Thursday, December 26. 2013Wiltrud Brächter: Geschichten von Kindern als Ausgangspunkt eigenen SchreibensGelesen habe ich immer schon gern und viel, auch geschrieben habe ich zu verschiedenen Anlässen gerne. Dass ich begonnen habe, über Psychotherapie zu schreiben, lag an dem besonderen Feld, in dem ich hier tätig bin: der Kindertherapie. Seit Beginn meiner Arbeit als Spieltherapeutin war ich fasziniert davon, wie Kinder ihre Erfahrungen im Spiel und in eigenen Gestaltungen ausdrücken. Meine Aufgabe als systemische Therapeutin sah ich darin, sie dabei zu unterstützen, Szenen weiterzuentwickeln und sich Lösungen zu erspielen. Sandbilder, vom Problemerleben des Kindes bestimmt, gerieten in Bewegung, wenn Kinder sie „weiter spielten“; stereotypes Rollenhandeln konnte sich auflösen, wenn es in den Kontext einer Handlung eingebettet wurde und ich dem Kind als Gegenüber zur Verfügung stand. Spieltherapie wurde in dieser Ausrichtung zu einer Arbeit an Geschichten, zu narrativer Therapie. Ich war beeindruckt von der literarischen Qualität, die in vielen der von mir mitverfolgten Geschichten zum Ausdruck kam, teils bereits in Formulierungen während des Spielgeschehens, oft noch pointierter, wenn Kinder mir ihre Geschichte am Schluss der Stunde zum Mitschreiben diktierten. Begonnen hat mein Schreiben über Therapie in solchen Momenten in der Rolle der Sekretärin. Oft gab es in der Endfassung von Geschichten noch einmal neue Wendungen und Lösungsideen; durch den gebräuchlichen Einstieg „Es war einmal…“ wurden schwierige Lebensereignisse zudem vom Kind selbst der Vergangenheit zugeordnet. Gemessen am Metaphernreichtum und an der Fantasie, die viele Geschichten der Kinder durchzogen, erschienen mir therapeutische Geschichten für Kinder von Erwachsenen meist eher flach und eindimensional, zu offensichtlich darauf ausgerichtet, eine Botschaft zu transportieren. Erzählungen der Kinder ließen sich nicht so leicht entschlüsseln wie therapeutische Geschichten eines Protagonisten, der in die Welt hinaus zieht, Schwierigkeiten überwindet und gestärkt aus seinen Abenteuern hervorgeht. Selbst entwickelte Geschichten der Kinder waren häufig vielschichtiger, gaben verschiedenen Aspekten ihrer Person Raum, enthielten zahllose Schleifen und Umwege und besaßen eine Symbolik, die sich einem direkten Transfer in die äußere Realität widersetzte. Zum Schreiben kam ich zunächst, indem ich Geschichten der Kinder für sie notierte, um sie ihnen zum Abschluss der Therapie zur Verfügung stellen zu können. Das Aufschreiben machte es möglich, flüchtige Momente im Spiel einzufangen, Erfahrungen von Ausnahmen und neuen Möglichkeiten Raum zu geben und wichtige Handlungsschritte noch einmal hervorzuheben. Konzentrierte sich meine Arbeit zunächst auf den Raum der Einzeltherapie, begann ich später, diese Geschichten zu veröffentlichen: zunächst gegenüber den Eltern, die durch sie oft einen vertieften Zugang zum emotionalen Erleben ihres Kindes gewinnen konnten, anschließend auch in der Fachöffentlichkeit, da mir der therapeutische Gewinn der narrativ orientierten Arbeit zu hoch erschien, um ihn KollegInnen nicht zugänglich zu machen. Bis heute finde ich es hoch spannend, einen Bogen zwischen den Geschichten der Kinder und therapeutischen Hintergrundkonzepten zu schlagen. Ging es mir zunächst darum, Methoden der systemischen Therapie mit der jeweiligen Spielhandlung zu verknüpfen, interessieren mich zurzeit vor allem ein Ego-State-orientierter Blick auf das Spielgeschehen und die Möglichkeit, Kinder und Eltern zur Entwicklung gemeinsamer Geschichten anzuregen. Je nach dem, welchen theoretischen Fokus ich verfolge, sehe ich unterschiedliche und immer wieder neue Aspekte in den Spielhandlungen der Kinder und greife sie auf unterschiedliche Art und Weise auf – ein Prozess, der vermutlich noch einige mir unbekannte Wendungen bereit halten wird. Wer auf Geschichten und Gedichte von Kindern in therapeutischen Kontexten neugierig geworden ist, findet sie u. a. hier: I. Hesse u. H. Wellershoff (1997): „Es ist ein Vogel – er kann fliegen im Text“: Kinder schreiben sich ihre Geschichten von der Seele. Tübingen (Attempo). Wednesday, December 25. 2013Peter Müssen: Wirklichkeit gleich Beziehung - Die Geschichte vom Holzpferd
Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,
eine Weile hatte ich Sorge, ob ich den diesjährigen Adventskalender füllen kann, aber dann haben mir doch so viele Kolleginnen und Kollegen mit ihren Beiträgen geholfen, dass der Kalender mal wieder überfließt. Die beiden verbleibenden Beiträge können Sie also heute und morgen hier lesen. Den Anfang macht Peter Müssen aus Köln, hier sein Beitrag:
Tuesday, December 24. 2013Andreas Wahlster: Lesen und Denken und was wird mehr?![]() Und doch sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bis mich die nächste systemische Infektion befiel. Eines Tages in den Achtzigern ( immer noch vergangenes Jahrhundert) fand ich mich in einem prall gefüllten Hörsaal ( nein, diesmal keine studentische Vollversammlung) der medizinischen Psychologie an der Uni Heidelberg wieder. Die damals auch noch ziemlich jungen Wilden namens Fritz Simon und Gunther Schmidt boten eine Vorlesung mit dem Thema: Einführung in die systemische Familientherapie oder so ähnlich an. Ich arbeitete damals als Sozialpädagoge in einer psychiatrischen Klinik und war zunehmend neugierig auf die Arbeit mit Familien. Ausgestattet mit viel Engagement und stabilem Unwissen, wie Familientherapie „ so überhaupt funktioniert“ , besuchte ich die Vorlesung. Und was musste ich sehen: Loriotfilme! Was, bitte schön, hatte das mit Familientherapie zu tun? Ich war ziemlich sauer, fühlte mich kräftig verarscht und verließ vorzeitig den Hörsaal. Aber die Auswirkungen waren nicht mehr zu ![]() Doch meine Neugier machte mir einen Strich durch die Rechnung, die Bücher ließen sich immer weniger leicht auf die Seite schieben, zumal ich weitere Bücher erwarb. So begann ich mehr zu lesen, mehr zu verstehen und parallel mit Familien zu arbeiten, Fehler zu machen und fast unmerklich zu lernen. Gleichwohl waren die Lücken noch erheblich und wohlmeinende Freunde haben sich getraut, mir das zu sagen. Denn mittlerweile war ich zum Lehrtherapeuten geworden und jetzt hatte ich den Salat. Also: Lesen und Denken und was wird mehr? Die Neugier und die Lust auf Bücher, Gespräche mit Kollegen und Freunden quer durch die Berufe - um mit Peter Fuchs zu sprechen, es wird transdisziplinär. Und das Schreiben? Ich habe damit begonnen, mit Spaß und Passion, neue Ideen entstehen und ein wohliges Gefühl, etwas verstanden zu haben, obwohl die Lücken nicht weniger, sondern mehr werden. Das Suchen geht weiter… Sunday, December 22. 2013Ulrich Schlingensiepen: Nah-Distanzen![]() Ich fand das alles sehr beeindruckend und hatte keine Ahnung von dieser Art Perspektivenverschiebung, Irritation und Erweiterung des eigenen Erfahrungspotentials. Viele Jahre später begleite ich viele Open Space Großgruppenkonferenzen, welch ein Zufall. ![]() Saturday, December 21. 2013Lothar Eder: Wer schreibt der geht: warum Lesen und Schreiben manchmal in Tabubereiche führt![]() Dieses Geschehen scheint mir völlig nachvollziehbar. Jede Gruppierung, Strömung, Gemeinde („Community“) schafft sich Identitäten, sie schafft sich Überzeugungen und damit – ganz i.S. Luhmanns – Ein- und Ausschlüsse. Mitglieder des Systems reagieren dann mit Zustimmung oder Ablehnung auf Operationen von Akteuren: passen sie zur eigenen „Religion“ oder nicht? Damit wäre ich beim Punkt: ich habe Luhmann vor 10, 15 Jahren mit großer Begeisterung gelesen und hatte damals den Eindruck, von der Lektüre enorm bereichert worden zu sein (was sicherlich bis heute stimmt). Mir fällt allerdings ein Satz aus den „Sozialen Systemen“ ein, den ich vor Jahren einmal als Leitmotto über ein Buchkapitel gestellt habe. Der Satz lautet: „Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück“. Heute finde ich diesen Satz in mehrfacher Hinsicht falsch. Der Satz tut so, als gäbe es eine Evolution von Erkenntnis, in dem die Auseinandersetzung mit kommunikativen Prozessen weiter vorne steht als diejenige mit der Seele. Der Satz behauptet zudem (implizit), dass Kommunikation ein komplexes Geschehen sei, das Seelische aber „einfach“. Sollte Luhmann dies tatsächlich so gemeint haben, dann irrt er gewaltig. Womöglich (oder gar wahrscheinlich) liegt dies daran, dass er sich mit dem Seelischen gar nicht befasst hat, zumindest nicht in der Tiefe. Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn von einem Soziologen erwartet man gewöhnlich keine seelenkundlichen Aussagen. Dennoch aber sind Luhmanns Aussagen zum Seelischen im ![]() Für eine psychologische Betrachtung aber, auch für eine psychotherapeutische, ist eine Theorie und Therapeutik, welche das Seelische in den erforderlichen Hinsichten berücksichtigt, per se unerlässlich. Dass dies mit einer Luhmannschen Perspektive allein hinreichend geschieht und geschehen kann, daran habe ich mittlerweile erhebliche Zweifel. Um eine Analogie zu gebrauchen: mit einer physikalischen Metatheorie alleine – und sei sie noch so brillant - könnte man schwerlich organische Chemie betreiben. Das Jahr 2007 bedeutete für mich persönlich eine Wende. Ich verließ das systemische Ausbildungsinstitut, das ich mitgegründet hatte, die Mannheimer Gesellschaft für systemische Therapie (MaGST). Die Neugründung eines anderen Institutes scheiterte. Ich war nun also kein aktiver systemischer Lehrtherapeut mehr. Und was mich wunderte war, dass ich dies als stimmig empfand. Jahre später, bei der Lektüre von C.G. Jung und seinen „seelischen Endabsichten“ im Prozess der Individuation, wurde mir diese Stimmigkeit klar. Ich hatte an einem Scheideweg gestanden, ohne es zu wissen. Ich hatte damals (scheinbar) mehrere Optionen zur Auswahl: mehr im Bereich Coaching und Ausbildung zu arbeiten oder mich auf meine ursprüngliche Identität als Seelenkundler zu besinnen. Und meine innere Antwort war im Laufe von Wochen und Monaten klar: ich bin ein „Psycho“. Wenn man so will, hat meine Seele („mein psychisches System“ zu sagen, geht mir an dieser Stelle reichlich gegen den Strich) das „gewusst“. Es war mir bewusst, dass die Aussicht auf Einkommen und Renommee in anderen Bereichen als der Psychotherapie größer waren, v.a. im systemischen Kontext. Aber ich hatte mich im Alter von 13 Jahren in dieses Fach Psychologie verliebt (damals allenfalls im Besitz einer leisen Ahnung, was es beinhaltet), habe es mit Überzeugung und großer Enttäuschung über den Mangel an Hermeneutik studiert (fast wäre ich gescheitert, zum einen an der Statistikprüfung im 2. Semester, zum anderen an aberwitzigen Blütenträumen, statt eine Diplomarbeit in Psychologie eine Kabarettistenlaufbahn zu beginnen) und war im Besitz einer Approbation und Kassenzulassung für Verhaltenstherapie. Somit besann ich mich auf mein „Kerngeschäft“: meine Psychotherapiepraxis. Als weiterer veränderungsstiftender Aspekt kam dazu, dass ich mich seit Jahren auf Psychosomatik als therapeutischen und theoretischen Schwerpunkt spezialisiert hatte. Meine Sichtweisen zu einer „systemischen Psychosomatik“ habe ich in mehreren Fachartikeln und einem Buch („Psyche, Soma und Familie. Theorie und Praxis einer systemischen Psychosomatik“, 2007 erschienen) veröffentlicht. In der Beschäftigung mit Patienten, die eine psychosomatische Problematik mitbrachten, wurde mir nach einiger Zeit klar, dass bestimmte systemische Arbeitsweisen nicht oder nur eingeschränkt funktionieren. Zum Beispiel ergibt es wenig Sinn, einen psychosomatischen Patienten nach seinem Therapieauftrag zu fragen. Später, als ich mich mit psychodynamischen Ansätzen beschäftigte, wurde mir klar warum: die Besonderheit psychosomatischer Störungen (letzterer ein in der ST verpönter, aber doch aufgrund seiner Etymologie wie ich finde sehr stimmiger Begriff) liegt eben gerade darin, dass ein ungelöster psychischer Konflikt auf der körperlichen Ebene ausgetragen wird. Er ist vordergründig nicht bewusst und nicht direkt zugänglich. Einen psychosomatischen Patienten zu fragen, was denn am Ende der Therapie herauskommen könnte, ist meiner Meinung nach ebenso effizient als würde ich meinen Kater fragen, ob er sein Futter morgen nicht selber kaufen könne. Hier ist ein aus meiner Beobachtung weiteres wesentliches Element des systemischen Mainstreams angesprochen. Es wird in der systemischen Literatur oft so getan, als seien Patienten (ich verstehe sie nicht mehr als Kunden) uneingeschränkt über sich selbst auskunftsfähige Subjekte. Meine eigene, durch die Arbeit mit psychosomatischen Problemen angestoßene Sichtweise ist mittlerweile eine andere: Patienten brauchen eine Begleitung, die sie zu einem besseren Verständnis ihrer selbst führt. Ich kann diesen Prozess nicht besser beschreiben als mit der Freudschen Denkfigur: es geht darum, Unbewusstes bewusst und damit zugänglich zu machen. Der Zweck dieses Vorgehens liegt allein darin, dem Patienten die Zusammenhänge seines seelisch-körperlichen Symptomgeschehens zugänglich, verstehbar und damit veränderbar zu machen. Die für mich entscheidende Leitfrage kommt für mich an dieser Stelle allerdings nicht von Freud, sondern von C.G. Jung (den ich nebenbei für den eigentlichen Paten und Meister der Ressourcenorientierung halte): „Was will das (dieses Symptom, diese Krankheit, dieses Problem) von dir?“ Die Systemische Therapie hat nach meiner Einschätzung nicht nur stillschweigend diese Leitfrage übernommen und als eigenes Gedankengut ausgegeben, sie benutzt ohnehin in reichlichem Maße psychodynamische Aspekte: z.B. setzen Modelle wie das der Delegation oder von unsichtbaren Bindungen in Familien unbewusste Prozesse implizit voraus, egal ob man diese so benennt oder nicht (ähnliches gilt m.E. für das Modell der inneren Familie oder das der Externalisierung). Ein weiterer Aspekt: das Bemühen um eine Entpathologisierung therapeutischen Denkens und Handelns beraubt meiner Meinung nach sowohl Therapeuten als auch Patienten einer wesentlichen Tiefendimension menschlichen Erlebens: derjenigen des Leids. So zu tun, als gäbe es diese Dimension nicht, kommt mir - zugespitzt formuliert - so vor als würde man per Dekret Temperaturen unter Minus 10 Grad abschaffen. Gerade Jung hat, wie ich meine, gezeigt, welch reichhaltige Ressourcen im Anerkennen des Leids einer Symptomatik liegt und im „Verstehen“ der darin enthaltenen „Botschaften“. Allerdings muss man es im Kontakt mit Patienten dann auch aushalten, diesem Umstand Raum zu geben und darauf verzichten, Patienten mit scheinbar lösungsorientierten oder zirkulären Fragen zu „bombardieren“. Ich denke an ein Zitat des Schriftstellers Daniel Kehlmann: „Es gibt Reiche unterhalb von Vernunft und Sprache“. In der ST, so scheint mir, verschwinden diese Aspekte hinter einer Überbetonung der Besprechung von dem Patienten bewusst verfügbaren und sprachlich auszudrückenden Elementen. Zudem: die fast dogmatische Festlegung, dass eine Therapie in großen Abständen und begrenzt auf maximal 12 Sitzungen erfolgen müsse (gilt die eigentlich noch?) erscheint mir bei einigen – Verzeihung! – Störungen wie die Aufforderung, Kunstfehler zu begehen. Mit psychosomatischen Patienten sind Kurztherapien meist nicht möglich, mit traumatisierten Patientinnen und Patienten (denen oft erst nach längerer Therapiedauer im Rahmen einer haltgebenden therapeutischen Beziehung der Zugang zu traumatisierenden Ereignissen möglich ist) ebenso wenig. So habe ich mich, ohne es zu beabsichtigen, aus dem Bereich des gültigen systemischen Kanons schreibend, lesend und therapierend hinausbewegt, hinein in gewissermaßen tabuisierte Gefilde. Aus heutiger Sicht würde ich nicht mehr von einer „systemischen Psychosomatik“ sprechen (und schreiben). Es gibt die Psychosomatik als theoretischen Ansatz und Therapeutik, und in diesen Ansatz können (und sollen) systemische Sichtweisen einfließen. Katalysiert wurde der Veränderungsprozess meiner Perspektive zudem durch die zeitweilige Mitgliedschaft in einem Forschungskolleg an der Universität Hildesheim zum Thema „qualitative Psychotherapieprozessforschung“. Eigentlich sollte hierbei eine Dissertation herauskommen, die ich auch begann, dann jedoch einsehen musste, dass ich dieses Vorhaben neben einer Vollzeitpraxis nicht zu Ende würde führen können. Ich brach die Arbeit ab, nahm aber eine reiche Fülle von Anregungen und Erkenntnissen mit. In diesem Kolleg praktizierten wir eine minutiöse Analyse der konversationalen Geschehnisse in Therapien anhand von Therapietranskripten. Geleitet wurde das Kolleg von dem Soziologen Stephan Wolff und dem Psychologen und Psychoanalytiker Michael B. Buchholz. V.a. durch die Verbindung von Konversations- und Metaphernanalyse, der genauen Betrachtung konversationaler Anschlüsse in Therapien geschah etwas, was ich nicht für möglich gehalten hatte: dass ich als Systemiker jemals würde eine Faszination für Psychoanalyse entwickeln können. Das war ungefähr so, als würde man als Anhänger von Borussia Dortmund plötzlich Sympathien für Bayern München entwickeln (oder umgekehrt): never ever! Zu meinem Erstaunen aber war hier ein Brückenschlag offenbar möglich: die Betrachtung von Konversationsprozessen als eigentliche systemische Domäne zusammen mit einer genauen Betrachtung, wie im metaphorischen Sprachgebrauch von Patienten deren innere Konfliktorganisation in die Konversation einfließt. Eine perfekte Verbindung einer systemischen (kommunikativen, konversationalen) und einer psychodynamischen Perspektive. So ist es bis heute geblieben. Dieses im Titel angedeutete Gehen ist kein Weggehen. Es ist vielmehr ein Ausschreiten eines weiteren Terrains, eine Erweiterung der Erkundungs- und Erkenntniszone. Heute denke ich, dass der Konversationsbegriff für eine Therapeutik oft sinnvoller ist als derjenige der Kommunikation. Ich kann zudem schwer verstehen, weshalb die systemische Therapie ein