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systemagazin-special: "Besondere Begegnungen"
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Heidi Neumann-Wirsig: Lernen II. Ordnung
Mir scheint, dass das Ausmaß der Bedeutung, die Menschen und ihr Einfluss auf uns haben, erst viel später, im Rückblick Konturen annimmt und als prägend empfunden und bezeichnet wird. So jedenfalls ist es bei mir. Meine Lehrerin, Frau N., begegnete mir 1972. Sie war Dozentin in Methodik der Sozialarbeit an der Fachhochschule, an der ich studierte. Da unser Studienjahrgang politisch sehr aktiv war, gab es viele Vollversammlungen und Unterrichtsstreiks, die uns vom Studieren fernhielten. Lediglich eine kleine Gruppe von ca. 20 Studierenden nahm regelmäßig am Unterricht von Frau N. teil. Sie hatte Watzlawick´s „Menschliche Kommunikation“ für uns entdeckt und ihre Botschaft war: das ist das Buch für uns Sozialarbeiter/innen. Sie lehrte uns nicht nur den Inhalt zu verstehen, sondern wir übten in Rollenspielen als Klientenfamilien und Sozialarbeiter/innen mit Tonbandaufzeichnungen, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Ich sehe mich noch heute an einem Samstag (!!) in einem ausgekühlten Raum eines Gemeindehauses spielen und die Aufzeichnungen analysieren. Wir waren, ich war begeistert. Wir hatten den Eindruck, Sozialarbeit zu lernen und hilfreich sein zu können. Diese Erfahrung, das Verstehen der Literatur und die Experimente (wie Frau N. unsere Rollenspiele nannte) waren für mich und meinen gesamten beruflichen Weg entscheidend. Keine andere spätere Weichenstellung war so identitätsstiftend wie diese. Was machte diese Lehrerin so wichtig für mich? Zum Einen war sie überaus wissbegierig und neugierig, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Sobald sie irgendwo einen neuen theoretischen Ansatz oder eine Weiterentwicklung entdeckte, verblüffte sie uns damit. Zum Anderen kam sie aus der Praxis und hatte systemisches Arbeiten mit Klientenfamilien ausprobiert. Sie war gleichzeitig Theoretikerin und Praktikerin. Sie half uns, die Theorie zu verstehen und sie in praktische Sozialarbeit umzusetzen. Und ich erinnere mich besonders deutlich, dass sie nicht dozierte, sondern Fragen stellte, auf die wir Antworten suchten. Diese Fragen haben oft Irritation bei mir ausgelöst, und manchmal erschienen sie mir wie ein Koan, über das ich lange nachdenken und reflektieren musste, um zu einer Antwort zu kommen. Das Erstaunliche war, dass alle unsere Antworten nicht zu falsch und richtig führten, sondern neue Fragen bei ihr auszulösen schienen. Und sie traute uns zu, dass wir die Fragen beantworten konnten. Es waren wirklich keine leichten Fragen, mit denen sie uns konfrontierte, und heute würde ich sagen, sie haben bei mir häufig ein Lernen II. Ordnung bewirkt. Frau N. unterstützte und begegnete uns immer wertschätzend. Damals habe ich es nur gespürt. Heute sage ich, dass sie eine systemische Haltung zeigte, die erst viel später so beschrieben wurde. Noch zwei Mal war Frau N. besonders wichtig für mich. Sie vermittelte mir für ein Semester eine Praktikumsstelle, in der ich das bei ihr Gelernte ausprobieren durfte und in der mir meine Anleiterin mit der gleichen Haltung begegnete wie Frau N. Als ich 1980 meine Abschlussarbeit in der Supervisionsausbildung zum Thema „Systemisches Arbeiten und TZI im Vergleich“ schrieb, betreute sie meine Arbeit und half mir, systemisches Denken in die Supervision zu übertragen. Vermutlich weiß Frau N. nicht, wie wichtig sie für meine gesamte berufliche Entwicklung war. Wir haben nie darüber gesprochen, und der Kontakt besteht schon lange nicht mehr. Ob sie dieses Kalendertürchen öffnet, halte ich eher für unwahrscheinlich. Sollte es der Zufall wollen, so darf sie für sich in Anspruch nehmen, bei einer jungen Kollegin prägende Spuren hinterlassen zu haben.
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