eine Psychoanalyse von der blöden Art
beigebracht. Bei dem habe ich auch eine Lehranalyse machen müssen. Ich
war so viel weiter als er, dass er mich dann rausgeworfen hat. Die
Arbeit in der Klinik selbst habe ich faszinierend gefunden, weil wir
vor allem mit jungen Schizophrenen zu tun hatten und die Familien mit
einbeziehen konnten.
Gab es einen persönlichen Durchbruch für Dich?
Ja. ich wurde dann irgendwann von Richard Stuart in ein
Forschungsprojekt eingeschleust, da habe ich viele Life-Gespräche mit
Videoaufnahme gemacht und die haben wir dann im Team gemeinsam
betrachtet. Was ich da gelernt habe, also aus der
gruppentherapeutischen Perspektive plus der systemischen, das half mir,
irgendwann über mich hinauszuwachsen. Wir arbeiteten viel mit Familien
mit drogenabhängigen Jugendlichen. Das war richtig gut - wir hatten ein
Wissen, das direkt anwendbar war.
Gab es auch Krisen? Hat Dich etwas
verunsichert in diesem Prozess oder zum Zweifeln an dem gebracht, was
Du gelernt hast in dieser Zeit?
Eine Krise hat mich lange begleitet, allerdings etwas später. Als ich
begann, Paartherapie zu machen, später in Zürich, bin ich völlig
verzweifelt an den systemischen Konzepten, weil ich kein Konzept für
Individuen hatte, was ich wusste, bezog sich alles nur auf Interaktion
und die therapeutische Haltung, immer schön neutral draußen zu bleiben.
Damals hätte ich fast die Flinte ins Korn geworfen. Ich habe dann
irgendwann mal mit Mara Selvini darüber geredet und sie hat gesagt:
„Das mit der Neutralität ist ohnehin schwierig. Du darfst ruhig das,
was Du aus der Psychoanalyse kennst, in Deine Praxis mitnehmen“, aber
das war eine Zeit in den 70er Jahren, wo alles immer nur auf
Neutralität Wert legte.
Wie hast Du die Situation nach Deiner Rückkehr 1974 in Zürich überhaupt wahrgenommen?
Wir waren erstmal ganz offen für das, was da auf uns zukam. Und wir
mussten ja auch Geld verdienen. Ruedi hat zunächst bei seinem Vater,
der ja Dachdecker war, auf dem Dach mitgearbeitet. Ich hatte anfangs
ein paar kleine Aufträge bei der Invalidenvereinigung. Ich wollte
natürlich auch unbedingt Therapie machen. Das erste, was ich da
mitbekam nach meiner Rückkehr, war ein „gamologisches Symposion“.
Ein was?
Ein gamologisches Symposion. Gamologie ist die Lehre von der Ehe. Das
war von Josef Duss von Werth organisiert worden, der auch auf solche
Begriffe Wert legte. Ich habe mich da gleich angemeldet. Am Abend vor
dem Kongress wurde ich von Duss angerufen, die Heigl-Evers sei krank
geworden. Er hatte mich auf der Anmeldeliste entdeckt und schon gehört,
dass ich von Amerika kam. Ich wusste gar nicht, wer Heigl-Evers war.
Ich hatte auch gar keine Ahnung, dass ich da mitten in die Höhle des
Löwen, nämlich einer Analytikerin geraten war, jedenfalls habe ich
ihren Workshop übernommen. Der war gerammelt voll von
Psychoanalytikern, die meisten von der Frankfurter Schule, von denen
ich auch nichts genaues wusste, und die haben mich dann zu attackieren
begonnen, weil ich einen Mini-Rock trug! Das sei ja so etwas von
Gegenübertragung, was ich da mache - also so ein ziemlicher Quatsch.