anthropologisches Kernthema wie Bindung vernachlässigt und es den Psychodynamikern überlässt, wo es doch eigentlich in ihre „Zuständigkeit“ fällt. Stattdessen konzentriert sie sich meiner Meinung nach zu sehr auf epistemologische Fragestellungen. Und sie wählt sich hierfür eine metatheoretische Rahmung, die von der Philosophin Elisabeth List mit gewisser Berechtigung einmal (bezogen auf Maturana) als „Theorie, die aus der Kälte kam“ bezeichnet wurde. Peter Sloderdijk bescheinigt der Systemtheorie in gewohnt überspitzender Formulierung, den „Autismus von Einzelwesen“ zu fördern: „ […] die Systemtheorie ist die Fortführung des Idealismus mit anderen Mitteln, Und Idealismen entstehen, wenn Denker meinen, etwas gefunden zu haben, was ihnen das Zusammenleben mit anderen erspart. Die einzige Alternative zu einer überspannten Systemtheorie wäre ein hinreichend tief verankerte Anthropologie […]“ (in „Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira“, S. 109). Therapeutisch zu handeln erfordert nicht nur kommunikatives Geschick, es erfordert die Fähigkeit, die hinter den Äußerungen des Patienten stehenden Intentionen, mitgebrachten Haltungen, Erfahrungen zusammen mit ihm (ihr) zu „lesen“. Eine annehmende, begleitende therapeutische Haltung scheint nach aller Erkenntnis hierbei förderlich zu sein. Dieser eher mit Wärme assoziierte Aspekt von Psychotherapie lässt sich, wie ich finde, schwerlich von Luhmann oder Maturana beziehen. Sie findet sich eher in einer personzentrierten systemischen Therapie wie der von Jürgen Kriz, der darin Aspekte der (psychodynamisch begründeten Gestalttherapie) aufgreift. Was ich in der systemischen Therapie gelernt habe ist die Bedeutung von Landkarten. Wenn ich das seelische Terrain betrete, erweisen sich psychodynamische Landkarten als durchaus tauglich. Dies überrascht nicht weiter, denn schließlich war Freud der erste, der das Gebiet systematisch erkundet hat. Und er hat sehr konsequent aus den seelischen Gegebenheiten heraus geschrieben. Wer ihm spekulatives Denken vorwirft, müsste das gleiche Luhmann entgegenhalten. Auch hier hat mein systemischer Hintergrund mit sehr geholfen: er enthält für mich die Ermutigung, Tabus zu brechen und Tabuzonen zu begehen. Und Freud zu lesen (was ich nur in bescheidenem Umfang, aber mit Gewinn getan habe) dürfte fast als maximaler systemischer Tabubruch gelten. Meine erstaunliche Erkenntnis auf diesem Weg lässt sich in einer Frage von Fritz Simon zusammenfassen: „In der Praxis funktioniert es, aber funktioniert es auch in der Theorie?“. Meine persönliche Antwort ist klar: es ist mir vordergründig relativ egal, ob systemische und psychodynamische Theorie konkordant sind oder nicht. In der Praxis (so meine eigene Deutung meines Vorgehens) ist es eine gewaltige Bereicherung, systemische, verhaltenstherapeutische und psychodynamische „Brillen“ zu haben und über entsprechende Haltungen und Vorgehensweisen zu verfügen. So wird hier (und das wird mir genau jetzt beim Schreiben bewusst) einmal mehr ein Sowohl-als-auch deutlich: diesen Weg gegangen zu sein, macht sowohl das Gehen als auch das Bleiben möglich. Friday, December 20. 2013Matthias Ohler: Ich gehöre allen. Mir gehört niemand.![]() Es war schon eine Art Befreiungserlebnis. – So etwas sollte man ja mit aller gebotenen Vorsicht sagen, aber ich traue mich nach sorgsamer Prüfung tatsächlich, es so nennen. Aphorismen sind, aus meiner Sicht, Erfahrungssätze, die kurz vorm Status der Gewissheit stehen, aber noch durchscheinen lassen, dass sie aus einem oft lange erfahrenen Weg dorthin entstanden sind – und lieber nicht als fraglose Gewissheiten enden wollen. 1986 stand für mich fest, dass ich nach dem Universitätsexamen nach Tibet gehen werde. Wollte Erleuchtung suchen. Da fielen mir durch Vermittlung Hans Rudi Fischers diese Texte von Humberto Maturana ins Leben. – Folge: Ich konnte hier bleiben. Dies steht auf einer mit persönlichen Kommentaren versehenen Literaturliste, die ich im Rahmen von Weiterbildungen zu einigen Grundbegriffen von Konstruktivismus und Systemtheorie ausgebe, bei der Empfehlung für Maturana, Humberto: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden 1982, Vieweg. Tatsächlich verstand ich zunächst nur Bruchteile dessen, was mir in diesen alle meine Konzentration fordernden Texten angeboten wurde. Ich verstand aber sofort, dass es hier für mich ![]() Die Erfahrungen in der seither ununterbrochenen Beschäftigung mit größer angelegten theoretischen Entwürfen haben mir immer wieder gezeigt, dass Theorie zu betreiben im wahrsten Sinne des Wortes ein lohnendes Geschäft ist. Der return on investment ist in der immer aufs Neue erfahrenen Erhöhung von Selbstwirksamkeit zu sehen, die diese Beschäftigung hervorbringt. Am deutlichsten, wenn man selber mit Freuden theoretisiert und dabei lernt, aufzupassen, welche Folgen sich als nützlich herausstellen – und welche nicht. Wie fragt man gut nach dem Guten? Wie erkennt man Einladungen zu fragwürdigen anthropologischen Konzepten und schlägt sie gewinnbringend aus? Wie verhindert man, für weise gehalten zu werden - besonders von sich selbst – und bleibt fähig, zu Entscheidungen beizutragen, die sich als weise heraus stellen könnten? Im Zentrum guter Bildung steht nicht ein Katalog von „tools of tooligans“, sondern die Suche nach Verlässlichkeit in der Vorläufigkeit. Nennen wir es vorerst Sichere Kontingenz. Das muss kein Ende finden. Thursday, December 19. 2013Björn Enno Hermans: Vom Supervisor zum Schreiben ermuntert…![]() Aber wie kam es dazu? Ich arbeitete 2006 in der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie (Elisabeth-Klinik) als Psychologe und Stationstherapeut auf der Psychotherapiestation für Jugendliche. Seit etwa zwei Jahren war Tom Levold unser Supervisor und so kam es, dass er uns auch von seinem damals noch recht neuen und jungen Projekt, dem systemagazin, berichtete. Begeistert las ich fast jeden Tag die neuen Beiträge und nach einer Supervision kamen Tom und ich noch kurz ins Gespräch. Ich berichtete ihm, dass ich im März zur Systemischen Forschungstagung nach Heidelberg fahren würde und darauf schon sehr gespannt sei. Tom sagte, dass er noch nicht wisse, ob er teilnehmen könne und fragte mich sofort, ob ich nicht Lust hätte, einen Tagungsbericht für das systemagazin zu verfassen. Etwas „veradttert“ sagte ich sofort ja, da ich mich über die Wertschätzung und das offensichtliche Zutrauen dieser Aufgabe freute. Auf der anderen Seite begannen Gedanken, wie das wohl gut zu bewerkstelligen sei – einen solchen Bericht hatte ich schließlich noch nie geschrieben und ich wollte mich bei der systemischen Leserschaft sicher auch nicht gleich blamieren. Parallel hatte mich Tom ermuntert, doch vielleicht auch einmal über eine Rezension nachzudenken. Das fand ich eine wirklich gute Idee und beschloss mich mit einer solchen quasi schon mal „warm zu schreiben“, bevor ich dann im März nach Heidelberg fahren würde. Gesagt getan und so war die Rezension eines notfallpsychologischen Handbuchs fertig und schon im systemagazin veröffentlicht, bevor ich dann nach Heidelberg zur Forschungstagung fuhr. Dort war ich dann tatsächlich aufgeregt vor lauter Inhalten und systemischer Prominenz. Ganz entgegen meiner eigentlichen Gewohnheit machte ich mir ständig Notizen, um auch ja nichts wichtiges zu vergessen. Schon auf der Rückfahrt im Zug tippte ich dementsprechend auch schon die ersten Zeilen in den Laptop und war auch nach der Rückkehr bemüht, den Bericht möglichst zeitnah fertig zu stellen. Gar nicht so einfach, denn vor lauter detaillierten Notizen ![]() Meinen heutigen Adventkalenderbeitrag habe ich zum Anlass genommen, den Text von damals noch einmal im systemagazin zu lesen. Fast hatte ich befürchtet, mit dem zeitlichen Abstand von heute vielleicht mit dem Produkt nicht mehr zufrieden zu sein. Doch, ganz im Gegenteil, konnte ich noch einmal schöne Erinnerungen an die damalige Tagung in Heidelberg an mir vorbeiziehen lassen. Diese ersten Gehversuche für das systemagazin im Jahr 2006 haben mich dann auch motiviert, weitere Veröffentlichungen in Zeitschriften und Büchern in Angriff zu nehmen. Und wenn ich 2014 zu Beginn der ersten europäischen Forschungstagung in Heidelberg das Grußwort der DGSF sprechen darf, werde ich mich sicher an 2006 und an den Tagungsbericht zurückerinnern. Ich bin also wirklich dankbar, mit so einer einfachen Frage auf die Spur von Veröffentlichungen gesetzt worden zu sein. Danke Tom! Wednesday, December 18. 