Wednesday, December 5. 2012Traurig![]() Zu meiner Arbeit in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis gehört auch die Eingangsdiagnostik, in der es um einen Eindruck davon geht, wie sich ein Kind fühlt und was es beschäftigt. Im Satzergänzungstest, bei dem vorgegebene Satzanfänge von Kindern beendet werden, bildet ein etwa siebenjähriger Junge den Satz: „Ich bin traurig, … dass ich ein Brauner bin.“ In solchen Momenten kann ich nicht ruhig und neutral bleiben, sondern muss Stellung beziehen. Doch wie erklärt man einem Kind, dass nicht seine Hautfarbe das Problem ist, sondern rassistische Ausgrenzungen und Zuschreibungen, die sich bis in die Mitte der Gesellschaft ziehen? Ich habe ihm wohl gesagt, dass ich seine braune Farbe schön finde und niemand das Recht hat, in deswegen zu ärgern. Ich hätte auch sagen können: „Ich bin traurig und wütend, dass Du deswegen traurig sein musst". Tuesday, December 4. 2012Wunder und ZauberWie die Wunderfrage und andere lösungsorientierte Interventionen von einer Klientin nicht als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, sondern als echter therapeutischer Zauber erlebt wurde, schildert im heutigen Adventskalendertürchen Peter Kaimer, systemagazin-Lesern auch bestens bekannt: ![]() ![]() ![]() Monday, December 3. 2012Dick ist nicht immer dick!![]() „Die Sprache ist das Haus des Seins“ (Martin Heidegger)(1) In der Arbeit mit Menschen im Kontext interkultureller Begegnungen ist es wichtig, eine Sensibilität dafür zu entwickeln, wie kulturelle Unterschiede die Bedeutungsgebung der gesprochenen Sprache entscheidend mitbestimmen. Begriffe wie Autonomie und Individuation z.B. – hohe westliche Werte – haben in anderen Kulturen eine völlig andere Bedeutung, sie sind nicht mit einem so hohen Wert belegt wie in der westlichen Kultur. ![]() In einer Supervision stellte eine Teilnehmerin den Fall einer in Deutschland lebenden jungen indischen Familie vor. Ihre Herausforderung bestand darin, in der Erziehungsberatung mit den Eltern eine Ebene der Kooperation zu finden. Sie beschrieb das fast resigniert mit den Worten: „Ich bekomme keine Eintrittskarte in das Familiensystem.“ Bisher hatte sie vorsichtig versucht, die Eltern auf das „Dick sein“ ihres vierjährigen Jungen, des jüngsten von drei Kindern, anzusprechen. Die Eltern konnten das Verhalten ihres Jungen nicht als problematisch ansehen und verstanden nicht so recht, was an ihrem glücklichen Jungen problematisch sein sollte. Die Eltern hatten auf Empfehlung der Erzieherinnen des Kindergartens die Beratungsstelle aufgesucht. Die Erzieherinnen fanden, dass der Junge zu dick sei, sie formulierten schon in Richtung der möglichen Diagnose: Adipositas. Die Eltern sagten in der Beratung: „Das wächst sich aus, wenn er erst mal in die Schule kommt, bei unseren anderen Kindern war das auch so und jetzt ist doch alles gut …“ Alle Versuche, mit Hausaufgaben und Empfehlungen Einfluss auf ihr Erziehungsverhalten zu nehmen, waren bisher gescheitert. Die Beraterin wertete das als Nichtkooperation. ![]() Durch die Anregung der Supervisorin wurde eine Lösungsidee entwickelt, die diese Regel – Probleme werden nur im Kontext der Familie besprochen - nicht verletzt und gleichzeitig das Anliegen der Beraterin, das „Dick sein“ mit Hilfe der Erziehungsberatung bei den Eltern zu thematisieren, aufgreift. Die Teilnehmer wurden eingeladen, auf Moderationskarten dazu Fragen zu formulieren. Die Supervisorin hatte die Idee, diese Fragen dem familiären System zur Verfügung zu stellen und die Eltern einzuladen, sich gemeinsam zuhause Zeit zu nehmen und zu überlegen, welche Fragen wichtig wären, innerhalb der Familie zu besprechen. Die Beraterin wollte dann die Eltern bitten, die ausgewählten Fragen auf den Karten, sofern sie diese das als hilfreich fänden, in die nächste Sitzung als Rückmeldung mit zu bringen, ohne dass darüber gesprochen werden sollte. Die Supervision ermöglichte es der Teilnehmerin, eine kultursensible Sichtweise auf die Familie zu entwickeln, ihr Beratungskonzept zu modifizieren, um die Familie in den Beratungskontext zu integrieren. In einer späteren Supervision berichtete sie, dass es Ihr gelungen war, ein Arbeitsbündnis mit der Familie herzustellen. (1) Heidegger, M. (1949. Über den Humanismus. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1949. S. 5. Sunday, December 2. 2012Dialog der (Regional-)Kulturen![]() Saturday, December 1. 2012Stell Dir vor, es herrscht kulturelle Vielfalt - und keiner geht hin...![]() Liebe Leserinnen und Leser, der diesjährige Adventskalender ist eröffnet. Nach anfänglicher Skepsis, ob das mit dem Kalender überhaupt etwas werden würde, bin ich jetzt zuversichtlich, dass wir die 24 Türchen zusammenbekommen. Zwei Drittel der Beiträge sind da, lassen Sie sich ermutigen, auch selbst noch etwas beizusteuern, das Thema "Interkultureller Dialog" ist interessant genug, auch über den 24.12. hinaus weitergeführt zu werden. Die gesammtelten Texte werden zum Schluss in einem gemeinsamen PDF noch zum Download bereitstehen. Den Anfang macht heute der Psychologe und Ethnologe Clemens Metzmacher, der sein "Atelier für systemische Beratung und Supervision" in Dresden betreibt. Lesen Sie, was er uns zu erzählen hat: 1. Stell Dir vor, es herrscht kulturelle Vielfalt - und keiner geht hin… Gerade lese ich die wiederholte Einladung von Tom Levold zur Einsendung von Geschichten aus interkulturellen Begengungen für diesen Adventskalender mit der verwundert klingenden Frage, ob denn keine interkulturellen Begegnungen stattfänden, da fast keine Einsendungen eingetroffen seien. Ich fühle mich erinnert, denn das ist mir schon oft so ergangen: Wie oft habe ich gehört, dass das „Problem“ der interkulturellen Verständigung wirklich drängend sei. Da müsse man unbedingt mal z.B. „ein Seminar zu machen“. Und wenn dann eines angeboten wird – kommt niemand. Mit warmem Gefühl denke ich an einen Einrichtungsleiter einer Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung, der sich in eine „Schnupper-Veranstaltung“ zu diesem Thema verirrt hatte. In einer kleinen Übung fand er sich plötzlich in einer Minderheitengruppe wieder und erlebte, wie es sich anfühlt, nicht mehr Teil der normgebenden Gruppe zu sein. „Ich habe mich in dieser kurzen Situation richtig ausgestoßen gefühlt, richtig anders. Und ich hatte das Gefühl, dass den anderen das eigentlich egal ist. Das war hart.“ Er ging mit dem Gefühl aus der Veranstaltung, dass das Thema „Umgang mit Andersartigkeit“, in das er das Thema Interkulturalität umbenannte, doch auch sein eigenes Thema ist, denn er hatte einmal „auf eine andere Seite geschaut“. 