Saturday, June 9. 2012
 "Im Verhältnis des Spielers zum Ball kommt ein existentielles Grundverhältnis zum Ausdruck, das bei Heidegger mit dem Phänomen der Sorge umschrieben ist. Die Sorge beschreibt er als ein 'sich-vorweg-sein'. Der Mensch ist nie einfach nur da, sondern sich zugleich immer schon selbst vorweg, indem er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft; sich um sich sorgt. [ ... ] Hierfür könnte es keine bessere Veranschaulichung geben, als das Verhältnis des Spielers zum Ball. Der Ball verhält sich zum Körper grundsätzlich auf eine Weise, die es nicht erlaubt, ihn in Besitz zu nehmen. Der Spieler kann ihn bestenfalls in die eigene Regie nehmen, ihn vor sich hertreiben oder jemand Anderem zuspielen. Der Ball ist dem Spieler immer schon vorweg, wie die Sorge um uns selbst" (Aus: Karl L. Holtz: Die Welt ist alles, was der Ball ist. Zur performativen und narrativen Inszenierung eines Spiels. In: Fritz B. Simon (Hrsg.): Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs. Heidelberg 2009 [Carl-Auer], S. 158 - Foto: Anton (rp) Winter 2004)
Monday, October 10. 2011
 "General systems theory has taken its impetus from the excitement of discovering larger and larger contexts, on the one hand, and a kind of microprobing into fine detail within a system, on the other. Both of these activities are intrinsic to anthropology to the extent that field work in living societies has been the basic disciplinary method. It is no revelation to any field-experienced anthropologist that everything is related to everything else, or that whether the entire sociocultural setting can be studied in detail or not, it has to be known in general outline." (In: Changing styles of anthropological work. Annual Review of Anthropology, 1973 [2], 1–26).
Monday, September 26. 2011
 "Vertrauen zeigt sich, wenn ich nicht zu prüfen brauche, ob das, was ein anderer gesagt hat, der Fall ist oder nicht. Wenn einer mir sagt: "Schau, hinter dir ist ein Elefant", sage ich: "Da muss wohl ein Elefant sein." Dann drehe ich mich um; ist der Elefant verschwunden; merkwürdigerweise. Warum? Ich weiß nicht, warum, aber jedenfalls war hinter mir ein Elefant. Das nenne ich Vertrauen. Wenn der andere mir etwas sagt, sage ich: "Ich nehme es hin, wie er es sagt." Natürlich kannst du jetzt einwenden: "Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage." Dann übernehme ich eben meine Interpretation dessen, was er jetzt gerade gesagt hat, das heißt das, was ich verstanden habe, das er gesagt hat; vertraue dem anderen. Und ich glaube, wenn man das weiterentwickeln würde, könnte man sagen: Das Problem der Wahrheit verschwindet, wenn man vertraut."(In: Heinz von Foerster & Monika Bröcker: Fraktale einer Ethik - oder Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Heidelberg, Carl-Auer-Verlag 2007 [2. Aufl.], S. 19).
Thursday, September 1. 2011
"Culture, like jazz, improvises on universal scales. Both the genetic inheritance of the human condition and the range of cultural variations on those universal themes influence what we feel and what feelings we express to others. (…) I think there is no difference between the idea of culture and that of relationship (…) although these words are generally used to apply to different category sizes. Both culture and relationship are about managing otherness; we are always in danger of not belonging. Both culture, in the usual sense of the term, and attachment are ways of establishing the sense of belonging that has been essential to survival in our evolutionary history. From my point of view, every encounter with another is to some degree cross-cultural. This is very evidently the case with someone born into a vastly different social world, growing up speaking a different language but it is also more subtly true with someone growing up next door or even in one’s own family. In large social groups and the most intimate of one to one relationships, otherness is, at best, partially bridged by coordinating arrangements about how each should be with the other, and this includes the range of emotions that can be felt and expressed." (In: David Pocock - 2010: Emotions as ecosystemic adaptations. In Journal of Family Therapy 32(4) S. 362-378)
Tuesday, August 9. 2011