2013Joachim Hinsch: Leichter wäre es gewesen, einen Beitrag zu schreiben, bevor ich die anderen gelesen habe. Aber dazu müsste man halt schneller sein![]() ![]() Die Liste von Romanen, Erzählungen, Märchen, Liedern und Gedichten, Filmen, die unser therapeutisches Tun bereichern können, ist unendlich, muss aber wohl von jeder TherapeutIn selbst entdeckt werden, obwohl ich große Lust hätte, viel mehr zu erzählen. Natürlich haben mich auch manche Bücher inspiriert, besonders in den letzten Jahren Luhmann. Ich weiß nicht, ob ich ihn so verstanden habe, wie er es sich trotz aller Kontingenz wohl wünschen würde. Aber er hilft mir unglaublich, die Kommunikation, die Paare trennt und sich aufeinander beziehen lässt, zu verstehen, Ärger in Verstehen zu verwandeln, zu begreifen, dass der Anspruch von Paaren, einander zu verstehen, unerfüllbar ist und dass ich sie auch nicht verstehen muss, aber trotzdem hilfreich sein kann. Tuesday, December 17. 2013Lisa Reelsen: „Leben, um davon zu erzählen“ (G.G. Márquez)?![]() Gereimtes zu hören gefiel mir sehr früh, die gesungenen Lieder meiner Mutter, ihre witzigen Sprüche und Spiele mit Sprache. Die Zitate von Joachim Ringelnatz und Heinz Erhardt, die mein Onkel bei seinen sonntäglichen Besuchen fast nebenbei zum Besten gab, liebte ich. Ich blätterte mich durch die dicken Willhelm-Busch- Bücher meines Vaters und amüsierte mich über die Zeichnungen. Fips, der Affe … Als ich lesen konnte, tackerte ich mir wohl selbst ein ordentliches Repertoire lustiger, „sinnloser“ Verse in mein Stammhirn. Zu fast jeder Zeit kann ich sie heute noch abspulen. In der Grundschule las ich mich eher durch die Internats-, Pferde, und Abenteuerbücher für Mädchen. Allesamt waren sie einfach gestrickt, es gab die klare Trennung zwischen Böse und Gut und am Ende gingen alle Geschichten wunderbar friedlich aus. Deshalb mochte ich sie wohl. Bei jedem Einkauf mit meinen Eltern bettelte ich und ich bekam sie auch. Der Versuch, mich in der „richtigen“ Literatur zu bewegen, ging – 9-jährig – sehr schnell schief… zunächst jedenfalls. Denn im Gymnasium arbeiteten wir 1969 mit dem Lesebuch „Wort und Sinn“, damals ein für Kinder wenig ästhetisch ansprechendes Buch. Viele, sehr viele kleingedruckte Texte, daneben – fast als missglückte Entschuldigung für die vielen Buchstaben – einige wenige Bilder aus der Kunst, zwar in Hochglanz gedruckt, doch dafür schwer: Caspar David Friedrich war vertreten und ich kann mich an ein Gemälde erinnern, das Heinrich den VIII. abbildete, welches wir beschreiben sollten. Ich versagte darin völlig, fand wohl nicht die passenden Worte. Dann nahm ich das Lesebuch eines Abends mit ins Bett. „Die rote Katze“, dieser vielversprechende Titel für ein Kind, reizte mich. Doch diese, für mich mehr als traurige Geschichte von Luise Rinser, ließ mich verzweifelt die halbe Nacht weinen und Lesebücher, die wir in der Schule nutzten, nahm ich nie wieder freiwillig in die Hand. Luise Rinser entdeckte ich erst viel später wieder neu. Der Deutschunterricht bis zur 10. Klasse war extrem langweilig, das Lesen empfand ich vor allem in der Pubertät als lästig und nervtötend. Durch die Interpretationsmanie mancher Lehrer, und das Sezieren von Texten u.a. mit der Frage: „Was möchte uns der Autor damit sagen (und wehe, ihr ratet nicht richtig)?“ ließ mich die Literatur meiden. Auch an den Texten von Brecht fand ich erst nach dem Abitur Gefallen. Doch mein Französischlehrer in der 11. Klasse machte uns mit Sartre vertraut. „Huis clos“ – und er ließ uns ![]() Mit dem Schreiben war es ähnlich. Anfangs gerne schreiben, dann schreiben müssen und anschließend nicht mehr wollen. Später wieder genießend, so auch eine besondere, seit 20 Jahren dauernde Brieffreundschaft innerhalb Deutschlands, die der Technik trotzt und vielleicht deshalb so wärmt. Als Zwölfjährige sah ich eines Abends 1973 das Fernsehspiel „Der Zweck heiligt die Mittel“. Ein Film mit Fritz Ungelter als Regisseur und Jörg Pleva als einen der Hauptdarsteller. Das Beziehungsgeflecht der Personen in diesem Film war dermaßen komplex – zumindest für mich, und gleichzeitig so faszinierend, dass ich noch am Abend begann, diese Geschichte aufzuschreiben, damit ich sie nicht vergaß. Jörg Pleva starb in diesem Sommer 2013 und ich erinnerte mich an die nächtliche Aktion. Es ging um ein Familienunternehmen, das weiß ich noch und um verschiedene Ideen, die aufeinander trafen. Man blockierte sich gegenseitig und griff zu unschönen Mitteln, die Situation zu lösen, daher wohl der Titel. Ob es ein guter Film war oder nicht… - mich hatte er jedenfalls beeindruckt und zum Schreiben veranlasst. Trotz oder wegen meiner Liebe zu Literatur und Theater und der für mich damit verbundenen einzigartigen Möglichkeit, mich mit den Gedanken anderer, auch denen von fantasierten Personen, in einer dichten Form auseinanderzusetzen, studierte ich zunächst nicht Deutsch, sondern u.a. Mathematik. Das Examen konnte ich nicht gleichzeitig mit den Mitgliedern meiner Lerngruppe ablegen, da mich eine fette Grippe über zehn Tage ins Bett geschleift hatte. Ein Freund aus dieser Gruppe brachte mir „Hundert Jahre Einsamkeit“ vorbei, durchaus ironisch gemeint von ihm, da ich doch schon so lange malad im Bett hing. Er habe es ausgewählt, da es an der Kasse im Buchladen lag, meinte er und da immerhin eine Zahl im Titel vorkäme. Selbst lese er ja nicht, fügte er noch hinzu. Es war 1982 und Gabriel García Márquez hatte den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Vor dem dicken Buch hätte ich wohl schon vor dem ersten Satz kapituliert, doch lag ich flach, hatte viel Zeit und als der Kopfschmerz nachließ, begann ich zu lesen. Um den Überblick der vielen Personen mit dem Namen Antonio Buendía nicht zu verlieren, malte ich mir auch dazu einen Stammbaum. Das Buch las ich in wenigen Tagen durch und es hat mich verändert. Ich legte es eine Weile sogar stets in meine Nähe und bedauerte es ausgelesen zu haben. Lateinamerikanische Literatur las ich von diesem Zeitpunkt an kreuz und quer, wie süchtig danach. Ich denke an „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ und mein Erstaunen darüber, dass auch in diesem Buch die dargestellten Beziehungen für den Leser nicht entwickelt werden. Sie sind einfach da, sie brechen ebenso plötzlich ab und machen stutzig. Ich erinnere mich, dass darin sehr ausführlich über mehrere Seiten die erfolgreiche Rettung eines Papageis aus einem Baum beschrieben wird. Auf den nächsten Seiten wird fast im Nebensatz ganz beiläufig erwähnt, dass der Mann, der Retter des Papageis, dann gestorben ist. Keine weiteren Erläuterungen. Das ist sie, diese selbstverständliche Unmittelbarkeit, über die ich anfangs beim Lesen gestolpert bin und die ich jetzt oft als Antwort auf die Frage, warum ich Südamerika so mag, gebe. Durch Kolumbien bin ich gereist, auf den Spuren von Márquez. Mittlerweile habe ich viele Romane auf dem iPad, nur um manchmal auf Reisen ein paar Sätze in den schon gelesenen Büchern nachzulesen. Ganz sicher wegen der lateinamerikanischen Literatur zog es mich nach dem Studium beruflich nach Südamerika, wo ich schon einige Zeit meines Lebens verbracht habe, drei Jahre in Argentinien, drei Jahre in Mexiko und nun schon wieder zwei Jahre in Chile. Ich halte u.a. Seminare zu „Kreativem Schreiben“ im Rahmen des Faches „Deutsch als Fremdsprache“, lasse schreiben und erzählen, während ich selbst schreibend am PC eher mit Protokollen von Beratungen nach Schulbesuchen zu tun habe. Die Studenten, die sich zunächst oft nicht trauen, lassen sich dann doch auf den Schreibprozess ein und freuen sich an den Ergebnissen. Und nun habe ich einfach auch mal wieder ein bisschen was anderes aufgeschrieben. Mehr soll es auch nicht sein. Dass ich übrigens mein Mathe-Examen noch gut bestand, verdanke ich dem nicht lesenden Studienfreund, der mich bis zum Nachholen der Prüfungen kurzfristig wieder auf die Welt der Zahlen einstimmte. Den Zugang zu systemischen Texten fand ich auch erst nach und nach. Die Fachliteratur eröffnete mir eine weitere Welt. Sie strengt mich oft an, ähnlich wie die Unmittelbarkeit hier in Chile, doch ich möchte beide nicht missen. Jetzt setze ich mich auf meinen Balkon, genieße den sehr warmen Sommer hier in Santiago und beginne das Buch von Harald Irnberger zu lesen, eine Biografie von G.G. Márquez mit dem Untertitel „Die Magie der Wirklichkeit“, die ich schon seit langer Zeit besitze, für die ich mir jedoch noch keine Zeit genommen habe. Ich glaube, ich beginne mit dem Kapitel „ Befreiung durch die Kraft der Einbildung“. »Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ (G.G. Márquez) Monday, December 16. 2013Dominik M. Rosenauer: Leseerlebnisse![]() Wenn es dann löbliche Ausnahmen gibt, fallen die besonders auf. Eine dieser auffallenden Ausnahmen fiel mir zufällig in den Schoß und wurde sogar zur Basis meiner Diplomarbeit: George Alexander Kellys "Psychology of Personal Constructs". Ein Buch, das in den Fünfziger Jahren in Amerika verlegt wurde und dort so wenig Nachhall fand, dass es zu Beginn des dritten Jahrtausends kaum aufzutreiben war. Es war ein wenig seiner Zeit voraus: mitten in der Hochblüte der dunklen Zeit des Behaviorismus kam da einer mit konstruktivistischen Ideen. ![]() Die Leistung solcher Wissenschafter ist meines Erachtens gar nicht hoch genug einzuschätzen. Immerhin war das Terrain damals denkbar ungünstig für theoretische Überlegungen, die völlig konträr zum damaligen mainstream liefen. Heute ist es mit Sicherheit einfacher, Konstruktivist zu sein. Man ist einer unter vielen. Es ist auch bezeichnend, dass beiden Wissenschaftern zu Lebzeiten nie die Bedeutung zukam, die sie eigentlich verdient hätten. Und diese „Ächtung“ der Scientific Community zieht sich bis heute fort. Denn wer weiß schon, was hinter den Schlagworten „the medium is the message“ tatsächlich steht? Sunday, December 15. 