2. Zugang zum „System“ von „ganz woanders“ Meinen ganz individuellen Zugang zur systemischen (Familien-)Therapie habe ich vor etlichen Jahren in KwaZulu/Südafrika gefunden: Während einer längeren Mitarbeit in einem Selbsthilfeprojekt von Behinderten in weit abgelegenen Bergtälern hat es mich irritiert zu erleben, wie viel mehr sich die Menschen als Teil einer Familie oder Gruppe erleben, denn als Individuum. Das war ein völlig anderes „Selbst-“Erleben, als ich mir das bisher vorstellen konnte. Und das hatte auch im Umgang mit fast allen Lebensbereichen tiefgreifende Konsequenzen, angefangen beim Umgang mit Leiden („Therapien“) bis hin zur Eigentumsverteilung. Als Philosophie formuliert steht dahinter: Umuntu ubuntu xabantu („Der Mensch ist Mensch durch andere Menschen“). Bei genauerem Hinschauen, fing ich an, diese Anteile bei mir selbst zu entdecken. Als systemischer Familientherapeut ist das mittlerweile nicht mehr überraschend, aber dennoch sind mir die genannten Erlebnisse immer wieder eine Hilfe, die Tiefgründigkeit dieses Gedankens wach zu halten. Für mich steht die Wiege der Familientherapie in Südafrika. Ein weiterer frappierender Aspekt dieses Arbeitsaufenthalts war der allgegenwärtige Rassismus, ein gelebter „Diskurs“, an dem ich teilnehmen musste, ob ich wollte oder nicht. Und natürlich wollte ich nicht. Auf der späteren Suche, dieses Phänomen für mich auch theoretisch „fassbar“ zu machen, bin ich bei der Systemtheorie luhmann'scher Prägung gelandet: Gesellschaft als Kommunikation. Ein drittes Mal überwältigt war ich viel später bei einem anderen Arbeitsaufenthalt in der Elfenbeinküste: Die Menschen verhielten sich mir als Weißem gegenüber lange nicht so „unterwürfig“, wie ich es oft in Südafrika erlebt hatte. Mir wurde schlagartig deutlich, wie stark ich bestimmte Erlebnisse als Persönlickeitszuschreibung mit Hautfarbe bzw. einem europäisch generalisierenden Begriff „Afrika“ verknüpft hatte und wie wenig ich den Kontext einbezogen hatte. Kurz: Wie rassistisch ich bin! Ich bin jetzt etwas vorsichtiger geworden. Deutlicher hätte ich für mich die Lektion vielleicht nicht lernen können, die ich später in der Kybernetik zweiter Ordnung fand: Als „Beobachter“ erschaffe ich das System immer mit. Vor allem aber versuche ich heute immer wieder, mich als „Beobachter“ zu beobachten. Denn da stecken noch viele „Rassismen“. Das Erlebnis, als „Weißer“ in verschiedenen Kontexten in Afrika zu leben, stößt mich immer auf einen Punkt, der mir im systemtheoretischen Diskurs bislang etwas fehlt: Das Wissen darum, dass ich „Weißer“ bin. Das ist mir sonst ja so selbstverständlich, dass ich es gar nicht zu thematisieren brauche. Vor allem aber prägt es mich so, dass ich das gar nicht merke. Es geht mir um das Benennen und das Hinterfragen des „Selbstverständlichen“. Etwas weiter sind wir vielleicht in der Geschlechterdebatte. Ich wünsche mir, dass auch im systemtheoretischen Diskurs die Frage nach der Verortung von uns als „Beobachtern“ genauer beleuchtet wird. Als Frage formuliert: Von welchen Positionen aus gesehen bin ich „anders“ - und was ist die Konsequenz? 3. Häusliche Gewalt - auf Englisch… Sie hatte sich mit ihrem Mann angemeldet als „Täterin bei häuslicher Gewalt“. Ihr Mann sollte mitkommen, weil „er natürlich auch was damit zu tun hat“. Sie, resolute und Kompetenz ausstrahlende Mitteleuropäerin, er aus Zentralasien stammend. Als Beratungsteam arbeiten wir bei Paaren gemischtgeschlechtlich, um eine Balance herzustellen. Angefragt war Beratung in Englisch, da er kein Deutsch könne. Sie sind beide gekommen. Die Situation ist komplex, da meine Kollegin nur wenig Englisch spricht. Auch er spricht so wenig Englisch, dass selbst seine Frau ihn oft nicht versteht. Ihre Beziehungssprache sei Englisch, er lerne Deutsch, sie könne seine Sprache nicht sprechen. Es geht bisher nur um den Beratungsrahmen. Alles ist zäh, dauert ewig. Er zeigt sich als „Besucher“, es wird jedoch immer deutlicher, dass er massive körperliche Gewalt ausübt. Mehr und mehr gibt sie sich als Opfer zu erkennen. Die aufenthaltsrechtlichen Fragen sind recht komplex. Zentraler Dreh- und Angelpunkt ist das gemeinsame Kind und die unterschiedlichen Ansprüche an die Elternschaft… …Beratungsalltag in meiner Beratungsstelle. Ich habe den Eindruck, dass man an jedem Eckchen anfangen könnte und müsste, dass überall Fallstricke lauern. Um so mehr bin ich überrascht, dass er wiederkommen will. Und beim nächsten Termin bin ich gerührt, als er beginnt, sich zu öffnen und plötzlich etwas von Herzlichkeit spürbar wird: Er ist angekommen. Sie auch. Aber jeweils einzeln. Eine Lösung haben wir als Beratende nicht, können wir auch nicht haben. Und das ist vielleicht das Entlastende, niemand verlangt, dass wir die Expertenlösung für diese Komplexität haben. Wir gestalten den Prozess und den Rahmen, mir kommt der Satz einer Lehrtherapeutin in den Sinn: Wenn Du schnell sein willst, sei langsam… Thursday, September 6. 2012Balotelli![]() "Wir nannten es als Kinder Mohrenkopf, in anderen Gegenden Deutschlands, so erfuhr ich später, wird es Negerkuss genannt; gemeint ist dieses Etwas aus Zuckerschaum, von Schokolade ummantelt, das im Kramerladen oder beim Bäcker 10 oder 20 Pfennige gekostet hat. Es war süß, himmlisch und ein Paradies auf der Zunge. Nun, der Mohr bzw. sein Kopf haben in Zeiten der politischen Korrektheit ihre Arbeit (jawohl, seine Arbeit, nicht etwa seine Schuldigkeit hat er getan, der Mohr, wie wir schiller- oder wenigstens stadelmaierbewanderten Klugmeier wissen!) längst getan und deshalb heißt die Sache mittlerweile Schaumspeise mit Migrationshintergrund…" Weiterlesen kann man hier… Saturday, December 24. 