"Bateson noted a formal similarity between the double bind and the contradictory instructions given to a disciple by a Zen master—Zen ko- ans. In the terms I laid out before, the koan is a technology of the nonmodern self that, when it works, produces the dissolution of the modern self which is the state of Buddhist enlightenment. And Bateson’s idea was that double binds work in much the same way, also corroding the modern, autonomous, dualist self. The difference between the two situations is, of course, that the Zen master and disciple both know what is going on and where it might be going, while no one in the schizophrenic family has the faintest idea. The symptoms of schizophrenia, on this account, are the upshot of the sufferer’s struggling to retain the modern form while losing it—schizophrenia as the dark side of modernity. This, then, is where Eastern spirituality entered Bateson’s approach to psy- chiatry, as a means of expanding the discursive field beyond the modern self." (In: The Cybernetic Brain. Sketches of Another Future. The University of Chicago Press, Chicago & London 2010, S. 176)
Monday, April 4. 2011
"Der Journalismus wie übrigens alle anderen Systeme auch, die dem Dispositiv der Massenmedien zugeordnet waren, zeichnete sich dadurch aus, dass eine zentrale Referenzstelle wie ein Verlag, eine Sendestation oder ein Autor mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als diejenigen, die diese Aufmerksamkeit bereitstellten, was eine Hierarchiesierung der Informationselektion zur Folge hatte. Dieses Muster der zentralisierten Informationsselektion zeigte sich auf allen Organisationsebenen: Verlag – Redaktion, Chefredaktion – Ressorts, Redakteur – freier Journalist, Lektor – Autor, Autor – Leser. Dieses Muster findet man übrigens überall dort, wo die Anschlussfindung hauptsächlich über die Verbreitung von Dokumenten funktioniert, so etwa auch an Universitäten (Professor – Studierende), Parlamenten (Abgeordnete – Wähler) oder im Vereinswesen (Vorstand – Mitglieder). Bilden sich solche Muster heraus und geraten durch Organisation in Konkurrenz zu einander, stellt sich die Situation ein, dass ein Vorrecht zur Informationsselektion notwendig beibehalten werden muss, um daraus resultierende Strukturen der Kapitalakkumulation durchzuhalten: nur, wer zuerst informiert ist, kann Entscheidungen treffen und Entscheidungen stellen sicher, wer zuerst informiert wird. So hat verloren, wer zuletzt oder wenigstens schon nicht zuerst informiert ist. Daher kommt der Dauerverdacht der Manipulation durch Massenmedien, da stets alle beteiligten Kommunikationssysteme, da sie auf gegenseitiges Informiertwerden notwendig angewiesen sind, plausible Gründe dafür finden, dass sie entweder nicht, nicht vollständig, also einseitig, parteilich, subjektiv oder nicht rechtzeitig informiert wurden: Politiker verdächtigen Journalisten, diese verdächtigen Politiker, Leser und Zuschauer verdächtigen mal die einen, mal die anderen, während die einen und die anderen wahlweise ihre Wähler oder Leser und Zuschauer verdächtigen, von anderern falsch und unzureichend informiert worden zu sein. Zur Lösung daraus resultierender Verwirrungssituationen entstand ein Expertentum, das sowohl Glauben als auch Zweifel über die Berichterstattung ermöglichte, womit jedoch nur eine Dauerirritation sicher gestellt wurde. Denn das gegenseitige Verdächtigungsspiel mit damit ja nicht ausgehebelt, sondern nur professionalisiert." (In: Experteneinstellung: benutzerdefiniert #twitteraffäre)
Monday, March 28. 2011
 "Die Funktion der Psychotherapie ist situiert im Kontext einer funktional differenzierten Gesellschaft, die jede Einheitsprätention, jedes Bestehen auf eineindeutigen Identitätsbestimmungen prekär macht. Im Blick auf psychische Systeme fallen dabei (Leidensdruck erzeugende) Unschärfeprobleme an, auf die sich dann die Psychotherapie bezieht, indem sie nichtcodierte und nichtcodierbare Probleme nicht codifiziert, sondern gelten lässt – durch Strategien, die zu viablen Identitätskonzepten führen, innerhalb deren es möglich wird, mit Unschärfen zu leben. (…) Der Punkt ist, dass wir in der Kontingenzdrift der Moderne gewissermaßen »hechelnd« auf der Suche sind nach Identität, nach einer relativ zeitfesten Identität, die zugleich hochindividualisiert ist. Aber die Psyche kann dies alles nicht liefern. Dann bietet es sich evolutionär an, Verwalter der vagen Dinge zu finden, die aber eben nicht davon ausgehen, dass die Vagheit auflösbar ist in eine Klassifikation, in präzise Befunde, sondern vielmehr davon, dass – ein bisschen kurios ausgedrückt – das Leben immer vage »ist« und jede Festigkeit oder Präzision deswegen artifiziell. Darin läge ja auch der Unterschied zur Medizin, zu chirurgischen und/oder pharmazeutischen Strategien, die es mit codierten Problemen zu tun haben. Allerdings, und ich finde das heiter, wird heute den Medizinern angesonnen, auch nichtcodierte Probleme zu behandeln, die Patienten »ganzheitlich« aufzufassen und sich also auch seelischer Probleme anzunehmen. Das ist so etwas wie eine evolutionäre Umkehrung, da ja die Medizin lange Zeit die Psychotherapie okkupieren wollte. (In: Peter Fuchs: "Die Verwaltung der vagen Dinge, Gespräche zur Zukunft der Psychotherapie". Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011, S. 34).