2013Ulrich Sollmann: Dem erlebten Gedanken schreibend Ausdruck verleihen![]() Diese meine spezielle Vorliebe begleitet mich seitdem im Leben auch als Schreiberling. Anfangs versuchte ich mich im akademischen Schreiben, später musste ich für die Krankenkassen Berichte schreiben: Psychotherapieanträge, Verlängerungs- und Abschlussberichte. Diese gehörten zu meiner Abrechnungspraxis im Rahmen der Kostenerstattung (lange vor Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes). Leider wurden die Berichte durch die Kassen nicht bezahlt. Wie also, so dachte ich mir damals, könnte man die Verpflichtung der Krankenkasse gegenüber, die Verantwortung den Klienten gegenüber, aber auch die Lust auf meine eigene Freizeit sinnvoll miteinander verbinden? Im Rahmen von Weiterbildungs-Workshops wurden damals einige meiner Kommentare zu Konzepten von Körperpsychotherapie und Gruppenprozessen auf Tonband festgehalten. Ich war also ein wenig vertraut mit Tonband und Diktiergerät, auch wenn sich die auf dem Tonband festgehaltenen Diskussionen anfangs doch eher kryptisch anhörten. Die Hemmschwelle einem solchen Gerät gegenüber war also niedrig und verbunden mit der Not, Effizienz im Rahme der Abfassung von Berichten walten zu lassen, ermöglichte mir das einen Zugang zum eleganten Schreiben, anfangs im Bereich Psychotherapie, später dann im Bereich Populärliteratur, bis hin zu meiner heutigen Schreibe im Blog oder Kolumne. Einen Zugang, der eher kurz und bildhaft ist, „plakativ wirkend“ und spannungsvoll. Heute weiß ich, dass ich hierdurch ganz unterschiedliche Lesergruppen erreichen kann. Damals hatten wir gerade unsere beiden Kinder bekommen, was meine Zeit zum Abfassen solcher Berichte natürlich noch schmälerte. Lediglich in der Zeit, wenn meine Frau und die Kinder mittags schliefen, bot sich mir die Möglichkeit, überhaupt Berichte zu schreiben. Allmählich entwickelte ich bei den gesprochen-geschriebenen Texten eine gewisse Fertigkeit. Meine Sekretärin tippte die Berichte und legte sie mir zur Korrektur vor. Im Laufe der Jahre verfeinerte ich Konzept, Struktur und Stil meiner „Schreibe“: den Therapieprozess nachzuerleben, nach-zu-denken und gestützt durch meine stichwortartigen Aufzeichnungen ins Mikrofon des Diktiergeräts zu sprechen. Im Laufe der Zeit verringerte sich der Diktier-Aufwand erheblich. Gleichzeitig machte es mir sichtlich Spaß, die Berichte zu verfassen. Ich gewann Zeit. Dies wirkte sich auch ökonomisch aus. Und ich bekam Lust auf mehr. Mehr zu diktieren, mehr diktierend auszuprobieren, mehr mich selbst diesbezüglich zu entwickeln, sowie mehr Lust, über Klienten und mich in der Therapie zu schreiben. ![]() Um nahe genug auch am Klienten zu sein, gab ich vor Abfassen des Berichtes einen Fragebogen aus, um mich später auch auf die konkreten (Selbst-) Aussagen der Klienten stützen zu können. Insoweit machte ich die Erfahrung, dass ich die wesentlichen „Anspruchsgruppen“ befriedigte: Krankenkasse, medizinischer Dienst, Klienten, mich selbst. Anfang der 90-er Jahre begann ich dann in dieser Form ausführlich, differenziert, bildhaft und „professionell unüblich“ über Körperpsychotherapie, über Klienten und mich zu schreiben, was wiederum einen wesentlichen neuen Einfluss auf meinen Umgang mit Klienten in der Therapie und mit mir selbst ausübte. Während ich zuvor über Fälle schrieb, kam es mir vor, dass ich nun therapeutische Geschichten schrieb. Psychotherapie ist eine gemeinsame soziale Aktion von Klient und Therapeut. Ein Dialog, der die vergangene Wirklichkeit, die Lebensgeschichte erinnern und erleben lässt sowie durcharbeiten hilft - auf eine Weise, dass das Früher und das Heute miteinander vereinbart sind. Dieser Rekonstruktion von Wirklichkeit in der Therapie steht das aktuelle Geschehen in der Therapiesituation, in der Therapiebeziehung selbst gegenüber. Klient und Therapeut erschaffen gewissermaßen gemeinsam ihre lebendige Wirklichkeit. Diese Konstruktion von Wirklichkeit ist ein kreativer, einmaliger Vorgang, in den die Selbst-Erfahrung sowohl zur Selbst-Findung als auch zur Selbst-Erfindung wird. Das Geschehen in der Psychotherapie, die Therapiebeziehung, ist somit immer Beschäftigung mit der Vergangenheit und situationsspezifische, neue Gestaltung zugleich. Etwas, an dem Klient und Therapeut gleichermaßen beteiligt sind. Das Zusammenspiel der von mir gelebten, unterschiedlichen Rollen kann m.E. am Besten als ein narratives Geschehen beschrieben werden. Bin ich doch zugleich immer als Therapeut, als „Vertreter“ der Krankenkasse, als Mensch, als Mann, als Vater oder Schreiberling mit im Spiel. Narrativ zu schreiben meint m.E. gerade in der Körperpsychotherapie auch über noch-nicht-bewusste, nicht bewusste, unbewusste Dinge zu schreiben, die nicht selten wie ein Geheimnis wirken. Therapie wird zur gemeinsamen Spurensuche von Klient und Therapeut, zu einer Entdeckungsreise ins Unbekannte. Die therapeutische Geschichte ist also keine Fallgeschichte im herkömmlichen Sinne. Sie zeigt wie ich Therapie mache und wie das wirkt, was da wirkt. Sie ist ein Ausschnitt aus einem oft jahrelangen, hochkomplexen Prozess einer Therapiebeziehung, die sowohl durch Übertragungselemente, reale körperliche Begegnung als auch andere Formen der Realerfahrung zugleich gespeist wird. Die therapeutische Geschichte kann m.E. besonders subtil dynamische, atmosphärische und nicht-bewusste Aspekte des Therapiegeschehens spiegeln. Dies ist in herkömmlichen Fallschilderungen, sogenannten Fall-Vignetten so nicht möglich, sind diese doch eher anonym, abgespalten, zu stark eingegrenzt, seziert. Ich hoffe, durch die therapeutische Geschichte in einen „Zwischenbereich“ vordringen zu können und diesen zu beschreiben. Gemeinsam mit den Klienten den Ort „magischer Geheimnisse“ zu betreten, das dort wirkende Unbekannte, die Spannung, die Aufregung oder gar die irritierende Langeweile zu erleben, um dann diesem Zwischenraum, diesen Zwischentönen menschlichen Lebens Gestalt zu verleihen. Indem ich Vergangenes und Zukünftiges in der therapeutischen Geschichte verknüpfe, hilft diese, zu verstehen, schafft aber gleichzeitig auch etwas Neues, indem sie eine Wirkung beim Klienten, bei mir und bei möglichen Lesern hervorruft. Anfang der 90er Jahre habe ich in zwei Büchern zahlreiche solcher therapeutischen Geschichten erzählt. Habe zuvor die Klienten um Erlaubnis gebeten, ihnen anschließend den Text zur Lektüre und Korrektur vorgelegt. Sie hatten nach der Lektüre des endgültigen Textes immer noch die Möglichkeit, ihre Einwilligung zurückzuziehen. Eindrucksvoll war dabei, wie die Lektüre der therapeutischen Geschichte durch den Klienten sich wiederum auf den Therapieprozess selbst auswirkte. Insoweit schließt sich für mich der Kreis in der Begegnung zwischen Klient und Therapeut. Hierüber auf diese Weise zu schreiben wurde zu einer der wichtigsten „lessons learnt" in meinem persönlichen und beruflichen Leben. Auch wenn einige die therapeutischen Geschichten für „professionelle Schundliteratur“ halten möchten, so stehe ich weiter zu meiner schon in der Kindheit entwickelten Vorliebe zu eben jenem Zugang zum Lesen, zum Schreiben und zum Menschen. Saturday, December 14. 