2011„Tun se mal spekulieren…“![]() im letzten Kalendertürchen für dieses Jahr befindet sich ein Beitrag von Sabine Timme, die in Hannover neben ihrer Tätigkeit in einem Frauenberatungsprojekt in freier Praxis als "Paar- und Familiencoachberaterintherapeutin" sowie als Supervisorin tätig ist. An dieser Stelle noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, dass sich der systemagazin-Adventskalender auch in diesem Jahr wieder gefüllt hat. Ich hoffe, Ihnen hat die Lektüre Vergnügen bereitet! Ich wünsche Ihnen allen schöne Weihnachtsfeiertage, Ruhe und Erholung, Freude und Anregung und was immer sonst Sie sich wünschen! Herzliche Grüße Tom Levold Herausgeber ![]() … so Prof. Dr. Hellmuth Freybergers unermüdlich wiederholter Anschubversuch bei „Weiss-ich-nich“-Antworten auf zirkuläre Fragen. Hundertfach gehört von einer, die Anno 1988 bis 1990 in der Medizinischen Hochschule Hannover als protokollierende Praktikantin hinter einer Einwegscheibe saß und grosses Glück hatte zwei Jahre lang jungen Frauen mit anorektischem und bulimischem Verhalten lauschen zu dürfen. Rahmen war das von der Bosch-Stiftung finanzierte Forschungsprojekt „Psychoanalytische Therapie versus Familientherapie“ bei Essstörungen. Heute entspräche die Stimmung und das Verhalten mancher Akteure in der Abteilung Psychosomatik deren Direktor Freyberger war, der eines BATTLEs. Angetreten war: stationär versus ambulant. Psychoanalyse versus Konstruktivismus. Deskriptive versus operative Diagnostik. HipHop versus Standart. Go for it, B-boys! Hinter der Scheibe auf kleinstem Raum abwechselnd zur Supervison herbeigetanzt: Gunthard Weber, Fritze Simon, Gunther Schmidt, Arnold Retzer, Jochen Schweizer und Paul Watzlawick. In meinem frisch magistrierten Sozialpsychologinnenhirn herrschte damals rege Synapsentätigkeit in den Arealen für Ethnopsychoanalyse, Kulturanthropologie und Paarungsverhalten. Andere Regionen waren mit der Gründung eines Ethnomedizinischen Zentrums beschäftigt. Da richteten sowohl die systemischen Grundlagen als auch die Tanzschritte des therapeutischen Servicepersonals im Gehirn arges Chaos an. Cells that wire together fire together, Verwirrung löst Suchprozesse aus und dann erst die ganzkörperlichen Folgen… Meine Erinnerung gaukelt mir vor, wie im Therapiezimmer sechs Familienmitglieder mit ihren Kontrollkompetenzen glänzten und hinter der Scheibe – Homöostase sei Dank – vergnügtes Chaos herrschte. Wie manche Bulimieversion sich, einmal quer durchs Familiensystem gerauscht, ein Hypothesen-Hintertürchen zum Verdünnisieren suchte. Wie eine Anorexievariante sich in zähen Verhandlungen gegen einen Porsche tauschen ließ. Wie ein Supervisior sich klopfend seinen Wegs ins Therapiesetting bahnte und recht freundlich fragte, ob jemand dem Vater ins Hirn geschissen hätte? Atemstillstand vor und hinter der Scheibe. Der Vater lächelt entspannt: interessant, das habe er sich auch gerade gefragt. Wie ich im Losverfahren ein Abendessen mit Watzlawick im Hause Freyberger gewann. Wie Margret Gröne aus diesem Projekt heraus ihr Buch über die verhungerte Bulimie schrieb. Wie ein Teil des damaligen Therapieteams das Niedersächsische Institut für Systemische Therapie und Beratung (nis) gründete, in dem ich mit vielen anderen im ersten Durchgang Deutsch/systemisch lernte. Ach ja: der Battle endete nahezu mit Gleichstand, ich baue mit homies und B-Girls eine essstörungsspezifische Mädchen-WG auf und tue – Freyberger sei Dank - immer noch spekulieren… Friday, December 23. 2011An ecology of mind![]() ![]() Im Sommer schloss sich für mich ein Bogen, als ich eingeladen wurde, auf der Deutschland-Premiere des Films „An Ecology of Mind“ von Nora Bateson, mit der Filmemacherin über ihren Vater Gregory Bateson und seine Bedeutung für die Gegenwart zu sprechen. Die Erscheinung Batesons, seine Austrahlung, Gelassenheit und sein Humor, bringen im Film wunderbar zum Ausdruck, was auch die Lektüre seiner Bücher spüren lässt: eine Begegnung, die einen Unterschied macht. Sie wissen schon… Thursday, December 22. 2011Systemtheorie - keine Liebe auf den ersten Blick![]() ![]() Auch wenn die Lektüre bürgerlicher Theorien gewissermaßen verboten war und man sich auf ihre Darstellung und Kritik in den einschlägigen revolutionären Texten verlassen musste, tauchten bei mir zunehmend Zweifel an solchen Darstellungen auf - genährt durch die Tatsache, dass sich offenkundig und enttäuschenderweise unter der revolutionären Linken auch viele Menschen tummelten, die intellektuell mit ihren Gegnern kaum mithalten konnten. Der Schock, dass Intelligenz genauso wenig an die Revolution geknüpft war wie Dummheit an die Verhinderung derselben, war jedoch insofern heilsam, als ich begann, nun doch auch neben der Kritik bürgerlicher Soziologie die Schriften zur Kenntnis zu nehmen, die solcherart der Kritik unterzogen wurden. Der Schock, dass es hier spannende und interessante Dinge zu lesen gab, die leider oft viel interessanter waren als das, ihre Kritiker fabrizierten, traf mich noch stärker. Immerhin fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass ich vor allem eines bislang nicht verstanden hatte: dass es in der Welt wie in der Wissenschaft und der Theorie immer komplexer zugeht als man vielleicht wahrhaben möchte und dass die Zurkenntnisnahme differerierender Positionen überhaupt erst einen Zugang zu den zugrundeliegenden Problemen eröffnet. Diese Einsicht bahnte den Entschluss, die Kritik bürgerlicher Wissenschaften selbst am Original vorzunehmen. Die Entscheidung fiel auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, der damals in Bochum äußerst unbeliebt war und zudem als Antipode von Habermas als Apologet der herrschenden Verhältnisse galt. In meiner ziemlich dicken Diplomarbeit, die ich mühsam Seite um Seite auf einer alten und leicht klemmenden Olympia-Reiseschreibmaschine tippte, beschäftigte ich mich also mit der "Systemtheorie als Theorie sozialer Kontrolle". Um den reaktionären Charakter der Luhmannschen Theorie entlarven zu können, musste ich mich tiefer und tiefer in sie hineinarbeiten - eine Arbeit, die mir nicht nur im Laufe der Zeit ein ästhetisches Vergnügen bereitete, sondern auch immer mehr (heimliche) Bewunderung für die Originalität Luhmanns und seine Unbeeindrucktheit von jeder Kritik abnötigte. Mit seiner Theorie war ich also schon ziemlich vertraut, lange bevor ich mich selbst als Systemiker gesehen habe. Vor allem wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich später einmal als Therapeut tätig sein würde - und noch viel weniger, dass Luhmann für Therapeuten einmal eine epistemologische Referenzfigur sein würde. Die Auseinandersetzung mit Luhmann hat meiner Lust an Komplexität zum Durchbruch verholfen und mich aus der Eindimensionalität der damaligen Revolutionssemantik herausgelöst. Sein Verständnis von "Theoriearchitektur", die mit bestimmten Setzungen operiert, deren Tragfähigkeit dann im Verlaufe der Theoriearbeit getestet werden muss und die gegebenenfalls dann umgebaut werden müssen, öffnete mir aber auch die Augen für die Kontingenzen jeder Theorie, eben auch der Luhmannschen, so dass ich bis heute, obwohl sehr stark mit der Systemtheorie identifiziert, nicht der Versuchung ihrer Heiligsprechung oder ihrer Begründer erlegen bin. Wednesday, December 21. 2011Mal anders herum: Erst Systemiker, dann Therapeut