Saturday, March 5. 2011
 Wann ist ein Gespräch ein Gespräch? Und wie zeigt sich, ob es sich dabei um mehr handelt als um eine Wechselrede, ein Hin und Her von Worten? In Zeiten, in denen Talk und Show zusammengehören wie Beliebig & Keit oder Unter & Haltung, sind solche Fragen vielleicht etwas seltsam. Mag sein. Vor kurzem nun stieß ich auf eine Sammlung von Interviews und Gesprächen mit Karl Jaspers. In dieser Sammlung befindet sich unter anderem ein Gespräch zwischen ihm und dem Journalisten Thilo Koch. Es fand im Mai 1960 statt. Während Koch immer wieder darauf zu drängen scheint, dass Jaspers eine richtungsweisende Stellung beziehe, nähert sich Jaspers den jeweiligen Themen mit einem weiten Blick und einer Art neugierig-strenger Demut. Vieles kommt zur Sprache, Freiheit etwa, Würde des Menschen, Philosophie und Meditation, Ideenwelt und Handlungswirklichkeit. Als Zitat möchte ich jedoch den Schluss dieses Gesprächs anführen, in dem mir die Essenz, der lebende Kern dessen, was ein Gespräch ist, in Worten gesagt zu werden scheint. Das wirkt wohl fremd heutzutage, diese Wortwahl, dieser Duktus, dieser lange Atem, doch iFeel dass diese iWords sich lohnen, zur iKenntnis genommen zu werden: Koch: "[...] Es war in meinen Fragen ja anscheinend immer sehr stark der Wunsch zu spüren, und das wird mir im Augenblick erst klar, von Ihnen ein Dogma zu hören, obwohl ich in dem Wunsch kam, von den Dogmen mich zu befreien. Ich wollte von Ihnen auch eine Art Rezept. Was Sie aber geben wollen und können, wenn ich es jetzt zusammenfassen müßte, wäre wohl, eine Denkungsart zu erwecken, zu erziehen, die in einer ganz speziellen menschlichen Situation diesen einzelnen befähigt, Entscheidungen zu treffen, die durch kein Dogma vorherbestimmt werden können oder beeinflußt werden sollten, sondern die aus dieser Denkungsart dann allein möglich werden. Habe ich das einigermaßen richtig ausgedrückt?" Jaspers: "Ich glaube ja, Herr Koch. Sie haben, glaube ich, verstanden, in welche Richtung ich möchte, soweit ich es selber verstehe. Mir scheint, das Gespräch bezeugt die Möglichkeit, sich berühren zu können in solchen Dingen, die sich nicht wie Steine auf den Tisch legen lassen, so daß man sie greifen kann, sondern die ungreifbar sind, unsichtbar, in gewissem Sinn unfaßlich. Das Gespräch hat mir darum wohlgetan. Ich danke Ihnen." [In: Offener Horizont. Ein Gespräch mit Thilo Koch (Sendung des NDR am 31.5.1960). In: Karl Jaspers (1969) Provokationen. Gespräche und Interviews (hgg. von Hans Saner). München: R. Piper (Zitat S. 61f.).]