Jedenfalls sind alle Psychoanalytiker empört aus dem Workshop
herausgegangen und es fühlte sich ziemlich nach einer Niederlage an,
bis dann am Nachmittag der Workshop überflutet wurde von anderen
Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht an meinem Minirock störten und
absolut aktiv waren. Das Schandwort vorher war ja „Agieren“. Aber ohne
Agieren kann man nicht Therapie machen, sagte ich, das war natürlich
böse. Am Schluss kam dann Jürg Willi dazu, der damals schon mit Duss
zusammenarbeitete, und lud mich ein, ein Seminar für die
Therapieausbildung am Institut zum Thema Rollenspiele zu machen. Ich
war höchst verblüfft, dass man das noch lehren musste, habe es aber
dann gemacht.
Wann hast Du dann im Institut für Ehe und Familie angefangen?
Eigentlich sofort. Duss hat mich eingeladen 1974, 1975 war dann der
große Kongress, wo ich schon Jay Haley, Virginia Satir geholt habe.
Zunächst habe ich in Teilzeit gearbeitet, die Kinder waren ja noch sehr
klein. Aber ich habe eigentlich immer sehr viel mehr gearbeitet als in
meinem Vertrag drinstand, weil ich nicht nur viel Therapie machte,
sondern auch viel an Ausbildung - ich hatte eben auch die guten
Verbindungen in die USA. Irgendwann habe ich beantragt, dass ich
Co-Leiterin des Institutes werde. Duss hat das dann auch befürwortet,
es war aber doch konflikthaft und hat dann schließlich zum Bruch
geführt.
Wie hast Du den Unterschied zwischen
den USA und der Schweiz in dieser Zeit erlebt? Als ich 1980 mit der
Familientherapie anfing, gab es ja in Deutschland und der Schweiz noch
keine durchorganisierte familientherapeutische Landschaft, sondern eher
eine große Spielwiese und vor allem eine begeisterte Aufbruchstimmung,
aber Du hast ja noch die allerersten Anfänge mitbekommen.
Es war alles noch ein bisschen schlafend, aber gerade diese Situation
hat mich auch sehr stimuliert. Ich war plötzlich in der Rolle der
Pionierin. Jürg Willi und ich waren die Einzigen, die vor KollegInnen
Life-Gespräche durchführten, wir schrieben und veröffentlichten. Es war
ja für mich selbstverständlich, dass man Familientherapie lehrt, indem
man zeigt, was man tut. Ich war dann auch verantwortlich dafür, dass
eine Videoanlage eingerichtet wurde.
Im Grunde warst Du ja sehr schnell in
der Position, das, was Du selbst lerntest, sofort selbst weitergeben zu
müssen, dass also Lernen und Lehren sehr nahe beieinander waren. Was
findest Du bei der Organisation von Lernprozessen besonders bedeutsam?
Ganz wichtig ist, dass man gute Kolleginnen und Kollegen hat, die man
richtig wertschätzen kann. Und die auch kritisch sind. Nachdem Doris
Bischof-Köhler bei mir eine Weiterbildung gemacht hatte, hat ihr Mann,
Norbert Bischof, der einen Lehrstuhl für Psychologie an der Universität
Zürich hatte, mich angefragt, ob ich bei ihm nicht einen Lehrauftrag
wahrnehmen möchte. Er war sehr sehr kritisch, aber auf eine gute Weise,
nicht destruktiv, und das habe ich immer sehr geschätzt. Jürg Willi war
auch einer davon, wir haben uns sehr ernst genommen, auch wenn wir über
manches verschiedene Ansichten hatten. In anderen Worten: Lernen heißt
für mich – vor allem, wenn man schon ein bisschen weiter ist – mit
Leuten zusammen zu kommen, die ihr Wissen teilen wollen und die
neugierig sind.
Ist es nicht auch ein Ansporn zu
lernen, wenn man anderen etwas anbieten möchte? Dass man zunächst
einmal sagt, ich kann das, und dann ist man durch diese
Selbstfestlegung auch gezwungen, sich das genau zu erarbeiten, um es
auch weitergeben zu können?
Oh ja. Machmal setzt man einen guten Titel in die Welt - und vier
Wochen vor dem Workshop stellt man plötzlich fest, ich verstehe ja gar
nichts davon – und dann muss man halt lesen, oder mit Leuten darüber
reden.