Tuesday, December 20. 2011Missgeschicke als nützliche Erfahrungsquellen![]() Vor 30 Jahren steckte ich mitten in meiner familientherapeutischen Weiterbildung, die ich (noch gezeichnet vom Praxis-Schock meines ersten Berufsjahres in einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus) begonnen hatte. Unsere Ausbilderin war eine charismatische Familientherapeutin, die uns mit ihrer Energie, ihrer Erfahrung und dem Mut, sich im Geiste der humanistischen Psychologie in die Begegnung mit den KlientInnen zu stürzen, begeisterte. Ich begann, „in Beziehungen“ zu denken und diese mithilfe der Landkarten von Minuchins strukturellem Ansatz oder Satirs Kommunikations-Typen zu sortieren. ![]() Im Anschluss an meine Weiterbildung engagierten wir 1983 in der Beratungsstelle, in der ich inzwischen arbeitete, Kurt Ludewig als Supervisor, der die Team-Spannungen zwischen familientherapeutisch und psychodynamisch orientierten KollegInnen bearbeiten sollte. Bei seiner Vorstellung schockierte er mich (der ich doch glaubte mit der familientherapeutischen Literatur vertraut zu sein) mit der Aufzählung von für seine Arbeit bedeutsamen Personen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte (Dell, Maturana, von Foerster, von Glasersfeld, Luhmann usw.) und durch deren Werke ich mich bald zu quälen begann, immer mit meinen bisherigen Denkweisen ringend, die heftig gegen die neuen Ideen ankämpften. Zu diesen tumultartigen erkenntnistheoretischen Debatten in meinem „inneren Parlament“ kamen die Verstörungen durch Kurts Interventionen, etwa wenn er beiläufig erzählte, in seiner Klinik hätten Psychoanalytiker und Systemiker (so hießen sie damals wohl noch nicht) aufgehört, miteinander zu diskutieren und begonnen, gemeinsam zu singen! Unmöglich fand ich das! Trotz dieser Irritationen, gewiss aber wegen Kurts mitreißender Begeisterung und seiner Herzlichkeit, entschlossen sich einige von uns, ihn nach dem Ende der Team-Supervision für eine kleine private Gruppe zu gewinnen, in der er unsere live-Sitzungen mit Familien supervidierte. Diese Sitzungen führten fast regelmäßig dazu, dass anschließend die Therapie beendet war: Während wir uns nämlich von allerlei Ideen und Zielen leiten ließen, die die Familie unseres Erachtens noch erreichen sollten, richtete Kurt unser Augenmerk auf die Wünsche der Familie. Wenn wir sie dementsprechend befragten, stelle sich bald heraus, dass sie mit dem Erreichten zufrieden waren und die Beratung beendet werden konnte. Auch hier gab es in meinem inneren Parlament einige mächtige konservative Lobby-Gruppen, die sich gegen diese Praxis sträubten, doch auch im Zuge meiner Auseinandersetzung mit der systemischen Theorie begann mir allmählich zu dämmern, dass in Kurts Konzept „vom Anliegen zum Auftrag“ ein Herzstück des systemischen Ansatzes liegt. (Nicht zufällig finde ich gerade jetzt, da ich Kurts Buch „Systemische Therapie“ aufschlage, auf Seite 133 beim diesbezüglichen Schaubild ein Lesezeichen!) Ich weiß nicht genau, wann mir das oben geschilderte Erlebnis aus meiner familientherapeutischen Weiterbildung wieder in den Sinn kam, aber heute benutze ich es gern zur Illustration der Idee der Anliegenorientierung. Dass man damit heute kaum noch jemanden vom Hocker hauen kann, finde ich ebenso erfreulich wie bedauerlich: Natürlich ist es wunderbar, dass sich das systemische Denken so weitgehend durchgesetzt hat, doch manchmal vermisse ich die emotionalen Diskussionen aus den Anfangszeiten, als man z.B. in Weiterbildungen mit systemischen Thesen noch auf heftigen Gegenwind stieß! Von der Familientherapie heißt es, sie fuße nicht (wie die Psychoanalyse) auf dem Wirken einer Gründerpersönlichkeit, sondern habe mehrere Mütter und Väter. Meine kleine Geschichte zeigt, dass dies auch für meine Entwicklung gilt und dass Lernen nicht nur auf Erfolg gründet, sondern Missgeschicke ebenso nützliche Erfahrungsquellen sein können. Monday, December 19. 2011Adventskalender 2011: 2 Beiträge fehlen noch!Liebe Leserinnen und Leser, Der Platz auf der Tribüne oder: Whose side are you on?![]() Zu jener Zeit gab es ein Lied, das oft im Radio gespielt wurde, das hieß Whose side are you on?, und dieser Titel ist gewissermaßen programmatisch für diesen Fall. Ich betreute eine halboffene Gruppe von ca. einem Dutzend männlicher Patienten, mit denen ich im wesentlichen gruppen-, z.T. auch einzeltherapeutisch arbeitete. Eines Tages wurde mir ein neuer Patient zugewiesen. Im Eingangsgespräch berichtete er mir von einer chaotischen Beziehungsgeschichte; die Frau habe ihn mit den Kindern verlassen, er stehe ![]() Was nun folgte, war gewissermaßen eine eindrückliche Belehrung über Systemdynamiken, die sich einfach nicht an noch so gut gemeinte therapeutische Zielsetzungen halten, welche nur den einen Pol einer bestehenden Ambivalenz abbilden. Denn eine Weile danach kam der Patient zu mir mit einigen aktuellen Briefen seiner Frau, geschrieben aus dem Frauenhaus, in denen sie ihm deutlich zu verstehen gab, wie sehr sie ihn vermisse. Der Patient berichtete mir nun von einer sich seit Jahren wiederholenden Dynamik von Annäherungen und Trennungen, symbiotischen Phasen, emotionalen Verstrickungen, Vorwürfen, emotionaler und physischer Gewalt, einhergehend mit Alkoholkonsum. Im Laufe der Jahre hatte das Paar es „geschafft“, diverse professionelle Helfer einzuladen, „für“ sie aktiv zu werden. Alle waren gescheitert, etwas im Sinne der von ihnen selbst gesetzten Ziele zu erreichen, sie zogen sich dann, enttäuscht von ihren so wenig veränderungswilligen oder –fähigen Klienten, allesamt zurück, um von den nächsten abgelöst zu werden. Ich telefonierte mit der Therapeutin der Ehefrau meines Patienten und informierte sie – die Dame war entsetzt und fürchterlich enttäuscht von ihrer Klientin. Da habe sie doch scheinbar so große Fortschritte mit ihr in Richtung der eigenen Autonomie gemacht. Und jetzt das! Ich selbst war damals verwirrt. Einmal mehr. Wusste nicht, was ich tun sollte. Hatte aber so ein Gefühl, dass da etwas wirkt, das irgendwie stärker ist als alle Therapeuten zusammen mit ihren so vernünftigen Zielen, die allesamt aus dem reflektiert-akademischen Wertekosmos herrühren. Und so kam mir der Impuls, dass der beste Platz, um mit diesem Patienten und seiner nichtanwesenden, aber kräftig mitmischenden Frau mitsamt der an ihr dranhängenden Therapeutin zu arbeiten, der auf der Tribüne sei. Es stellte sich heraus, dass dies ein guter Platz war: gewissermaßen als Zuschauer, Zuhörer, An-Teil-Nehmender. Dieser Platz erwies sich als entspannter, zudem bewirkte er paradoxerweise ein Mehr an Empathie für den Patienten. Sich über die eigenen Wertsetzungen im Klaren zu sein, sie nicht unreflektiert dem Patienten aufzudrücken, dabei aber sich selbst, die Regeln der Klinik und letztlich auch die eigenen Werte zu vertreten, das war etwas