Monday, February 21. 2011
 "Soziale Systeme einerseits, psychische Systeme andererseits, schließlich auch organische Systeme und mechanische Systeme werden von Luhmann bekanntlich nicht nur kategorial, sondern operational voneinander unterschieden, als grundsätzlich differente Operationssequenzen identifiziert, die füreinander Umwelt darstellen und sich jeweils 'autopoietisch' und 'selbstreferentiell' reproduzieren. Daß sich der Mensch damit in der Umwelt des Sozialen situiert findet, sollen manche humanistischen Gemüter als Skandalon empfunden haben. Die humanistische Kränkung stellt sich letztlich als Konsequenz eines der Tradition der klassischen Soziologie immanenten Geniestreichs dar. Gesucht wird nach einer emergenten Ebene des Sozialen über das Individuelle hinaus: Luhmann findet sie, indem er die symbolischen Ordnungen des Sozialen auf die Akte der Kommunikation zurechnet und diese als extramentale, extrakorporale Sequenzen definiert. Die begriffliche Logik der Luhmannschen Systemtheorie artikuliert eine Logik der Separierung, der Trennung von gegeneinander abgrenzbaren Sphären, der Grenzerhaltung zwischen diesen Sphären, die 'boundary maintaining systems' im Sinnevon Parsons darstellen. Man kann gar nicht genug betonen, wie radikal und ungewöhnlich diese Logik der Separierung, der eindeutigen Grenzziehungen zwischen dem Sozialen/Kulturellen, dem Psychischen und dem Körperlich-Organischen ist. Diese auf den ersten Blick verstörende Perspektive hat Luhmann bekanntlich immer dem auf den 'Menschen' zentrierten Individualismus und Intersubjektivismus der klassischen Handlungstheorien gegenübergestellt. Die Ungewöhnlichkeit und Begrenztheit einer solchen sozialtheoretischen Logik der Trennungen wird jedoch sichtbar, sobald man sie mit den alternativen Kulturtheorien, den 'eigentlichen' Kulturtheorien konfrontiert. Statt der Luhmannschen Logik der Trennungen des Sozialen vom Psychischen, vom Körperlichen und vom Materialen zeigt sich dort eine Logik der Expansion des Sozialen, des Kulturell-Symbolischen bis in die Strukturen des Psychischen, des Körperlichen und letztlich sogar des Mechanischen hinein, eine Logik der Grenzüberschreitung zwischen diesen Sphären. Diese begriffliche Expansion des Kulturellen zielt auf eine die Eindeutigkeit der Grenzen überschreitende 'Verschränkung' des Psychischen, Körperlichen und Mechanischen mit dem Kulturellen. In Anlehnung an einen Begriff Pierre Bourdieus können sich solche Kulturtheorien als verschiedene Versionen einer 'Theorie der Praxis' etikettieren lassen, als Theorien einer 'Logik der Praxis' menschlicher Aktivitäten, jenseits der intellektualistischen 'Logik der Logik'." (In: Andreas Reckwitz: Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen: Niklas Luhmann und die Kulturtheorien. In: Günter Burkart & Gunter Runkel (Hrsg): Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt am Main 2004, Suhrkamp. S. 213-140, S. 218f.; Foto: Europa-Universität Viadrina Frankfurt - Oder).
Saturday, February 5. 2011
"...In der Soziologie und Psychologie der 1940er bis Mitte der 1970er Jahre, mithin im sozialwissenschaftlichen Denken der organisierten Moderne, kam dem Identitätskonzept ein andersartiger Stellenwert zu als in den hochmodernen Kultur- und Sozialwissenschaften seit den 70er und 80er Jahren. Diese Bedeutungsverschiebung gilt sowohl für das Konzept personaler wie für das kollektiver Identität(en). Wie läßt sich dieser Bedeutungswandel der Identitätssemantik in den Sozialwissenschaften genauer fassen? Man kommt der semantischen Transformation am besten auf die Spur, wenn man zunächst zwischen der Frage nach personalen und der nach kollektiven Identitäten unterscheidet und ihre Konzeptualisierung in den 'klassischen' Modellen der 1940er bis 70er und denen seit den 70er Jahren gegenüberstellt. Dann zeigt sich, daß das klassische Identitätskonzept universalistisch und kompetenztheoretisch orientiert und auf das Problem des Verhältnisses zwischen Individuum und sozialen Zwängen sowie das Problem der temporalen Konstanz zentriert war; das hochmoderne Identitätskonzept ist dagegen hermeneutisch und historisch orientiert sowie auf das Problem des kontingenten Selbstverstehens bezogen. Die Semantik ändert sich offenbar mit der gesellschaftlichen Problemlage." (In: Andreas Reckwitz (2001): Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik. In: Rammert, Werner (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien. 21-38. Leipzig; S. 25)
Tuesday, January 11. 2011
Eine bunte thematische Vielfalt soll in Heft 3/2010 von systhema die Leserschaft einladen, "sich inspirieren zu lassen, einzulassen oder auch über nicht Nachvollziehbares auszulassen", schreibt Ursel Winkler in ihrem Editorial, wobei sie offenlässt, was denn unter die Rubrik "Nicht Nachvollziehbares" fallen könnte. Zum Inhalt schreibt sie: "Uwe Hameyer setzt sich in seinem engagierten Beitrag mit dem Menschenbild, wesentlichen Begründungen und essentiellen Inhalten einer Schule, die sich als lernende Organisation begreift und organisiert, auseinander. Auf der Basis der Handlungsmaxime "das Unmögliche denken und das Mögliche versuchen" - ohne dabei in die Falle von Aktualismus und Aktivismus zu treten - zeigt er Grundzüge eines qualitätsorientierten Wissensmanagements auf. Auch Eva Kaiser-Nolden setzt auf die systemimmanenten Kräfte einer sich selbst organisierenden Organisation, wenn sie deren Ordnungskräfte und Charakteristika analysiert und anschließend konkrete Arbeitsansätze für systemische Organisationsentwickler ableitet. In ihrem Beitrag über die Arbeit in einer stationären Jungenwohngruppe in der Kinder- und Jugendhilfe setzt sich Kristin Stier kritisch mit der Einführung von Anspruch und Wirklichkeit einer systemischen Grundhaltung und den Konsequenzen auf die Entwicklung der Arbeit mit den Systemen Team, Wohngruppe und Familie auseinander. Die Methode von Marte Meo und die sogenannte Meridian-Energie-Arbeit sowie mögliche bzw. notwendige Verbindungen mit systemischem Handwerkszeug stehen im Mittelpunkt der Erfahrungsberichte."
