Wednesday, December 26. 2012Wenn’s kommt, dann kommt’s richtig![]() Es war einmal eine Reise nach Indien, bei der ich wie so manch anderer in der damaligen Zeit (ich glaube, wir schrieben das Jahr 1976) auf der Suche nach einem alten Mann war, der unter einem noch älteren Baum saß und gerade durch seine anmutige, in sich ruhende Haltung und natürlich den entsprechenden weisen, langen, weißen Bart, die (aus heutiger Sicht natürlich idealisierte) erhoffte Weisheit verkörperte, um an dieser Weisheit zu partizipieren. Damals, mit dem Auto unterwegs nach Indien, machte ich derweil so manche eigentümliche Erfahrung. Eine dieser Erfahrungen erschütterte mich und mein Verständnis davon, wie die Welt wohl zu funktionieren habe. Aber leider nicht funktionierte. In Südindien, in der Nähe von Madras, wurde mir über Nacht meine Fotoausrüstung gestohlen. Ich hatte eine Ahnung, wer der Dieb wohl hätte sein können, wähnte mich daher sicher, als ich die Polizei beauftragte, den Dieb zu suchen. Der Polizist, ein freundlicher Inder, setzte sich zu mir und wollte den Vorfall aufnehmen. Ganz zu meiner Überraschung fragte er sehr ausführlich nach den Dingen, die nicht gestohlen wurden, die also noch da waren. Dinge, die der Dieb zurückgelassen hatte. Trotz meines mehrfachen Drängens bemühte er sich weiterhin gerade diese Dinge aufzulisten, um mich mit einem weiterhin freundlichen Lächeln zu vertrösten: Es bliebe ja immer noch genug Zeit, den Dieb zu suchen, ich sollte mich doch nicht so eilen. Wenn’s kommt, dann kommt’s richtig! - Ich verstand damals Gott und die Welt nicht mehr, hatte ich doch Sorge, dass je länger wir warteten, desto weiter sich der Dieb vom Tatort entfernen könnte. Zwar wusste ich um die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien. War daher mental gut vorbereitet. Zwar hatte ich mich, da ich mit dem Auto unterwegs war und so einige Zeit bereits in Indien verbracht hatte, an die dortigen Gepflogenheiten gewöhnt. Jetzt, im Ernstfall, versagte aber all mein so erworbenes kulturelles Wissen. Ich fühlte mich radikal auf mich selbst zurückgeworfen, spürte die Erschütterung in meinem Körper, konnte nur noch aufspringen, als der Polizist weiterhin lächelte und mich befragte, um im Raum auf und abzurennen. All das, was ich wusste, all das, was ich mir vorgenommen hatte, all das, was mir geraten wurde, all das funktionierte auf einmal nicht mehr, und ich erlebte mich nur noch körperlich tief erschüttert und gerade diesem körperlichen Erlebensprozess ausgeliefert. Schnitt. – Inzwischen bin ich in verschiedenen kulturellen Kontexten beruflich unterwegs. Sei es in der Arbeit mit Kroaten in der Ausbildung, sei es in dem kollegialen Austausch mit Chinesen über Kommunikation und Psychotherapie im interkulturellen Kontext. Sei es über Workshops bei internationalen Kongressen. In der Regel, wenn die mir sonst vertrauten Möglichkeiten des Verstehens und des Austauschs versagen, erlebe ich eine ähnliche, unmissverständliche, körperliche Resonanz, wie damals in Indien. Inzwischen bin ich immer noch erschüttert (das kann dann starke Verunsicherung, aber auch überraschende Freude und Neugier sein). Und doch bringen mich solche Erfahrungen nicht mehr so aus dem Lot wie es damals der Fall war, bedingt durch das freundliche Lächeln und die doch so ganz einfachen Fragen des indischen Polizisten es vermochten. Die Begegnung in der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, vor allem wenn die Worte versagen, wird erleichtert gerade durch solche körperlich gespürten Erschütterungsprozesse. Erschütterungen auf beiden Seiten. Erschütterungen, die mich wach halten. Erschütterungen, die, wenn beim anderen wahrgenommen, gegenseitiges implizites Verstehen erleichtern. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es ein nicht zu unterschätzendes Merkmal von interkulturellen Erfahrungsprozessen ist, auf solche paradoxen Begegnungen zu stoßen. Man kann ihnen nicht entgehen, sind sie doch gerade auch Merkmal einer interkulturellen Erfahrung. Und das ist auch gut so. Übrigens, natürlich habe ich den weisen Mann mit dem weißen Bart in sich ruhend unter dem alten Baum nicht getroffen. Stattdessen bin ich mir selbst begegnet und habe gemerkt, wo immer ich hingehe, habe ich mich selbst im Rucksack mit dabei. ![]() Tuesday, December 25. 