Neues. Später lernte ich: das nennen Systemiker Neutralität. Und noch viel später lernte ich: das was Systemiker Neutralität nennen, ist im Kern bereits bei Freud angelegt, u.a. im Konzept der Abstinenz. So versuchte ich also, den Patienten, sein System, die mitbeteiligten gegenwärtigen und vergangenen Helfer, auch die Therapiesituation selbst, mitunter von außen zu betrachten. Mir half es. Ihm auch? Ich kann es nicht sagen. Womöglich war es hilfreich für ihn, dass sein Therapeut nun weniger pädagogisch mit ihm umging, für bzw. gegen ihn Ziele definierte und deren Erreichung gewissermaßen „überwachte“. In der konkreten Arbeit mit den Patienten, finde ich, kann man mit am meisten über Therapie lernen. Und mit das meiste, finde ich (und denke dabei an Watzlawicks Parabel vom Schiff, das nachts auf hoher See ohne Navigation unterwegs ist), lernt man aus gescheiterten Therapien. Die Therapie, von der ich hier erzähle, ist nach meiner Erinnerung vordergründig gescheitert. Sie ging, wg. vorzeitigen Abbruchs seitens des Patienten oder wg. einer vorzeitigen Entlassung aufgrund eines Verstoßes gegen die Klinikregeln, ohne konkretes Ergebnis zu Ende. Ich vermute, dass ich nicht sein letzter Therapeut war. Ich vermute zudem, dass sich nichts Wesentliches geändert hat am Problemmuster (oder was ich und andere Therapeuten dafür hielten). Mein Wunsch aber ist ein anderer: möge es ihm und den ihm Nahen gut ergangen sein. Sunday, December 18. 2011„Ob ein Ton richtig ist oder nicht, bestimmt der der nächste Ton“![]() "„Ob ein Ton richtig ist oder nicht, bestimmt der der nächste Ton“ (Haja Molter zitiert Miles Davis über den Jazz) Es war 1994, ich war seit einiger Zeit in der Frühförderstelle tätig und merkte, dass ich mich mich unbedingt „familienorientiert“ weiterbilden wollte. Mit dem Kommentar: „Systemische Denkweise könnte Dir gut liegen“ gab mir meine damalige Supervisorin in Aachen Haja Molters Telefonnummer, sie macht eine Supervisorensupervisionsgruppe bei ihm. Haja meldete sich sofort, ich bekam Kontakte mit dem IF-Weinheim, einige Wochen später befand ich mich im Vorbereitungs-Schnupperkursus der Weinheimer Familientherapieausbildung. ![]() Das alles sind nur Einzelspots, das Gesamtbild fällt mir schwer, aus meinen Erinnerungsfetzen zu malen. Als wir mal heftige Auseinandersetzungen mit dem Lehrtherapeutenteam Haja und Heiner Ellebracht hatten, fiel der oben zitierte Satz vom richtigen Ton im Jazz. Meine innere Haja-Stimme in meinem inneren Team nutzt diesen Satz öfter. Von systemischer Vielfalt Stück für Stück in die eigene Alltagsarbeit implementieren zu können, das war‘s: „Ihr habt jetzt ein Fass Wein im Keller. Trinkt es Glas für Glas!“, so Hajas Abschiedssatz nach einer dichten Seminarwoche. Vielleicht für mich das Wichtigste: Ressourcenblick auf mir selbst zu spüren und in meiner Eigenständigkeit unterstützt und ermutigt zu werden. Ressourcenblick auf mir hat geholfen, aus einer „Kultur des Tadels“ auszusteigen und eine Kultur der Wertschätzung als orientierendes Ziel vor Augen zu haben. „Meine Aufgabe als Lehrtherapeut sehe ich darin, schöpferische Distanz zu wahren, liebevolle Einfühlung aufzubringen, Verantwortung für meine soziale Wahrnehmung zu übernehmen, um die Autonomie in der Gruppe zu fördern und mich so authentisch wie möglich zu verhalten...“ (Molter 1998 s. 7) Danke, Haja!" Saturday, December 17. 2011Wie alles begann – keine Geschichte ohne Geschichten!![]() "1971 kehrte Annedore Schultze, die spätere Leiterin des Jugendhofes Vlotho, von einem Studienaufenthalt aus den USA zurück. Zuvor hatte sie 10 Jahre Methoden der Sozialarbeit an der Höheren Fachschule des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Bielefeld unterrichtet. Sie war begeistert von der Art und Weise wie Virginia Satir in den USA mit Familien arbeitete und wollte diesen Ansatz, nach Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und emeinwesenarbeit, unbedingt in der Jugendhilfe in Westfalen verbreiten. Der erste Fortbildungskurs für Sozialarbeiter „Familienberatung und Familienbegleitung“, fand von Februar 1973 bis Dezember 1974 statt. (Parallel dazu begann auch Maria Bosch in Weinheim mit ihren Kursen, was 2 Jahre später zur Gründung des Instituts für Familientherapie Weinheim führte. Die beiden hatten sich bei Virginia Satir in den USA kennengelernt). Veranstalter des Kurses war der „Sozialdienst katholischer Frauen – Zentrale e.V. – Dortmund“. Das Konzept orientierte sich in seinem methodischen Teil an den Erfahrungen und Veröffentlichungen von Virginia Satir (1973) und Horst Eberhard Richter (1970). Es war kein starres Konzept, sondern wurde im Kurs mit den Teilnehmer/innen und Referenten ständig weiter entwickelt. Es gab viel Innovation zu ![]() Nach einer Informationstagung des Landesjugendamtes in Münster 1974, zur „Methode der Familienberatung und –behandlung“ (LWL Münster 1985), fiel die Entscheidung, einen ersten „arbeitsfeldspezifischen Lehrgang zur Familienberatung und Familienbehandlung“ für Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) anzubieten. Das war die Geburtsstunde der Familienberatungslehrgänge in Vlotho. Ich war seit 1972 im Jugendhof tätig. Ich war Sozialarbeiter und Gemeinwesenarbeiter und von Annedore Schultze für ein Modellprojekt zur Zusammenarbeit im Gemeinwesen von Freiburg nach Vlotho geholt worden. Ich hatte andere Aufgaben und verfolgte die Entwicklungen der Kollegin und späteren Chefin mit Interesse. Im Rahmen des Modellprojekts hatten wir die Analytikerin Ruth Cohn für 3 Monate nach Vlotho geholt. So lernte ich die TZI kennen. Nebenbei studierte ich in Bielefeld auch noch Erziehungswissenschaften, was ich mit dem Diplom 1980 abschloss. Im Rahmen eines Seminars über Paradigmenforschung lernte ich die Schriften von Talcott Parsons kennen und war fasziniert. Ab da ließ mich die systemische Denkweise nicht mehr los. Der Entscheidende Schritt kam 1979. An einem Freitag eröffnete mir Annedore Schultze, dass in ihrem Familienberatungskurs ein Referent ausgefallen wäre und ich von Montag bis Freitag in der letzten Kurswoche des laufenden Kurses einspringen müsse. Bis Montag hatte ich nun Zeit, die Pflichtlektüre des Kurses zu lesen. Es waren Bücher von Virginia Satir, Salvatore Minuchin und Maurizio Andolfi. Bis Montag hatte ich mir die für diesen Kurs relevanten Abschnitte einigermaßen einverleibt. Die Woche lief für mich gut und ich hatte endgültig Feuer gefangen. Danach war ich Co-Leiter in allen weiteren den Kursen. Ab 1989 leitete ich die systemischen Beratungsfortbildungen 18 Jahre zusammen mit Anne Valler-Lichtenberg aus Köln. Es war eine wunderbare Zeit der gegenseitigen Anregungen und Entwicklungen. Dank meines großzügigen Arbeitgebers konnte ich viele Kurse besuchen die von Systemikern angeboten wurden. Ich nahm an den Weinheimer Tagungen teil, erlebte Virginia Satir und andere berühmte Vertreter des systemischen Ansatzes. Schließlich nahm ich auch an einer Ausbildungsgruppe mit Jos J. van Dijk in Bielefeld teil. Leider starb Jos, bevor der Kurs zu Ende war. In die DAF trat ich erst nach meiner Supervisionsausbildung ein. Es reichte aber noch um die DGSF mit zu begründen. Die DGSF ist zu meiner „Heimat“ geworden. Hier fühle ich mich wohl und arbeite gerne und engagiert mit. Heute als Rentner nutze ich die vielen Erfahrungen in meiner Praxis für Supervision, Coaching, Paar und Familienberatung. Das will ich auch noch ein Weilchen weitermachen. Einmal Systemiker, immer Systemiker." Friday, December 16. 