Zum vollständigen Inhaltsverzeichnis…
Friday, December 10. 2010
 Der Hinweis auf das heutige Zitat des Tages stammt von systemagazin-Autor Andreas Manteufel (herzlichen Dank dafür): "Der folgende kleine Ausschnitt aus den Lebenserinnerungen von Erich Kästner (1899-1974) zeigt: Die Erkenntnisse der modernen Neurobiologie, hier der Unterschied zwischen dem sogenannten „deklarativen“ und dem sogenannten „autobiographischen Gedächtnis“, lassen sich auch ohne Fachterminologie präzise und nachvollziehbar beschreiben. Und: gewisse Unterscheidungen sind einfach so wahr, dass sie die Menschheit schon immer begriffen hat, auch vor der Zeit der bildgebenden Verfahren. Beachten Sie, mit welch feiner Ironie der geistige Vater von Emil und die Detektive die Möbelmetaphorik der traditionellen Gedächtnisforschung aufgreift. Sicher, der moderne Hirnforscher wird sagen, dass alles, was hier über Gedächtnis und Erinnerung gesagt ist, im Gehirn repräsentiert ist. Aber das wissen wir ja, und verwechseln nicht Kästners Rede vom „Kopf“ mit dem biologischen Faktum Gehirn. Denken Sie nach diesen Zeilen auch an das, was man Traumagedächtnis oder Körpergedächtnis nennt? 'Gedächtnis und Erinnerung sind geheimnisvolle Kräfte. Und die Erinnerung ist die geheimnisvollere und rätselhaftere von beiden. Denn das Gedächtnis hat nur mit unserem Kopf zu schaffen. Wie viel ist 7 mal 15? Und schon ruft Paulchen: „105!“ Er hat es gelernt. Der Kopf hat es behalten. Oder er hat es vergessen. Oder Paulchen ruft begeistert: „115!“ Ob wir dergleichen falsch oder richtig wissen oder ob wir es vergessen haben und von neuem ausrechnen müssen, - das gute Gedächtnis und das schlechte wohnen im Kopf. Hier sind die Fächer für alles, was wir gelernt haben. Sie ähneln, glaub ich, Schrank- oder Kommodenfächern. Manchmal klemmen sie beim Aufziehen. manchmal liegt nichts drin und manchmal etwas Verkehrtes. Und manchmal gehen sie überhaupt nicht auf. Dann sind sie und wir „wie vernagelt“. Es gibt große und klein Gedächtniskommoden. Die Kommode in meinem eignen Kopf ist, zum Beispiel, ziemlich klein. Die Fächer sind nur halbvoll, aber einigermaßen aufgeräumt. Als ich ein kleiner Junge war, sah das ganz anders aus. Damals war mein Oberstübchen das reinste Schrankzimmer! Die Erinnerungen liegen nicht in Fächern, nicht in Möbeln und nicht im Kopf. Sie wohnen mitten in uns. Meistens schlummern sie, aber sie leben und atmen, und zuweilen schlagen sie die Augen auf. Sie wohnen, leben, atmen und schlummern überall. In den Handflächen, in den Fußsohlen, in der Nase, im Herzen und im Hosenboden. Was wir früher einmal erlebt haben, kehrt nach Jahren und Jahrzehnten plötzlich zurück und blickt uns an. Und wir fühlen: Es war ja gar nicht fort. Es hat nur geschlafen. Und wenn die eine Erinnerung aufwacht und sich den Schlaf aus den Augen reibt, kann es geschehen, dass dadurch auch andere Erinnerungen geweckt werden. Dann geht es zu wie morgens im Schlafsaal!“ (In: Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war, München: dtv, 14. Auflage 2010, S. 63-64)
Tuesday, September 14. 2010
 "According to its supporters, integrated care increases collaboration, improves care, and makes psychotherapy more central to health care — and of course, saves insurance companies and public funders a ton of money. What the proposed advantages obscure is the inevitability that, in the name of integration, psychotherapy will become ever more dom- inated by the assumptions and practices of the medical model; that much like an overpowered civilization in the sci-fi adventure Star Trek, we will be assimilated into the medical Borg. The mental health professional of the coming integrated care era (…) will be a specialist in treating specific disorders with highly standardized, scientifically proven interventions. At issue here are not the advantages of greater collaboration with health care professionals or of bringing a psychological or systemic perspective to bear on medical