2013Petra Bauer: Fallstudien verfallen![]() Es war sicher auch nicht ihre Schuld, dass ich in meiner ersten beruflichen Praxis als Sozialpädagogin in der Psychiatrie mit den Erträgen meiner intensiven Lektüre schnell an die Grenzen stieß. Die reale Welt einer großen psychiatrischen Landesklinik war ganz anders als gedacht und überraschend schnell änderte sich dort erstmal gar nichts. Hätte ich den Klassiker von Erving Goffman ‚Asyle‘ und seine scharfsinnige Analyse psychiatrischer Anstalten als totaler Institutionen früher gelesen, wären mir manche harten Erfahrungen mit der Institution vielleicht erspart geblieben, aber diese Lektüre kam erst später, als ich das Buch im Rahmen meiner Dissertation häppchenweise durchgearbeitet habe. Das ist nicht gerade leichte Kost, auch wenn amerikanische Soziologen allemal verständlicher schreiben als ihre deutschen Kollegen (allen voran der systemische Übervater Luhmann). Was sich aus meiner Psychiatriezeit und der damit verbundenen Ernüchterung bis heute gehalten hat, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber vermeintlich schnell wirkenden Interventionen und viel-versprechenden Methoden. Daher lese ich in der Regel auch keine Methodenbücher. Geblieben ist mir auch die Suche nach einem umfassenderen Verständnis von psychischen ![]() Mit Alfred bin ich nicht nur einem Modell, sondern auch einer Forschungsmethode verfallen, der qualitativ-rekonstruktiven (Einzel-)Fallstudie. Das ist in Zeiten, in denen harte Zahlen und quantitative Daten Hochkonjunktur haben, für eine Wissenschaftlerin nicht immer ganz einfach durchzuhalten. Dennoch sind Fallstudien einfach ein großartiger Zugang zu sozialen Welten in Familien, Teams, Organisationen und Regionen, wenn es tatsächlich gelingt, einen analytischen Zugang und vertieftes Verstehen mit dem Eintauchen in eine spannende Geschichte zu verbinden. Daher würde ich mal etwas kulturpessimistisch angehaucht sagen: so lange es noch Verlage gibt, die auch umfangreiche fallrekonstruktive Studien (geht meist nicht unter 250 Seiten ab) veröffentlichen und solange es noch Menschen in Wissenschaft und Praxis gibt, die damit etwas anfangen können, sollte man dranbleiben. In diesem Sinne - falls Sie zu denen gehören, die wissenschaftliches systemisches Denken (zum Thema Psychiatrie und Familie) in Form von gut gemachten Fallstudien spannend finden, hier einige überhaupt nicht repräsentative sondern extrem subjektiv gefärbte Empfehlungen: Allert, Tilman (1997): Die Familie. Fallstudie zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin: De Gruyter. Floeth, Thomas (1991): Ein bißchen Chaos muss sein. Die psychiatrische Akutstation als soziales Milieu. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hildenbrand, Bruno/Welter-Enderlin, Rosemarie (2004) : Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta. Hildenbrand, Bruno (2006): Alltag und Krankheit. (2. Aufl.) Stuttgart: Klett Cotta. Kastl, Jörg Michael (2009): Hannes K., die Stimmen und das persönliche Budget. Soziobiographie einer Behinderung. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Rosenthal, Gabriele/Stephan, Viola/Radenbach, Niklas (2011): Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von „Russlanddeutschen“ ihre Geschichte erzählen. Frankfurt/Main: Campus-Verlag. Friday, December 13. 2013Cornelia Tsirigotis: Schreiben – ein dialogisches Medium?![]() Lesen allerdings war ab den ersten Monaten in der Schule meine Lieblingsbeschäftigung. Wenn ich kein neues Buch hatte, las ich die bereits gelesenen noch einmal und entdeckte Neues darin. Die Eltern drehten mir die Sicherungen heraus, damit ich nachts auch schlief und nicht nur las. Im griechischen Bergdorf las ich mich beim Licht der Petroleumfunzel durch die Leitartikel der Zeitung, durch die Dichter, Ritsos, Seferis … Mein Verhältnis zur Fachliteratur oder zu politischen Texten jedoch war ein sehr gespaltenes – ich studierte nicht gerade kurz in den Siebzigern, und die Studentenbewegung prägte noch meinen Hochschulalltag. Mir fehlten Zugang und Biss zu den Themen des Studiums. Auch das Marxsche Kapital erschloss sich mir nicht wirklich in die Tiefe gehend – wenngleich ich mir in der heutigen Krise manchmal wünsche, ich hätte mehr behalten als den „tendenziellen Fall der Profitrate“. Geändert hat sich das mit dem Zugang zu systemischen Ideen und der Ausbildung am IF Weinheim. Das hatte auch damit zu tun, dass ich begann, mir ein Berufsfeld „Frühförderung“ zu erobern, in dem ich parallel zur Ausbildung reflektierte, experimentierte, implementierte… Ich las mich durch die – im Vergleich zu dem pädagogischen „Kram“ im Studiums - aus meiner Sicht viel zugänglicheren und spannenderen Texte systemischen Texte durch, fand erstmals im Leben in Fachliteratur Anstöße zum Weiterdenken und Antworten auf Fragen, kam auf neue Fragen, machte Fragenkataloge, notierte mir Reflexionen aus den Begegnungen mit KlientInnen. Als ehemalige Berichtsmuffelin begann ich sogar, Gespräch mit Eltern zu dokumentieren. Systemische Zugänge zur Arbeit in der Frühförderung fand ich viel hilfreicher als die bisherigen pädagogischen Anleitungsansätze und ich war sehr begeistert davon. Ich glaube, diese Kombination von „hilfreich“ und „begeistert“ waren der Sp(i)rit für den Motor der Weiterentwicklung, der Reflexion, der Auseinandersetzung mit dem, was da täglich geschah. Ich machte mir Notizen, begann damit aufzuschreiben, was mir über meine Arbeit oder über das, was ich gelesen hatte – und die Verbindung von beidem - durch den Kopf ging. Bücher waren gespickt mit bunten Heftklammern und Klebezetteln. Die Notizzettel spießte ich auf einen Spies, wie sie früher Metzger oder KellnerInnen für die Quittungen benutzten, damit sie nicht vom Schreibtisch geweht wurden, und mit dem ersten Computer übte ich mich im Schreiben und Speichern. Die Ordner „Aufdröseln“ und „Ideen“ zeugen vom Festhalten aller möglichen Gedankenfetzen… Die Verbindung von Theorie und Praxis und ihre gegenseitige Bereicherung wurden für mich spürbar. ![]() Mit wohlwollender Unterstützung von systhema-Redakteuren (Dank an Arist, Haja und Wolfgang!!) gab es den ersten kleinen Text über Virginia Satir und die ersten Rezensionen verrieten die Begeisterung beim Lesen von Fachbüchern. Meinen ersten Buchbeitrag über Gruppen – hatte ich doch das Frühförderteam lange genug „genervt“, also am Nerv für sinnvolle Angebote getroffen, unser Gruppenangebot zu vergrößern, lese ich heute noch gern. Der Gewinn des Schreibens lag oder liegt ja nicht nur im Anfühlen einer Zeitschrift oder eines Buches, wenn sie dann fertig vorliegen. Der eigentliche Gewinn erweist sich für mich darin, dass sich durch das Schreiben und Veröffentlichen etwas bewegt. Schreiben legt und hinterlässt Spuren hilfreicher Veränderungen (Wolfgang Loth 1998) nicht nur in den Beziehungen zu KlientInnen. Texte wirken auch in der öffentlichen Diskussion mit Vorgesetzen, Ministerien, GeldgeberInnen, über Themen wie: von wem und wie viel Frühförderung zu finanzieren sei, dass ein Rehabilitationstag nach CI-Implantierung auch Beratung umfassen muss, oder derzeit in Fragen von Inklusion: wie und wo Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihren Lernbedürfnissen gerecht unterrichtet werden sollen. Wenn sich der Arbeitsalltag verändert, im Hauptberuf vom täglichen Arbeiten und Sprechen mit KlientInnen zur einer größeren Betonung von leitenden und moderierenden Aufgaben und im Schreibenshobby vom Scheiben zum Herausgeben und andere-zum-Schreiben-Anregen, dann bleibt nicht mehr so viel Zeit zum intensiven Durcharbeiten und längere-Texte-Schreiben. Wenn ich ältere Texte von mir selbst lese, erstaune ich immer, wie ich das fertig gebracht habe. Vor einigen Wochen erschien ein Buch, für das ich den Text 2010 geschrieben habe, der letzte Text, bevor ich die Leitungsstelle in Frankfurt angetreten habe. Ich hatte ihn fast vergessen und er hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Ich war ganz berührt beim Lesen der Fallgeschichten, die von Ressourcenorientierung und Empowerment erzählen und der Beschreibung der beraterischen Arbeit, die Familien respektvoll den Rahmen für ihre eigene Wege- und Spurensuche steckt. Es sind auch die Klientinnen, die innere DialogpartnerInnen im Schreibensprozess sind: Texte strotzen nur so vor gezogenen Hüten vor ihrem Leiden und dessen Bewältigung. Schreiben ist also doch ein dialogisches Medium. Ich hatte diesen Satz als Zitat dem Dichter Peter Paul Zahl zugeschrieben, finde jedoch beim Recherchieren, dass mir da etwas passend verdreht habe, er redet von einem monologischen Medium. Vielleicht nicht entweder-oder, sondern beides. Meine inneren Dialogpartner sind eher zustimmend und widersprechen selten… Vielleicht so: „Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“ (Jean Paul) Thursday, December 12. 2013Barbara Schmidt-Keller: Zirkuläres Fragen mit Stan und Olli![]() Ich erinnere mich nicht mehr genau an das Jahr, vermutlich war es 1979 oder 1980. In der Bibliothek des Campus war mir ein Buch in die Hände gefallen und hatte meine Neugier geweckt. Durch meine Mitarbeit in einem studentischen Beratungsprojekt war mein Interesse an beraterisch-therapeutischen Konzepten und Methoden groß. Was uns in Vorlesungen und Seminaren vermittelt wurde, waren Einblicke in analytische Theorien, Verhaltenstherapie und ein kleines Basistraining in Gesprächspsychotherapie. Jetzt hielt ich ein Buch in den Händen, das sich unter den bekannten Kategorien nicht einordnen ließ, bereits der Name war sowohl rätselhaft als auch verheißungsvoll: „Paradoxon und Gegenparadoxon“. Die AutorInnen waren Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata aus Mailand. Ich nahm das Buch mit nach Hause und verschlang es wie einen Krimi, fasziniert, begeistert und verunsichert. Wieviel musste da neu gedacht, anders konzipiert und in präzise formulierte Fragen transformiert werden? Fragen, die instrumentell eingesetzt wurden, die einer eigenen Logik entsprangen. Und wo in aller Welt konnte man so etwas lernen? In der nächsten Supervision mit dem uns betreuenden Professor sprach ich ihn darauf an. Er kannte das Buch nicht, aber sein Kommentar war ernüchternd: „Vorsicht“, sagte er, „bei diesen integrativen Methoden. Das ist nicht seriös“. Schade, dachte ich, und glaubte ihm nicht. Fünf oder sechs Jahre später, als der Mailänder Ansatz in Deutschland gelehrt wurde, war ich an Bord. ![]() Viele Jahre später, bei einem Besuch des Centre Pompidou in Paris, hatte ich eine neue und gänzlich unerwartete Begegnung mit der möglichen Leichtigkeit des zirkulären Fragens. Die gesamte Ausstellung war thematisch und räumlich nach Überschriften neu geordnet worden. Der Raum, den ich betrat, trug die Inschrift „Kindheit“. Neben anderen Exponaten lief ein Video, die englischsprachig untertitelte Originalversion von „Big Business“ mit Stan Laurel und Oliver Hardy. Die beiden versuchen in dieser Episode, in Kalifornien Weihnachtsbäume zu verkaufen, klingeln an einer Haustür und verwickeln eine lokale Schönheit in einen Verkaufsdialog. „Would you like to buy a christmas tree?