2011Wie transportiert man Ärger ohne Brüllen…![]() "Als ich in Berlin-Neuköln wieder bei dieser Familie mit den 3 Mädchen war, machte ich die Erfahrung, dass ich mit meinem zirkulären Fragen und mit meinem systemischen Schätzen nicht so richtig weiter kam. Aber irgendwie war mir auch klar, dass diese Mutter ihre Kinder nicht sehen wollte und alles auf ihnen ablud. Ich fand es schrecklich, die Kinder litten und verschafften sich durch Gebrüll Gehör. Diese Mutter meinte es zu gut und gehörte zu denen, die all ihre eigenen Unsicherheiten auf das Herumzupfen an den Kindern laden, sie ständig kontrollieren, sich dann gleichzeitig darüber zu beschweren, dass diese unselbständig sind und zum allgemeinen Familienunfrieden beitragen, wenn sie dagegen aufbegehren. Der Vater brüllt am Für die Mütter dieser Erde Rupf nicht an mir Zupf nicht an mir Nun lass mich doch endlich mal sein Hör auf zu reiben es zu übertreiben Der Schal sitz doch ausreichend fein Lass deine Hände doch von mir und wende dich dir deinerselbst wieder zu Ich will nicht gekämmt sein ich will verpennt ein und putz auch nicht meine Schuhe Ich merke vorm Spiegel gleich wird mir übel Wir sind wirklich nicht einer Meinung Du bist meine Mutter und ich noch klein aber lass mich doch einfach mal sein" Thursday, December 15. 20111968, die Sicht von oben und das Leben eines Fünfmarkstücks![]() "Ja, sie war´s. Ich glaube, sie war´s. Sie muss es gewesen sein! Ich bin mir sicher! Sie war die Person - nach der ja gefragt war - die mir wohl einen ersten Eindruck von systemischem Denken und Handeln vermittelt hat. Aber wann ist man schon sicher? Eine Weile habe ich nachgedacht, ob ich dem diesjährigen Schreibimpuls für einen Beitrag zum Adventskalender im systemagazin würde nachgehen können. Es fielen mir viele wichtige Menschen und Begegnungen ein. Es können auch die Kunst und einige ihrer Vertreter gewesen sein, die mich immer wieder lehren und erfahren lassen, dass Umdenken notwendig ist, um Menschen, Dinge und Sachverhalte besser verstehen zu können. Auch viele gelesene Bücher waren inspirierend und ich kann mich auch daran erinnern, wer mir das ein oder andere Buch empfohlen hat. Meine Freundin aus Kindertagen, die nun Kinder- und Jugendpsychiaterin ist? Ganz sicher! Oder war es mein alter Studienfreund, der Psychologe ist und mir seinerzeit die Ausbildung zur systemischen Beraterin mit den guten Lehrtherapeuten im WISL empfahl? Ja, der auch! Außerdem war er es, der mir die bundesweite Tagung mit dem Thema „Die Schule neu erfinden“ empfohlen hatte, die im März 1996 in Heidelberg stattfand. Es ging um eine systemisch-konstruktivistische Annäherung an Schule und Pädagogik. Ich kann mich an Menschen und Vorträge erinnern, die mich beeindruckt haben. Heinz von Foerster war wohl anwesend. Ernst von Glasersfeld auch? Da fängt es schon an mit den Erinnerungslücken. Auf jeden Fall war das für mich ein deutlicher Auftakt, mich mit systemischen Überlegungen und einer systemischen Betrachtungsweise auf die Schule, die Pädagogik und später auch auf die Lehrerbildung zu beschäftigen und mich mit dem „Unterricht als eine Konstruktion“ auseinander zu setzen. Aber wann fing es genau an? Ich gehe noch einen Schritt weiter zurück in meiner Erinnerung. Denn sie war´s doch, denke ich, meine Grundschullehrerin im dritten Schuljahr! Nach meiner Einschulung 1966 in eine katholische Volksschule in einem kleinen Dorf bei Paderborn erlebte ich dort zunächst keine schönen Jahre. Die relativ alten Lehrer damals versuchten ihr Bestes, unterstelle ich ihnen mal, doch der Unterricht lief ausschließlich frontal ab, er bestand zu großen Teilen aus Abschreiben, im Chor lesen und Päckchen rechnen. Er blieb leider auch nicht frei von Demütigungen und Schmerzen, verursacht von „ausgerutschten Händen“. Außerdem erlebte ich den Unterricht meist als sehr langweilig und so kam ich auf allerhand „dummes Zeugs“, wie man sich die Zeit in der Schule dennoch irgendwie interessant gestalten konnte. Auf manche Lehrer wirkte ich vermutlich sehr anstrengend. Doch meist blieb ich angepasst und relativ brav. 1968 kam SIE, eine sehr junge, braungebrannte neue Lehrerin mit dunklen Haaren. Sie war vielleicht 20 Jahre alt, wohl noch in der ![]() Irgendwann fand sie wohl im Schulgebäude einen alten großen quadratischen Sandkastentisch auf Rollen, den sie etwas entstaubt hatte und eines Tages mitten ins Klassenzimmer schob. Tische und Stühle wurden an den Rand gestellt. Jedem gab sie ein kleines Holzhäuschen in die Hand, von der Sorte wie sie in Monopoly-Spielen zu finden sind. Ihr gestellter Arbeitsauftrag dazu lautete: „Stellt euch vor, der Kasten ist unser Dorf. Nun stellt jeder sein markiertes Häuschen an den Platz, wo er glaubt, dass das Haus steht, in dem er wohnt.“ Es gab Nachfragen, wie das denn gehe. Und sie sagte: „Stell dir vor, du bist ein Vogel und schaust von oben auf unser Dorf. Wo wohnst du denn nun? Kannst du das Haus sehen, in dem du wohnst? Stelle das Holzhäuschen an den Platz.