conditions. Rather, at issue is whether we will lose our autonomy as a profession by becoming immersed in the powerful culture of biomedicine, breaking the already tenuous connection to our nonmedical, relational identity. The resulting influx of potential mental health clients into the primary care setting will further promote the conceptualization of mental 'disorders' as biologically based and increase current trends toward medication solutions." (In: The Heroic Client. A Revolutionary Way to Improve Effectiveness Through Client-Directed, Outcome-Informed Therapy. Jossey-Bass, San Francisco 2004, 2. Ed., S. 5)
Thursday, August 26. 2010
 „Obliviousness can be defined as a state of being unmindful or unaware of something, of being ignorant of it or not conscious of its existence. When obliviousness is shared in a family, the family members will individually and collectively distance, avoid, lack interest in, be unaware of, or lack engagement with relevant information, perspectives, meanings, interactions, places, memories, and events. Almost always, shared family obliviousness does not represent a choice by anyone in the family or by the family collectively. Shared family obliviousness just happens. And in that obliviousness they are unconcerned about (in large part, or quite possibly entirely, because unaware of) whatever it is they are oblivious about. (…) Shared obliviousness is a property of social systems. All social systems tune out a great deal of available information as they function and work toward what seem to be their goals. Systems can do this through a summation of individual obliviousness and through organizing in such a way that the system and everyone who is part of it is oblivious. (…). That organization includes values about what counts as interesting and important. It includes education that focuses family members here and not there, walls (literal and metaphoric) that block off certain information sources, and system-wide rules that define only certain information sources as worthy of attention. General systems theories typically do not problematize inputs but assume that inputs are so obvious and can so be taken for granted that there is no reason for a system analyst to explore why it is that of all the potentially accessible inputs a system only detects and makes use of the ones it does. Similarly, in the information systems literature, information might be defined as any stimulus that has changed recipient knowledge (…). By contrast, the concept of shared obliviousness introduces the notion that systems at some level must always select and filter information. They must always have processes for separating what to attend to from what not to attend to. Understanding the bases for those processes would tell us a lot more than simply assuming that inputs are whatever they are or that they exist if something changes in the system in response to them. Inputs to systems should not be taken for granted. It is better instead to raise questions about how it is that the system takes in or reacts to this and not that. Shared family obliviousness does not necessarily involve a lack of focus or absorption. Indeed, an important process of achieving obliviousness about some matters is to be focused on and absorbed in other matters. Hence, an important reason for a family system to focus on this or that is that it is then much easier for it to be oblivious to other things.“ (In: "Shared Obliviousness in Family Systems", State University of New York Press, New York 2009, S. 3f)
Thursday, July 1. 2010
