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systemagazin special: "Das erste Mal"
Sabine Klar: Ich begrüße die „Risse und Beulen“ meiner Welt

Ich muss sagen, dass es schön ist, nach nunmehr 18 Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit über meine Anfangszeit berichten zu können. Es erinnert mich daran, auf welch unsicherem Boden ich mich damals mit einer aus heutiger Sicht unerhörten Chuzpe bewegte. Psychotherapiegesetz gab es keines und die Möglichkeit, dieser hehren Aufgabe nachzugehen, war auf ÄrztInnen (ev. gerade noch PsychologInnen) beschränkt. Alle übrigen duckten sich unter dem Damoklesschwert der Kurpfuscherei und durften sich allenfalls Berater nennen. Ich selbst hatte gerade mein Studium irregulare abgeschlossen – eine Fächerkombination aus Zoologie, Neuro- und Sinnesphysiologie, Psychologie und Völkerkunde –, nannte mich davon ausgehend „Humanethologin“ und versuchte mühsam, mit diesen ungewöhnlichen Ausgangsvoraussetzungen eine Möglichkeit zu finden, mit Menschen zu arbeiten und dabei auch noch Geld zu verdienen. Da das Geldverdienen im Vordergrund stand – ich hatte zwei kleine Kinder zu versorgen – machte ich nebenbei eine Ausbildung zur Religionslehrerin. Diese Kombination verschaffte mir eine Stelle in einem katholischen Familienforschungsinstitut, in dem ich mich über mehrere Jahre in der Begleitung eines Wohnprojektes und bei diversen Forschungen zum Thema soziale Netzwerke soziologisch versuchte. Ich hantelte mich auf diese Weise von Projekt zu Projekt, immer mit dem Gefühl, eigentlich bloß so zu tun als ob und der geforderten fachlichen Qualifikation nicht wirklich entsprechen zu können. Um mir einen besseren Stand im Humanbereich zu schaffen und vom Bild der Zoologin wegzukommen, die „Menschen mit Graugänsen vergleicht“, begann ich schließlich eine Beraterausbildung. Dass es sich dabei um eine systemische handelte, war eigentlich purer Zufall – und im nachhinein gesehen großes Glück. Man nahm mich zu meinem eigenen Erstaunen in das Curriculum auf – später erfuhr ich, dass „die Biologie“ zu dieser Zeit über die Einflüsse von Humberto Maturana und Francisco Varela, die uns den Konstruktivismus nahe brachten, in der systemischen Schule modern geworden war. Nun saß ich also glücklich in der Ausbildung – zusammen mit ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen und anderen, die in der praktischen Arbeit mit Menschen bereits versiert und erfahren waren. Ich stürzte mich leidenschaftlich in die damals sehr exzessiv geführte konstruktivistische Theoriediskussion, würzte sie mit der etwas anders gelagerten Theorie der evolutionären Erkenntnistheorie (Konrad Lorenz, Rupert Riedl), mit der ich im Studium konfrontiert worden war und ging den PraktikerInnen in unserem Curriculum damit gehörig auf die Nerven.
Ich kann sagen, dass es bei mir im Zusammenhang mit meiner Entwicklung als systemische Therapeutin zwei „erste Male“ gab. Beide Ereignisse bewerte ich so, weil sie einen Neubeginn in meinem fachlichen Umgang mit Menschen markierten und mir völlig neue Wege eröffneten.
Das „erste 1. Mal“ fand etwa ein halbes Jahr nach Beginn meiner Beraterausbildung im Kontext der Familienberatungsstelle des katholischen Forschungsinstituts statt, in dem ich angestellt war. Ich wollte dort eigentlich ein Praktikum beginnen, doch bald stellte sich heraus, dass man davon ausging, dass ich eigenständig arbeiten und auf diese Weise kostenlos eine Beraterin ersetzen sollte. Aus heutiger Sicht erscheint das sicher unverantwortlich, doch damals verlief alles noch ganz anders und außerdem hätte ich (aus Joberhaltungsgründen) viel vermieden, um im Humanbereich inkompetent zu erscheinen. Schließlich hoffte ich (übrigens vergeblich) auf ein bis zwei bezahlte Beraterstunden pro Woche in den nächsten Jahren, die mein läppisches Gehalt ein wenig aufbessern sollten. Im Klartext: ich lebte damals von der Hand in den Mund. Ich saß also vor meinen Klienten und hatte – wegen meines Lampenfiebers und meiner Unsicherheit – einen Spickzettel mit zirkulären Fragen in der Hand, den ich allerdings bald weglegte. Neu war für mich, dass ich mich nicht auf die Beobachterposition zurückziehen konnte, sondern die Klienten redend verstehen musste. Zu Beginn tendierte ich dazu, ihnen bloß zusehen und zuhören zu wollen – den Notizblock in der Hand. Eigenartigerweise lief es gar nicht so schlecht – ich interessierte mich halt für diese konkreten Menschen und ihre Probleme. Auf klinisches Vorwissen und methodische Kenntnisse oder Erfahrungen konnte ich sowieso nicht zurückgreifen – also tastete ich mich gemeinsam mit ihnen in äußerst partnerschaftlicher Weise voran und probierte alles mögliche aus. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mir auch heute noch schwer tue, diverse Techniken, die andere entwickelt haben, zu übernehmen – ich mache alles aus mir selbst heraus, lasse mich zwar vom Interesse anderer anstecken, wende aber ihre Methodik nicht an, sondern erfinde von Mal zu Mal eigene Vorgehensweisen. Was mir damals geholfen hat, ist sicher die spezifische Neugier, die Ethologen (= Verhaltensforscher) menschlichen und tierischen „Viechern“ entgegenbringen – mir war die in der Ausbildung vermittelte Haltung zutiefst vertraut. Von meinem Lehrer Otto Koenig (Kulturethologe und Leiter der Forschungsstation Wilhelminenberg) hatte ich gelernt, Menschen mit einem nüchternen und unvoreingenommenen Interesse zu begegnen, das sie in ihren animalischen Anteilen, ihren sozialen Bezügen und ihrem konkreten Tun beobachtet, ohne sie zu diagnostizieren oder auf andere Weise zu bewerten. Vieles, was anderen „krank“ oder „auffällig“ vorkam, erschien mir im Sinn des „menschlichen Viechs“ völlig normal zu sein. Geholfen hat mir damals sicher auch das Vertrauen meiner Ausbildungsleiter (Joachim Hinsch war einer davon), die mich gehen ließen, wohin und wie ich wollte.