“ Puh, wir waren mehr als 30 Kinder in der Klasse und es gab ein Gerangel, es wurde laut. Jeder wollte seinen Platz finden in dem großen Kasten. Sie ließ uns machen, reden, begründen, streiten und einigen, wo was zu stehen habe. Zum Schluss standen alle Häuser irgendwie irgendwo. Sie ließ sie so stehen. Erst am nächsten Tag ging es weiter. Wir lernten, dass Distanzen relativ sind, wir begriffen langsam die Himmelsrichtungen. Wir erfuhren die Notwendigkeit von Einigung auf etwas zur besseren Verständigung. Wir erlebten die veränderte Sichtweise von oben sowie den zeitlichen Abstand eines Tages, der den Streit weniger wichtig erscheinen ließ, etc. etc. Heute könnte man sagen, das war ein genialer, an die Lebenswelt der Schüler/innen anknüpfender Einstieg in eine Unterrichtseinheit zur Kartenarbeit im Heimatunterricht, der schnell alle Schüler/innen aktiv werden ließ, in dem selbstentdeckendes Lernen ermöglicht wurde unter Berücksichtigung von Elementen des Kooperativen Lernens usw. oder so ähnlich. Auf jeden Fall sorgte er für diese intensive Erinnerung und Nachhaltigkeit, zumindest bei mir mit der eigentlich banal erscheinenden Erkenntnis: Veränderungen von Sichtweisen führen oft zu Lösungen. Wenn ich an meinen mangelnden Orientierungssinn denke und an den unerschütterlichen Glauben an mein Navigationsgerät im Auto, muss ich allerdings schmunzeln. Es lässt mich aber auch lächeln bei dem Gedanken daran, dass ich schon oft das schöne Sternenbild der Südhalbkugel der Erde bestaunen durfte, welches sich anders präsentiert als das mir bis vor vielen Jahren bekannte. In dem gleichen legendären Jahr 1968, in dem ich eben erst 8 Jahre alt war und von den politischen Entwicklungen nichts mitbekam, sorgte diese tolle Lehrerin, die wir „Frollein Rochell“ nannten, für eine ebenso nachhaltige Erfahrung im Deutschunterricht. Sie forderte uns auf, eine Geschichte zu schreiben. Neben den langweiligen bis dahin anzufertigenden Aufsätzen mit eindeutigen einzuhaltenden textsortenspezifischen Kriterien (Rezepte schreiben, Erlebniserzählung mit Einleitung, Hauptteil, Schluss u.a.) hatte der folgende Schreibauftrag seinen besonderen Reiz. Das gestellte Thema lautete: „Aus dem Tag eines Fünfmarkstücks“. Ich weiß noch, ich fragte nach: „Wie geht das?“ Frollein Rochell meinte: „Na, du bist das Fünfmarkstück. Schreib auf, was du so an einem Tag erlebst“. Und ich schrieb und schrieb, seitenweise und aus der Ich - Perspektive. Es machte unbändigen Spaß, mich in dieses Geldstück hineinzuversetzen und ich erzählte fast sein halbes Leben. Nun gut, es landete sogar in Kalkutta, das weiß ich noch. Zur gleichen Zeit las ich nämlich ein Kinderbuch, dessen Geschichte in Kalkutta spielte. Der Name der Stadt klang für mich nach der großen weiten Welt. Die Autorin des Kinderbuches kam jedoch auch direkt mit erhobenem Zeigefinger daher. Wir sollten ja - vor allen Dingen beim Essen - oft an die armen Kinder auf der Welt denken, es gelang mir und meinen Mitschüler/innen aber nur wenig. Ob es das Fünfmarkstück geschafft hat, weiß ich nicht mehr. Heute wäre der Schreibauftrag von damals dem Konzept des Kreativen Schreibens zuzurechnen, das sich u.a. den vielbeachteten Aspekten von Kaspar Spinner verpflichtet sieht, nämlich der Irritation, der Imagination und der Expression. Allerhand Kompetenzen können dadurch angebahnt werden. Herausfordernd war die Aufgabe, spannend und vermutlich für mich das erste Mal ein Anlass, mich in etwas hineinzuversetzen und deutlich die Perspektive zu wechseln. Das Fünfmarkstück hat nun ausgedient, darf irgendwo auf seine alten Tage rumliegen und sich ausruhen. Vielleicht ist es auch eingeschmolzen worden und wieder als etwas anderes im Umlauf. 1968 führte die Aufforderung, die Perspektive zu wechseln, bei mir zu einer erhöhten Schreibmotivation, heute in meiner Arbeit meist zu unerwarteten interessanten Lösungen. Frollein Rochell, die unsere Ressourcen, die wir als Kinder hatten, im durchgängig wertschätzenden Umgang mit uns so geschickt hervorlockte, verließ die Schule und uns - so habe ich es traurig erlebt - nach gut einem Jahr, heiratete, zog nur ins Nachbardorf, war jedoch dann für uns unendlich weit weg. Ich traf meine damalige Lehrerin, die nun anders heißt, tatsächlich zufällig nach 40 Jahren vor genau drei Jahren ausgerechnet bei der Beerdigung eines Menschen, der uns beiden wichtig war, in meinem Heimatdorf wieder. Wir erkannten uns und es freute uns beide. Es war nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Raum für ein längeres Gespräch. Auf jeden Fall konnte ich ihr bei dieser Gelegenheit persönlich danken. Ja, sie war´s!" Wednesday, December 14. 2011Klug sein wollen und eine peinliche Erkenntnis![]() "Wenn ich mich versuche zu erinnern, fällt mir das genaue Datum nicht mehr ein, nur so ungefähr, dass es 1985 war, im Frühjahr, könnte aber auch später in einem Herbst gewesen sein. Erste aufregende Literatur war zu lesen und neue Erkenntnisse gab es zu verinnerlichen. Ich hatte „Paradoxon und Gegenparadoxon“ von den Mailändern geradezu verschlungen, durcheinander geratenes Wissen über die Welt und die in ihr gelehrte Psychologie folgte meinem Studium am Psychologischen Institut an der FU bei Klaus Holzkamp und anderen Vertreterinnen der „Kritischen Psychologie“. Ein politisches Bekenntnis gegen die naturwissenschaftliche Psychologie war unmittelbares Bedürfnis geworden, wir stellten die Methodenwisenschaften, Forschung und die gelernte Statistik, aber besonders die Diagnostik der Psychopathologie grundsätzlich infrage. Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick, „Ökologie des Geistes“ von Gregory Bateson machten dieser Kritik Beine und das ![]() Das Berliner Institut für Familientherapie hatte sich als BIF gegründet und eine Anlehnung an die „Heidelberger“ und die „Mailänder“ gefunden. Allerdings sollte auch ein kritischer Geist gegenüber den schon damals immer wieder auftauchenden Ideen um die „wahren“ Systemischen Konzepte und deren Vertreterinnen bewahrt bleiben. Um diese Idee lebendig werden zu lassen, waren viele dieser Menschen zu Workshops und Seminaren ans BIF eingeladen, in diesem Jahr auch Gunthard Weber. Zum Thema machte er die Bedeutung von Symptomen im familiären Miteinander, welche Funktion sie haben könnten, welches Gleichgewicht sie herstellen und wie die sogenannten Symptomträger einen wichtigen Beitrag in ihren Familien leisten. Wir sollten uns ein Video von 30 Minuten Länge anschauen und Hypothesen bilden, mit welchem Problem diese Familie ans Heidelberger Institut gekommen sein könnte. In kleineren Gruppen waren alle Seminarteilnehmerinnen eifrig beschäftigt, herauszufinden, was in dieser Familie los sei. In der Auswertung danach kamen so gut wie alle Möglichkeiten vor, Ehekonflikte bei den Eltern, Trennungsabsichten, außereheliche Beziehungen. Über die Tochter wurde spekuliert, sie könnte eine Essstörung haben, der Sohn könnte drogenabhängig sein. Die Mutter war auch für verrückt gehalten worden, also so ein bisschen psychotisch, der Vater wirkte auf einige depressiv, usw. Jede Teilnehmerin wollte auf einmal ganz klug sein und die beste Erkenntnis über diese Familie produzieren. Es gab ganz aufgeregte Diskussion über die Problematik in dieser Familie. Und dann kam die Auflösung durch Gunthard Weber. Das Video zeigte eine Familie, die im Rahmen einer Vergleichsstudie zu Beziehungsmustern in Familien interviewt worden war und es handelte sich um eine ganz „normale“ Familie, die sich in dieser Studie zur Verfügung gestellt hatte, um über sich und ihre Beziehungen ganz „normal“ zu sprechen. Wir alle waren sehr peinlich berührt über unsere Ideen und den ehrgeizigen Antrieb, besonders kluge Analysen machen zu wollen. Mir ist das so sehr in Erinnerung geblieben, dass ich noch heute dieses Gefühl erleben kann, wie sehr ich mich ins Zeug gelegt hatte, auch bei den Klügsten sein zu wollen, um dann diesem peinlichen Vorführeffekt ausgeliefert zu sein. Ein gutes und lang anhaltendes Lehrstück." Tuesday, December 13. 