“ war die erste Frage, und als die Antwort der potentiellen Käuferin negativ ausfiel, folgte die 2. Frage: „Would your husband like to buy a christmas tree?“ Und auf die leicht kokettierende Replik „I have no husband …“ folgte dann die völlig verblüffende und doch für Systemiker so eigentümlich vertraut wirkende dritte Frage: „… If you had a husband, would he like to buy a christmas tree??“ (Das Geschäft kam nicht zustande, aber der Film hat noch anderes zu bieten). Doch ich hatte etwas neues erfahren. Staunend und inspiriert nahm ich zur Kenntnis, dass die zirkulären Fragen kulturell stärker verankert sind, als ich das für möglich gehalten hatte. Das schmälert nicht die Leistungen der Pioniere. (Auch wenn Stan und Olli als Ideengeber meines Wissens in der Literatur nicht auftauchen…) Wednesday, December 11. 2013Tom Levold: Lesen als Rettung![]() Ich habe dann bereits vor Schulbeginn alles zu lieben und zu lesen begonnen, das Buchstaben enthielt. Kinderlektüre interessierte mich eigentlich nur am Rande. Ich wollte schnell in die Lesewelt der Erwachsenen hineinwachsen. Im dritten Schuljahr ackerte ich mich durch die Karl-May-Romane, natürlich nicht ohne von endlosen Landschaftsbeschreibungen gelangweilt zu werden. Mit der Einschulung im Gymnasium begann ich, täglich die Zeitung zu lesen, eine Gewohnheit, die ich auch heute noch - trotz aller Online-Informationsbeschaffung - genieße. Mit 14 legte ich mich regelmäßig mit der Bibliothekarin der Stadtbücherei an (ich nehme an, es war die Chefin), die mir keine Erwachsenenbücher ausleihen wollte und mich an die Regale mit Kinderbüchern verwies. Gottlob fand sich eine junge Bibliothekarin, die mir, wenn die Chefin nicht präsent war, alle möglichen Geschichtsbücher auslieh - zu der Zeit beschäftigte ich mich geradezu zwanghaft mit dem zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte (in meiner Psychoanalyse fiel mir dann auf, dass mein Vater zum Zeitpunkt des Kriegsausbruches 14 Jahre alt war, mit mir aber nie darüber sprach). Mit 15 hatte ich dann auch das Bücherregal meiner Eltern weitgehend durch. In dieser ganzen Zeit wurde das Lesen zur Tür in ein Paralleluniversum, das mich jederzeit aus meinem bescheidenen real life erretten konnte. Das betraf schon immer Romane und „Sachbücher“ gleichermaßen. Bücher waren und sind für mich Symbol dieser zweiten Welt, in der alles möglich und alles miteinander zu verbinden und kombinieren ist - auch wenn ich beim Arbeiten mittlerweile PDFs und das Lesen auf meinem iPad bevorzuge, weil ich hier besser festhalten und speichern kann, was mir wichtig erscheint. Bücher wegzuwerfen fällt mir ![]() Meine Begeisterung für Theorie hat viel mit diesen Leseerfahrungen zu tun. Dass man nicht nur erlebt, sondern dieses Erleben durch Beobachtung und Beschreibung literarisch oder wissenschaftlich auf eine neue Ebene hebt, die sich ihrem Gegenstand gegenüber weitgehend autonom verhält, fasziniert mich bis heute. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre floss meine Theoriebegeisterung als Schüler in die marxistische Literatur, die auf den baldigen Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft vorbereiten sollte. Viel Marx & Engels im Original, dazu Ernest Mandel, Paul M. Sweezy usw., aber natürlich vor allem ohne Ende marxistische Sekundärliteratur, die die Welt klassenkämpferisch in Gut und Böse vorsortierte. Daneben viel Psychoanalyse als Gesellschaftskritik: Freud, Reich, Reiche usw. Freilich wurden aber unter der Flagge eines neuen Denkens wieder schnell neue Denkverbote installiert bzw. Vertreter anderer Modelle und Konzepte geächtet. Die „Kritik bürgerlicher Wissenschaften“ entlastete einige Jahrgänge revolutionärer Studenten davon, bürgerliche Wissenschaften im Original zu lesen, da man schon vorgekaut wusste, was man davon zu halten hatte. Diese Reminiszenz an meine Stadtbibliothekserfahrung führte bei mir zu einer gewissen Trotzhaltung, aus der heraus ich begann, mich für „bürgerliche Autoren“ zu interessieren. Für mich überraschenderweise waren diese offensichtlich nicht so dumm, wie sie der Kritik ihrer Theorien nach hätten sein müssen - auch (und gerade) wenn man theoretisch mit ihnen nicht übereinstimmte. Jedenfalls führte das dazu, dass ich mich 1976 entschloss, meine sozialwissenschaftliche Diplomarbeit über einen besonders reaktionären und an der Universität Bochum deshalb sehr verachteten Theorieansatz zu verfassen - die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Im Unterschied zu den gängigen emanzipatorischen und kritischen Theorien schien mir die Systemtheorie in erster Linie eine Theorie sozialer Kontrolle zu sein - und das wollte ich herausarbeiten. Immerhin habe ich in dieser Zeit so gut wie alles von Luhmann gelesen, was bis dato von ihm veröffentlich war, und das war schon eine Riesenmenge - lange vor der „autopoietischen Wende“. Trotz meiner sehr kritischen Haltung, die ich konsequent durchgehalten habe, begann mir die Lektüre Luhmanns immer mehr Spaß zu machen. Sein Spiel mit „Theoriearchitektur“, seine für mich völlig neue Begrifflichkeit, die vielen überraschenden Einsichten, die oft eher beiläufig daher kommen oder sich aus der Anwendung seiner abstrakten Konzepte auf konkrete Phänomene ergeben, haben mir von Anfang an Lust bereitet (auch wenn es eine gewisse Einarbeitungszeit erforderte). Das hat sich bis heute gehalten. Den ganzen Überblick habe ich natürlich nicht mehr, was bei einem Werk dieser Größenordnung kaum verwundern kann. Zwar las ich im Studium auch einen Sammelband, der bei Suhrkamp erschienen war und einige kommunikationstheoretische Arbeiten der Gruppe um Gregory Bateson enthielt (und u.a. von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas herausgegeben wurde), allerdings wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass Luhmann in meinem späteren Leben als Therapeut eine Rolle spielen könnte, dass sich überhaupt Therapeuten für Luhmann interessieren könnten - ebenso wenig wie ich mir überhaupt vorstellen konnte, ein paar Jahre später selbst therapeutisch zu arbeiten. Es kommt halt anders als man denkt. Für meine systemische Entwicklung war allerdings die soziologische Basis und die frühe Beschäftigung mit Luhmann von außerordentlicher Bedeutung und es vermittelt außerordentlichen Spaß und Zufriedenheit, auch einer mittlerweile fast 40jährigen Lektüre immer noch neue Facetten abgewinnen zu können. Sunday, November 24. 2013Matthias Ohler: Notiz zur Liberalen Ironikerin und zu Poetischem Denken![]() Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich „liberale Ironikerin“ nenne. Meine Definition des „Liberalen“ übernehme ich von Judith Shklar, die sagt, Liberale seien die Menschen, die meinen, dass Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun. „Ironikerin“ nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind – (...).Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, (...) dass Leiden geringer wird, dass die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört.Konkret führt die Exposition seines Ziels Richard Rorty zu der Überlegung: Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als „einen von uns“ sehen statt als „jene“, hängt ab von der Genauigkeit, mit der beschrieben wird, wie fremde Menschen sind, und neubeschrieben, wie wir sind. Das ist eine Aufgabe (...) für Sparten wie Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstücke und vor allem Romane. (...) Auf systemtheoretisch könnte man, was Rorty avisiert, vielleicht so verstehen: der Gedanke, psychische, biologische und soziale Systeme würden nur in einem doch noch zu rettenden, bislang noch unverstandenen Ganzen unser Bild vom ganzheitlich zu verstehenden Menschen erlauben, führt in eine totalitäre, menschliche Möglichkeiten, menschlich zu sein, extrem behindernde Forderung nach Gleichschaltung. Ich verstehe die liberale Ironikerin als die Figur – oder sagen wir ruhig: als die Person, die das unternimmt, was ich mit poetisch denken bezeichne. Es ist eine Form des Denkens, die - unter Beibehaltung auch des Ziels von Verbindlichkeit - weniger argumentiert als vielmehr radikal beschreibt. Mit einem Anspruch auf Wahrheit allerdings, die sich aber in dem erweist, was uns jetzt möglich wird zu tun, das uns niemals eingefallen wäre, ja, wozu wir gar nicht in der Lage gewesen wären, bevor so beschrieben wurde. Hier sind Texte von Arendt, Beauvoir, Bonder, Camus, Freud, Heidegger, Lessing, Maturana, Proust, Reinhard, Simon, Wittgenstein und all die unveröffentlichen Wunderwerke der „Namenlosen“ nicht aufeinander reduzierbar, sondern am gleichen Webeprozess beteiligt – alle auch mit dem gleichen Risiko, zeitweise ausgemustert zu werden. Hannah Arendts Idee, niemand habe das Recht, zu gehorchen, ist so ein typisch poetisches Denken. Durch ihren geschickten sprachlichen Spielzug bringt Hannah Arendt die nur scheinbar unter gegenseitigem Ausschluss stehenden Sprachspiele gehorchen und ein Recht haben in einen Zusammenhang, wodurch zu gehorchen fürderhin immer eine Entscheidung sein wird, für die man selber die Verantwortung trägt. Insofern ist die Idee auch nicht selbstwidersprüchlich, wie von einigen, die sich´s einfach machen wollen, behauptet wird, sondern überwindet den Kleingeist dieser Logik durch poetischen Scharfsinn. Könnte man sagen. Sunday, June 16. 2013Ein Gebäudeentwerfer![]() Zum dritten Teil („Ein Gebäudeentwerfer")… Thursday, May 9. 2013Psychiatrische Diagnostik als "McGuffin"