Was magst Du an Deinen Lernweisen besonders gerne?
Zwei Dinge. Das eine ist: Lernen, während ich etwas tue. Das betrifft
vor allem meine Therapien. Also erst ein Thema vor mir zu haben, z.B.
Familiengeheimnisse oder so etwas, und dann einfach durch meine
Erfahrungen und mein Denken und meine Modelle situativ zum guten
Handeln zu kommen. Das andere ist einfach, Zeitschriften zu studieren
und: im Bett zu lesen. Wenn man Hunger hat, muss man sich gut nähren.
Hast Du einen bestimmte Technik? Was hilft Dir beim Lernen?
Das geht nur über Interesse. Eben Neugier. Wenn ich mit einem Thema
beschäftigt bin, wie z.B. Anorexie, dann lese ich erstmal alles, was es
an Neuem zum Thema gibt. Da bin ich dann schon ziemlich selektiv.
Streichst Du Dir Sachen an?
Ja. Ich streiche Sachen an, mache aber auch Kopien, weil ich nicht die
ganzen Bücher versauen will, und markiere dann auf den Kopien die
wichtigen Stellen.
Erinnerst Du Dich an das, was Du angestrichen hast, oder wie kommst Du später wieder auf Deine eigenen Spuren?
Nein, ich muss dann z.B. Mappen anlegen, in denen ich das Material
sammle. Es kommt einfach drauf an. Wenn ich mich mit etwas ganz Neuem
beschäftigte, lasse ich den Computer erstmal außen vor. Wenn ich mich
aber mit Dingen beschäftige, mit denen ich mich gut auskenne, dann
hilft mir der Computer schon, darauf hinzuweisen, was wo aufgeschrieben
ist. Neues, das muss ich immer noch von Hand bearbeiten.
Wie fließen diese Lernerfahrungen in das Curriculum der Weiterbildung ein?
Das ist ganz unterschiedlich, weil wir im Team unterschiedlich sind. Es
gibt Kollegen, die geben ganz viel Papier zum Lesen heraus, ich gebe
wenig Kopien, aber schreibe Punkte auf, die mir wichtig sind. Das kann
man sehr verschieden machen. Wir werden ja von der Weiterbildungsgruppe
mit Fragebogen evaluiert. Wenn dann die Rückmeldung kommt, dass man mit
der Theorie-Arbeit Schwierigkeiten hat, dann ist das für mich
allerdings ein Problem.
Manchmal kommt von den Weiterbildungsteilnehmern nichts. Wenn die nicht
begierig sind, nicht lernen wollen, dann komme ich mir immer mehr wie
eine alte Katze vor, die den Jungen zuschaut, wie sie sich mit den
Mäusen verhalten und irgendwann dann sich selbst die Maus nimmt und
frisst. Ich bin einfach sehr ungeduldig, wenn die nicht lesen oder
lesen wollen.
Was wirst Du machen, wenn Du Dich aus dem Weiterbildungsbetrieb zurückgezogen hast?
Was ich zukünftig tun will, ist sicher, weniger pragmatisch zu lesen, sondern offener, vielleicht entsteht etwas Neues daraus.
Wird es mehr Spielraum geben, wenn Du Dich aus dem Tagesgeschäft des Meilener Instituts zurückgezogen hast?
Ich werde wahrscheinlich zwei Tage in der Woche in meinem Büro sitzen,
aber auch viel ordnen und wegwerfen - und schauen, wo ich mich noch
vertiefen möchte.
Für Dich ist Lernen eigentlich das Reich der Freiheit und der Notwendigkeit zugleich.
Ja. Und die Notwendigkeit will ich ein bisschen nach hinten schieben.
Könntest Du Dir Dich selbst als eine Teilnehmerin in WB-Kursen vorstellen?
Nein (lacht), ich glaube nicht. Dafür bin ich zu ungeduldig.
Könnte man sagen, Dein Lernmuster ist, dass Du immer wieder auf den „Dachboden“ gehen und Deine eigenen Studien anstellen musst?
Das trifft es ziemlich genau.
Herzlichen Dank für das Gespräch! |