 "Im Rahmen der Theorie selbstreferentieller Systeme ergeben sich ganz andersartige Möglichkeiten, den Sinn der politischen Wahl zu begreifen. Ein erster Schritt liegt in der Neudefinition von Demokratie als Austauschverhältnis von Regierung und Opposition, also als Zweitcodierung politischer Amtsmacht. Darüber muß in der politischen Wahl entschieden werden. Auch nach diesem Konzept bleibt also die politische Wahl der Kern des Demokratieverständnisses. Dazu gehört, daß die politische Wahl politisch nicht kontrolliert werden kann, also frei und geheim durchgeführt wird. Das Verhindern einer politischen Kontrolle der politischen Wahl durch die regierenden Parteien erzeugt einen Strukturbruch, eine Selbstreferenzunterbrechung im politischen System. Dadurch wird gesichert, daß das politische Geschäft nicht einfach in der Kontinuität bisheriger Politik weiterläuft. Statt dessen wird, und das ist die Funktion der regelmäßig zu wiederholenden politischen Wahl, die Politik mit einer für sie unbekannten Zukunft konfrontiert. Das schließt es nicht schlechthin aus, daß man zu erraten versucht, welche politischen Entscheidungen eine positive Resonanz finden und eine Wiederwahl bzw. eine Übernahme der Regierung durch die bisherige Opposition begünstigen könnten. Es geht also nicht um eine Art Blindflug ohne Geräte und auch nicht, in alter Weise gesprochen, um die Reduktion von Politik auf fortune. Aber es gibt, schon wegen der Vielfalt der Themen und Interessen, keinen sicheren Schluß von Machtausübung auf Machterhaltung oder von Machtkritik auf Machtgewinn. Die Institutionalisierung politischer Wahl garantiert dem System eine im System selbst erzeugte Ungewißheit. Es gibt natürlich nach wie vor auch die Unsicherheit, die aus einer turbulenten, übermäßig komplexen Umwelt resultiert, also etwa aus der Eigendynamik von Wirtschaft und Wissenschaft, aber diese Unsicherheit wird zunächst aufgefangen dadurch, daß das System selbst eigene Ungewißheit produziert und sich insofern nicht (oder nur mit Vorbehalt von Änderungen) festlegen kann. Im Verhältnis zur Umwelt erreicht das System so "requisite variety", aber nur dadurch daß es die Unbestimmtheit der Umwelt durch eigene Unbestimmtheit kompensiert. Der Vorteil ist, daß man mit interner Unbestimmtheit besser umgehen kann als mit externer, und zwar durch Entscheidungen." (In: Die Politik der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002).
Monday, June 21. 2010
 „Konstitutiv für Sinn ist die Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit. Etwas steht momentan im Mittelpunkt des Sinngeschehens und verweist zugleich auf weitere Möglichkeiten. Dabei ist der Aktualitätskern instabil: das jeweils Aktualisierte stumpft ab, wird langweilig, zerfällt und zwingt laufend dazu, aus dem Bereich des Möglichen etwas Neues auszuwählen und im nächsten Moment zu aktualisieren. Sinn ist also das ständige Neuarrangieren der Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit, das fortlaufende Aktualisieren von Möglichkeiten. Aus der Instabilität des Aktualitätskerns ergibt sich, dass ständig eine Neuauswahl, eine Selektion getroffen werden muss. Das geschieht dadurch, dass das jeweils Aktualisierte auf weitere Anschlussmöglichkeiten verweist. Die nicht gewählten Anschlüsse bleiben als Möglichkeiten erhalten und können zu einem späteren Zeitpunkt aktualisiert werden.“ (In: Georg Kneer & Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: eine Einführung. München 2000, W. Fink/UTB, S. 75)
Wednesday, June 9. 2010
 "Both shame and guilt are oriented toward how others perceive us, how others might form negative impressions and judgments that could lead to rejection and ostracism. However, at a psychological level, shame and guilt are associated with different mental constructs regarding what causes the ill feeling, the actual locus of control of such feelings. In guilt, the locus is the self. Ills and wrongs are perceived and represented as being caused by and originating from within. In shame, the causes are construed as entering from 'without', outside the individual. Typically, we experience shame as 'befalling' us. It is inflicted by a situation we are placed in, not because we committed a specific act causing the situation" (In: Others in Mind. Social Origins of Self-Consciousness. Cambridge University Press, 2009, S. 125).