I
![]() Zum vollständigen Text geht es hier… Tuesday, February 5. 2013Die Befehle des Alltags. Glosse von Hartwig Hansen![]() Nein, das ist keine ermutigende Aufforderungsformulierung, die ich in der letzten Beratung verwendet habe, sondern steht mit großen Lettern auf einer Plakatwand, an der ich gestern auf dem Weg zur Arbeit vorbeifuhr. Ach, wieder so ein Imperativ, was wir zu tun und zu lassen haben. Diesmal also „Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl!“ Und darunter „Vertrauen Sie uns! Schauinsland Reisen“. Mein Bauchgefühl sagt: Das ist dreist! Ich kenne die doch gar nicht ... Wieso befehlen sie mir, dass ich ihnen vertrauen soll? Vor Weihnachten waren mir die Plakate der „Hamburger Tafel“ aufgefallen. Darauf das Motiv eines strengen Nikolaus und der Slogan: „Schauen Sie nicht weg!“ Übersetzt: Anderen geht es nicht so gut wie Ihnen – Schauen Sie nicht weg, spenden Sie für die Tafel! Boah, fehlte nur noch die Rute des Nikolaus’ auf den Plakaten und die Mahnung: „Warst du denn auch immer artig?“ Besonders auf die Nerven gehen mir diese permanenten „Jetzt wechseln!“-Aufrufe, die einen geradezu anschreien im Alltag. Wechseln Sie jetzt Ihren Mobilfunktarif, Ihren Pay-TV-Anbieter, Ihre Haarfarbe usw. Eine große Hamburger Bank wirbt mit dem Slogan: „Mit dem offiziellen HSV-Konto ist der HSV immer an Ihrer Seite. Jetzt wechseln!“ Will ich den HSV immer an meiner Seite? Nicht dass ich wüsste. Was soll ich bitte schön noch alles ändern in meinem Leben? Und zwar sofort! „Hier aussteigen für die Karriere!“, schlägt eine Zeitarbeitsfirma in der S-Bahn vor. Den Sicherheitshinweis: Aber bitte nicht während der Fahrt ... suche ich allerdings vergebens. Dafür fehlt in den Waggons nicht das Warnschild über den Türen: „Kommen Sie nicht auf die schiefe Bahn!“ Das meint nun allerdings die schiefe Bahn des Schwarzfahrens. Im Grunde werden wir jeden Tag angeschrien und gemaßregelt: Befehle, Imperative, Ausrufezeichen im öffentlichen Raum, wo man hinschaut. Von der leidigen Werbung im Fernsehen ganz zu schweigen. Mir gefällt das nicht, genauso wenig wie im privaten Telefongespräch, wenn ich dann mal wieder höre: „Mach’s gut!“ oder „Werd schnell wieder gesund!“ – Das ist anstrengend. „Erfüllen Sie sich Ihre Träume!“ Raten Sie mal, wer mir das entgegenschleudert. Das kann alles sein, da haben Sie recht. Diesmal ist es ein Synonym für: Notleidende Banken bitten um Ihre Hilfe bei ihrer Rettung. Nehmen Sie jetzt Ihren persönlichen Privatkredit auf! Sonst verdienen wir nichts mehr. „Erfüllen Sie sich Ihre Träume!“ Logisch. Das beste Imperativ-Plakat fand ich allerdings vor ein paar Wochen in einem Einkaufszentrum. Das Schild im Schaufenster war schlicht, aber deutlich: „Jetzt stricken lernen!“ Ich schaute durchs Fenster in den Verkaufsraum: Die Wandregale voll von Wollknäueln und Strickzeitschriften. Ich fühlte mich nicht wirklich angesprochen, musste aber kurz überlegen, was passieren würde, wenn ich nicht sofort diesen Laden betreten und kundtun würde: „Sie haben recht. Ja, ich muss heute noch stricken lernen!“ Wahrscheinlich würde ich sofort den Weltuntergang auslösen. Dann vielleicht doch lieber sofort stricken lernen! Wie war das noch? Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl! Meins sagt: Lasst mich doch alle in Ruhe!!! Hartwig Hansen Wednesday, December 26. 2012Wenn’s kommt, dann kommt’s richtig![]() Es war einmal eine Reise nach Indien, bei der ich wie so manch anderer in der damaligen Zeit (ich glaube, wir schrieben das Jahr 1976) auf der Suche nach einem alten Mann war, der unter einem noch älteren Baum saß und gerade durch seine anmutige, in sich ruhende Haltung und natürlich den entsprechenden weisen, langen, weißen Bart, die (aus heutiger Sicht natürlich idealisierte) erhoffte Weisheit verkörperte, um an dieser Weisheit zu partizipieren. Damals, mit dem Auto unterwegs nach Indien, machte ich derweil so manche eigentümliche Erfahrung. Eine dieser Erfahrungen erschütterte mich und mein Verständnis davon, wie die Welt wohl zu funktionieren habe. Aber leider nicht funktionierte. In Südindien, in der Nähe von Madras, wurde mir über Nacht meine Fotoausrüstung gestohlen. Ich hatte eine Ahnung, wer der Dieb wohl hätte sein können, wähnte mich daher sicher, als ich die Polizei beauftragte, den Dieb zu suchen. Der Polizist, ein freundlicher Inder, setzte sich zu mir und wollte den Vorfall aufnehmen. Ganz zu meiner Überraschung fragte er sehr ausführlich nach den Dingen, die nicht gestohlen wurden, die also noch da waren. Dinge, die der Dieb zurückgelassen hatte. Trotz meines mehrfachen Drängens bemühte er sich weiterhin gerade diese Dinge aufzulisten, um mich mit einem weiterhin freundlichen Lächeln zu vertrösten: Es bliebe ja immer noch genug Zeit, den Dieb zu suchen, ich sollte mich doch nicht so eilen. Wenn’s kommt, dann kommt’s richtig! - Ich verstand damals Gott und die Welt nicht mehr, hatte ich doch Sorge, dass je länger wir warteten, desto weiter sich der Dieb vom Tatort entfernen könnte. Zwar wusste ich um die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien. War daher mental gut vorbereitet. Zwar hatte ich mich, da ich mit dem Auto unterwegs war und so einige Zeit bereits in Indien verbracht hatte, an die dortigen Gepflogenheiten gewöhnt. Jetzt, im Ernstfall, versagte aber all mein so erworbenes kulturelles Wissen. Ich fühlte mich radikal auf mich selbst zurückgeworfen, spürte die Erschütterung in meinem Körper, konnte nur noch aufspringen, als der Polizist weiterhin lächelte und mich befragte, um im Raum auf und abzurennen. All das, was ich wusste, all das, was ich mir vorgenommen hatte, all das, was mir geraten wurde, all das funktionierte auf einmal nicht mehr, und ich erlebte mich nur noch körperlich tief erschüttert und gerade diesem körperlichen Erlebensprozess ausgeliefert. Schnitt. – Inzwischen bin ich in verschiedenen kulturellen Kontexten beruflich unterwegs. Sei es in der Arbeit mit Kroaten in der Ausbildung, sei es in dem kollegialen Austausch mit Chinesen über Kommunikation und Psychotherapie im interkulturellen Kontext. Sei es über Workshops bei internationalen Kongressen. In der Regel, wenn die mir sonst vertrauten Möglichkeiten des Verstehens und des Austauschs versagen, erlebe ich eine ähnliche, unmissverständliche, körperliche Resonanz, wie damals in Indien. Inzwischen bin ich immer noch erschüttert (das kann dann starke Verunsicherung, aber auch überraschende Freude und Neugier sein). Und doch bringen mich solche Erfahrungen nicht mehr so aus dem Lot wie es damals der Fall war, bedingt durch das freundliche Lächeln und die doch so ganz einfachen Fragen des indischen Polizisten es vermochten. Die Begegnung in der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, vor allem wenn die Worte versagen, wird erleichtert gerade durch solche körperlich gespürten Erschütterungsprozesse. Erschütterungen auf beiden Seiten. Erschütterungen, die mich wach halten. Erschütterungen, die, wenn beim anderen wahrgenommen, gegenseitiges implizites Verstehen erleichtern. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es ein nicht zu unterschätzendes Merkmal von interkulturellen Erfahrungsprozessen ist, auf solche paradoxen Begegnungen zu stoßen. Man kann ihnen nicht entgehen, sind sie doch gerade auch Merkmal einer interkulturellen Erfahrung. Und das ist auch gut so. Übrigens, natürlich habe ich den weisen Mann mit dem weißen Bart in sich ruhend unter dem alten Baum nicht getroffen. Stattdessen bin ich mir selbst begegnet und habe gemerkt, wo immer ich hingehe, habe ich mich selbst im Rucksack mit dabei. ![]()
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