Das „zweite 1. Mal“ ereignete sich viel später. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits etablierte Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin, hatte die gängigen Methoden und Techniken kennen gelernt, weiter entwickelt und vermittelt - und war dennoch unzufrieden mit meiner Arbeit, ohne genau benennen zu können, weshalb. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich trotz aller Offenheit in diesem Umfeld im Kreis zu bewegen und nichts wirklich Neues mehr lernen zu können. Zu dieser Zeit traf ich den Philosophen Franz Reithmayr und holte mir die eine oder andere Supervisionsstunde zu schwierigen Fällen bei ihm bzw. gab ihm meine schriftlichen Texte zu lesen. Über seine Beobachtungen und Bemerkungen war ich zunächst erschrocken und schockiert – später begannen sie mich so zu faszinieren, dass ich mich entschied, mit ihm in allen möglichen Bereichen und auch in der Therapie zusammen zu arbeiten, obwohl bzw. vielleicht gerade weil er kein Psychotherapeut ist. Das konkrete Ergebnis dieser Kooperation ist das Institut für angewandte Menschenkunde (IAM; http://iam.or.at). Ich bemerkte durch seinen Einfluss, wie sehr ich inzwischen mit meiner therapeutischen Schule und ihren Prämissen verwachsen war, entdeckte die Blindheiten und Unbeweglichkeiten, die sich daraus ergeben hatten, kam mir sozusagen auf die Spur, befreite mich von vielen Vorgaben und entwickelte eine größere Klarheit und Beweglichkeit in meinem Denken, Sprechen und Tun. Durch unsere sehr unterschiedlichen Lebenszugänge, weltanschaulichen Schwerpunkte und persönlichen Eigenarten bekamen im Gespräch mit den Klienten mehr Themen und Umgangsformen Platz  – es wurde lebendiger, ehrlicher, provokanter. Die Wichtigkeit sich an systemischen Techniken und an einer „wohlwollenden“, „positiv konnotierenden“ Haltung zu orientieren die man „einnimmt“, relativierte sich deutlich.
Beim „ersten 1. Mal“ hat mir das ehrliche Zutrauen in meine Fähigkeiten geholfen, mich auf den Weg systemischer Therapie einzulassen (eine bloß eingenommene „wohlwollende Haltung“ bzw. „angewendete“ positive Konnotation hätte sicher nichts gebracht). Beim „zweiten 1. Mal“ (ich verknüpfe mit dem Beginn dieser Zusammenarbeit mit Reithmayr eigentlich auch eine neue Ausbildungsphase, die in eine ganz andere Richtung ging) habe ich gelernt, die nunmehr vorgegebenen systemischen Wege zu verlassen um sie und mich (teilweise auch kritisch) von außen zu betrachten. Das „erste 1. Mal“ war ein Beginn auf dem Weg systemischer und psychosozialer Kompetenzentwicklung. Das „zweite 1. Mal“ ging daher mit Phasen der Verwirrung und Infragestellung und führte letztlich dazu, dass ich mich nun wirklich frei fühle, auch in meiner Arbeit so zu denken, zu sprechen und zu tun, wie es mir jeweils richtig erscheint. Ich habe dadurch Zugang zu einer mir ganz neuen Welt gewonnen. Darin finden sich nach wie vor systemisch markierte Wege, auf die ich zu manchen Zeiten auch zurückgreife. Es findet sich aber daneben, dahinter, darüber, darunter und völlig unabhängig davon noch viel mehr. Seitdem gibt es immer wieder „erste Male“ für mich – ich sitze da und bin ein Mensch, der sich für andere Menschen interessiert. Die Situation ist immer wieder und manchmal auch befremdlich neu für mich. Ich begrüße die „Risse und Beulen“ meiner Welt, die mein Vorverständnis erschüttern und mir die Schuppen von den Augen fallen lassen, weil ich daraus die Freiheit gewinne, mich ohne Markierung und Weg gemeinsam mit den anderen in die Landschaft zu begeben. Und ich werde den Teufel tun, mich wieder methodisch zu beschränken – auf was auch immer!



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