Sunday, June 6. 2010
 "Die Unterscheidung von positiven und negativen Zielen mag akademisch klingen, sie ist aber wichtig. In dem einen Fall, nämlich beim positiven Ziel, will ich etwas Bestimmtes erreichen. In dem anderen Fall will ich, daß etwas nicht mehr der Fall ist. Damit aber ist das, was ich eigentlich will, zunächst einmal weniger genau festgelegt als im Fall des positiven Ziels. Vermeidungsziele (also negative Ziele) sind daher oft recht global definiert: «irgendwie» soll es anders werden; auf alle Fälle ist der jetzige Zustand unerträglich. Auch positive Ziele können global definiert sein: «Ich brauch irgendwas zu essen» zum Beispiel. Aber es liegt in der Logik des «nicht», daß dies bei negativen Zielen häufiger der Fall ist. Ein «Nicht-Ofen» oder ein «Nicht-Stuhl» ist als Objekt weniger genau festgelegt als ein «Ofen» oder ein «Stuhl». Und so ist auch das, was man anstreben sollte, um einen unerwünschten Zustand nicht zu haben, zu vermeiden oder zu verhindern, gewöhnlich globaler als das, was man anstrebt, wenn man etwas Bestimmtes haben will. «Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht, daß es aber anders werden muß, wenn es besser werden soll, weiß ich!» - Dieser Ausspruch Lichtenbergs enthält den Hinweis auf die Unbestimmtheit eines negativen Zielzustandes und zugleich eine Mahnung zur Vorsicht beim Umgang mit solchen Zielen." ("Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen, Rowohlt Taschenbuch [rororo science], Reinbek b. Hamburg 1992, S. 75f.)
Monday, May 31. 2010
 "Die Liebe ist der Todfeind der christlichen Moral. Indem die Kirche in das Gewissen und Untergewissen der Menschen mit Hilfe des sogenannten Bußsakramentes oder der Beichte eingebrochen ist, hat sie das sicherste Werkzeug gefunden, um auf der Stelle und ohne Schwierigkeit alles, was sich nach Liebe streckt, kleinzukriegen."
Wednesday, May 19. 2010
 Zitat des Tages: "Loyalität ist ein für das Verständnis von Familienbeziehungen wesentlicher Begriff. Loyalität kann viele Bedeutungen haben: sie kann vom individuellen Treue-Empfinden bis zum Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft reichen, ja bis zur staatsbürgerlichen Treuepflicht gegenüber der Nation. Der Begriff muss also gemäß den Erfordernissen unserer Beziehungstheorie definiert werden. Loyalität lässt sich in moralischen, philosophischen, politischen und psychologischen Begriffen definieren. Im hergebrachten Sinne wird Loyalität als eine positive Haltung der Zuverlässigkeit des einzelnen gegenüber einem sogenannten Loyalitäts-»Objekt« verstanden. Dagegen setzt das Konzept eines Mehrpersonen-Loyalitätsgewebes das Vorhandensein strukturierter Gruppenerwartungen voraus, zu deren Erfüllung alle Mitglieder aufgerufen sind. In diesem Sinne gehört Loyalität zu dem, was Martin Buber die »Ordnung der menschlichen Welt« nennt. Ihr Bezugsrahmen setzt sich eher aus Vertrauen, Verdienst, Auftrag und Erfüllung als aus den »psychischen« Funktionen des »Fühlens« und »Wissens« zusammen. Unser Interesse für Loyalität als Gruppenmerkmal und persönliche Einstellung geht über die einfache behavioristische Vorstellung eines gesetzestreuen Verhaltens hinaus. Wir setzen voraus, dass der Mensch, um loyales Mitglied einer Gruppe zu sein, den Geist ihrer Erwartungen verinnerlichen und ganz bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen muss. Letztlich ist der einzelne sowohl den Ge- und Verboten der von außen an ihn herangetragenen  Erwartungen wie den der verinnerlichten Verpflichtungen unterworfen. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass Freud die dynamische Basis von Gruppen als mit der Funktion des Überichs verwandt begriff. Die ethische Verpflichtungskomponente der Loyalität ist zunächst an unser Pflichtbewusstsein und unseren Sinn für Fairness und Gerechtigkeit gebunden. Nichterfüllung von Verpflichtungen führt zu Schuldgefühlen, die dann einen sekundären systemregulierenden Kräftemechanismus bilden. Die Homöostase des Verpflichtungs- oder Loyalitätssystems hängt also von einer regulativen Aufladung mit Schuldgefühlen ab. Selbstverständlich haben die verschiedenen Mitglieder des Systems unterschiedlich hohe Schuldschwellen, und ein lediglich durch Schuldgefühle reguliertes System ist zu qualvoll, als dass es auf die Dauer bestehen könnte. Während also die Loyalitätsstruktur durch die Geschichte der Gruppe, die Gerechtigkeit ihrer menschlichen Ordnung und ihre Mythen bestimmt wird, sind für das Ausmaß der Verpflichtung und die Art und Weise ihrer Erfüllung die psychische Veranlagung und Verdienstposition jedes einzelnen Mitglieds im multipersonalen System mit ausschlaggebend." (Aus: Ivan Boszormenyi-Nagy & Geraldine M. Spark: Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme, Klett-Cotta, Stuttgart 1981, S. 66f.)
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