2011Marx, Maturana und die Kunst zirkulären Denkens![]() "Der erste, der mich auf die Spur systemischen – oder wie ich sagen würde: zirkulären – Denkens brachte, war … Karl Marx. Der zweite war ein junger Assistenzarzt in einer Berliner Klinik. Und schließlich dann ein Mann namens Humberto Maturana. Aber der Reihe nach. Es war etwa 1976. Wie viele Andere damals auch las ich Karl Marx. Ich versuchte das Wesen des Geldes zu verstehen. Geld war für Marx: ein in dinglicher Hülle verstecktes gesellschaftliches Verhältnis. Seltsame Ausdrucksweise… Beim Versuch, sie zu ergründen, stieß ich auf folgendes Paradoxon (Kapital Band I, Kapitel 2): „Die Waren müssen sich (..) als Werte realisieren, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können. Andrerseits müssen sie sich als Gebrauchswerte bewähren, bevor sie sich als Werte realisieren können.“Also wie jetzt…?? Die Gedanken Jahre vergingen. Es muss 1983 gewesen sein. Die Ärzte einer Berliner Klinik hatten mich eingeladen, einen Vortrag über „Herzinfarkt und Industriearbeit“ zu halten. Der Hintergrund: Ich hatte am Wissenschaftszentrum Berlin ein empirisches Forschungsprojekt zum Thema „Herz-Kreislauf-Krankheiten und industrielle Arbeitsplätze“ abgeschlossen. In diesem Projekt ging es darum zu zeigen, dass Herzinfarkt keineswegs nur eine „Managerkrankheit“ ist. Es war eines dieser klassischen Projekte aus dem Bereich „Humanisierung der Arbeit“. Das zugrundeliegende Paradigma lautete: „Arbeit macht krank“. Man suchte nach „objektiven“ Arbeitsbedingungen wie Zeitdruck usw. auf der einen Seite; und nach „subjektiven“ Verhaltensmustern wie Typ-A-Verhalten auf der anderen; kurz: nach sog. Risikofaktoren, die Herzinfarkt „machen“. Mir war immer unwohl bei diesem Ansatz. Er sieht sich als „humanistisch“, ist aber blind für die subtile Gewalt, die sich in der ihm eigentümlichen Art des Beobachtens verbirgt. Also versuchte ich, zirkulär zu argumentieren: Arbeitsbedingungen als „in dinglicher Hülle versteckte gesellschaftliche Verhältnisse“ und die damit korrespondierenden Verhaltensmuster. Und nun zu dem Vortrag. Die Ärzte fanden ihn zwar „irgendwie“ interessant, hatten aber, wie zu erwarten, gewisse Rezeptionsprobleme. Am Schluss kam ein junger Assistenzarzt auf mich zu: “also, ich habe ja auch nicht viel verstanden; aber was Sie da sagen, hört sich ganz so an, wie ein Buch, das ich gerade lese.“ Auf meine interessierte Rückfrage nannte er mir einen Titel, der irgendwie spannend, aber zugleich äußerst seltsam klang: „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“. Ein paar Tage später hatte ich das Buch Maturanas in der Hand. Ich war, genau wie die Ärzte, „irgendwie“ fasziniert, verstand aber erst mal genau so viel wie sie bei meinem Vortrag: nämlich (fast) nichts. Damit begann aber ein Lernprozess, der bis heute andauert. Was ich dabei lern(t)e: Maturana zentraler Begriff „Autopoiesis“ zielt nicht auf eine Theorie im klassischen Sinn. Es geht vielmehr darum zu lernen, eine bestimmte Haltung einzunehmen: die Haltung eines Beobachters, der lebendige Zusammenhänge be-greifen will, ohne ihnen durch sein Beobachten Gewalt anzutun. Und dieser Be-griff / diese Haltung erschließt sich uns dann, wenn wir lernen, jene Seite des Erkennens, die wir gewöhnlich ausblenden, immer wieder einzublenden: das vorbegriffliche, sinnlich-ästhetische, körper-nahe Denken, die Welt der inneren Bilder, die wir in unseren Konversationen – mit Händen, Füßen, Mimik und Stimme – fortlaufend gemeinsam erzeugen. Es ist m. E. der große Mangel der Luhmann’schen Systemtheorie, dass sie die Bedeutung dieser Ebene für gesellschaftliche Synthesis (für das, was Gesellschaft zusammenhält) nicht in den Blick bekommt. Dass sie blind ist für die subtilen Mechanismen der Gewalt, die sich in unserem Vergesellschaftungsmodus verbirgt. Insofern ist Maturana für mich heute aktueller denn je." Monday, December 12. 2011systemische Aufstellungen als NebenHauptfach
Wofür das Aufstellen nicht alles gut ist. systemagazin-Leser
![]() "Meine erste wirklich zündende Begegnung mit systemischer Theorie und Praxis fand eher am Rande eines universitären Einführungsseminars in systemische Familientherapie statt. Der Professor, dessen Name ich mittlerweile vergessen habe, erwähnte kurz vor Schluss, dass es als familientherapeutischen Ansatz auch die Aufstellungsarbeit von Bert Hellinger gäbe, und es sehr erstaunlich und lehrreich sei, als Stellvertreter aufgestellt zu werden. Ein schönes Beispiel für die Idee, dass die Bedeutung der Nachricht beim Empfänger entschieden wird: Irgendetwas interessierte mich an dieser Stellvertreter-Idee außerordentlich und so telefonierte ich die lokalen Aufsteller ab, die im örtlichen Stadtmagazin warben. Dort war ich in der Folge immer wieder ein gern gesehener Gast – vor allen Dingen als Mann. In der Tat hat mich diese Arbeit damals sehr fasziniert. Die Beschäftigung damit hat mich zudem über so manche Frustphase des Studiums hinübergerettet. Ich habe sozusagen systemische Aufstellungen als NebenHauptfach (hauptsächlich, aber neben dem Studium) studiert und schließlich sogar meine Diplom-Arbeit über dieses Thema geschrieben. Durch das Stellvertretern ergaben sich außerdem sehr schöne und ermutigende Kontakte mit Therapeuten, die mir heute noch gut im Gedächtnis sind. Für mich war diese Möglichkeit ein großes Glück: Wo hätte ich sonst so direkt Familientherapie und –therapeuten als Außenstehender erleben können? Mittlerweile habe ich mich von Aufstellungen etwas entfernt, nähere mich aber zyklisch immer wieder an und absolviere zurzeit eine „klassische“ systemische Ausbildung. Geblieben ist mir eine entspannte Offenheit, scheinbar widersprüchliche Ideen und Ansätze nebeneinander gelten lassen zu können. Darüber bin ich sehr froh. Und bei der Gelegenheit möchte ich dem Professor von damals für seinen Schmetterlingsflügelschlag danken, der mir letztlich einen schönen kleinen Sturm im Leben beschert hat."
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