2012Am anderen Ende der Welt und total vernetztNormalerweise ist bei jedem Adventskalender am 24.12. Schluss. Deshalb gibt es für den 25.12. auch kein Adventskalenderbildchen. Ich habe aber versprochen, alle eingegangenen Beiträge für den diesjährigen Kalender zu veröffentlichen, und deshalb gibt es heute und morgen noch an dieser Stelle die beiden letzten Texte zum Thema interkultureller Begegnung. Lisa Reelsen, Lehrerin mit systemischer Weiterbildung und langjährige systemagazin-Leserin, hat schon in den vergangenen Jahren etwas zu den Adventskalendern beigesteuert. Dieses Mal schreibt sie aus dem sommerlichen Chile, wo sie seit Jahresanfang tätig ist. ![]() In dieser Woche blieben 2 Armbanduhren und ein Wecker stehen. Vielleicht doch ein Hinweis darauf, mal kurz in der besinnlichen Zeit inne zu halten und einen Rückblick zu wagen? Seit Februar 2012 bin ich nun beruflich in Chile, dem Land, das ich vor 20 Jahren bereist hatte. Ich arbeite in Santiago als Dozentin an Deutschlands weltweit kleinsten Pädagogischen Hochschule und bin stolze Besitzerin einer chilenischen RUT (Rol Unico Tributario), einer sogenannten Seriensteuernummer, die jeder Chilene besitzt und auswendig kennt und die sich das ganze Leben lang nicht mehr verändert. Ich habe lange darauf gewartet, denn ohne den Ausweis mit dieser Nummer kann man keine Internetverbindung beantragen, keinen Handy-Vertrag abschließen und nicht mal einen Kühlschrank kaufen. Das Land begeistert mich. Die Menschen, denen ich begegne, sind sehr freundlich und ich fühle mich wohl. Völlig neue Düfte im Frühling konnte ich hier im November genießen, die Natur ist überwältigend. Der Umgang mit Zeit allerdings ist ein wahrnehmbar anderer hier. Obwohl ich die Erfahrungen damit im südamerikanischen Bereich schon wiederholt machen konnte, wirft es mich nach einigen Jahren Aufenthalt in Deutschland doch immer wieder zurück in die feste Erwartung von Pünktlichkeit, Einhaltung vereinbarter Gesprächszeiten und Effizienz. Und genau das wird als „typisch deutsch“ belächelt. Tja, so deutsch kann man sein, auch ich wohl. An den Kassen im Baumarkt sind lange Schlangen, ich stehe mittendrin und meine Geduld scheint nicht besonders groß zu sein. Ich werde unruhig und schaue mit etwas düsterem Blick auf die Kassiererin, die sich deshalb oder angesichts der langen Schlange noch lange nicht anschickt, auch nur eine Spur schneller zu arbeiten. Ich schaue mich um und sehe tatsächlich keine genervten Gesichter. Man unterhält sich nett, schaut fröhlich auf die Weihnachtsdekoration. Gut, dann übe ich mich etwas in Geduld und Demut. Nimm es als Lerngeschenk, mahnt es in mir. So beginnen auch meine Veranstaltungen. Fröhliche Studentinnen und Studenten begrüßen mich mit Wangenkuss. Viele kommen zu spät, holen zuerst ihr Handy aus ihren Taschen und legen es auf den Tisch. Andere klappen gleich ihren laptop auf. Tja, ich beginne wie üblich freundlich und relativ sachlich das Seminar mit der Bekanntgabe des Themas und der Intentionen. Es klingelt ein Handy, dann das Zweite, jemand geht mit dem Handy raus, ein anderer kommt dazu. Manche beginnen zu frühstücken, denn sie hatten eine lange Fahrt und andere schlafen aus gleichem Grund fast ein. Das war ich nicht gewohnt. Seit elf Jahren bin ich nun in der Lehrerbildung tätig und die Lehreranwärterinnen und Lehreranwärter in Deutschland sind Beamte auf Probe und haben somit quasi die Dienstpflicht, pünktlich zu sein. Ich überlege, wie ich vermitteln kann, dass ich das Verhalten, vor allem das dauernde Schauen auf den Bildschirm des Handys, als respektlos empfinde, ohne durch meine Direktheit selbst respektlos zu erscheinen. Ich bitte freundlich darum, die Handys auszuschalten und in die Taschen zu packen. Das klappt zunächst gar nicht. Das sei eben so hier und ein kultureller Unterschied, heißt es, jeder habe sein Handy permanent im Blickfeld. Ich habe ja bedingt noch Verständnis dafür, gehe auch selten ohne Handy aus dem Haus, doch während der Veranstaltungen brauche ich es doch nicht, erkläre ich den Studenten. Schon wieder klingelt ein Handy. Ich schaue wegen der Unterbrechung empört in die Runde. „Es kommt aus Ihrer Tasche“, grinst eine Studentin. In der Tat, ich hatte mir ein neues gekauft, kannte den Klingelton noch nicht und hatte es offensichtlich auch vergessen auszustellen. Köstliche Erheiterung in der ganzen Gruppe, auch ich muss lachen. Im Laufe des Jahres lassen die Studenten ihre Handys nur noch aus ihren Taschen brummen und summen. Ob die Bevorzugung der direkten Kommunikation etwas mit der Attraktivität meiner Veranstaltungen zu tun hat, möchte ich gerne glauben. Doch ich vermute eher, man hat sich einfach nur meines Anliegens erbarmt. Im Restaurant neulich schaute ich mich um. Tatsächlich viele Handys lagen auf den Tischen. Ich erblickte ein Ehepaar mit ihren 2 kleinen Kindern. Die Eltern unterhielten sich miteinander, während die höchstens 3 oder 4 Jahre alten Kinder (vermutlich noch jünger) beide mit ihrem I-Pad umgingen wie die Experten. Ich war beeindruckt von so viel Medienkompetenz, aber auch gleichzeitig ziemlich sprachlos. Dass auch einige Lehrerinnen in den Schulen während einer Unterrichtsmitschau und den anschließenden Beratungsgesprächen ihre Handys auf den Tisch legten, konnte mich nicht mehr irritieren. Die Studentinnen des letzten Studienjahres spiegelten mich in der Abschlussfeier in einem Sketch wunderbar und sehr wohlwollend in einer Parodie zu meinem Verhalten und wohl meinem Lieblingswort in der Didaktik-Veranstaltung: „Transparenz im Unterricht“. Schüler/innen sollen ja schließlich wissen, was sie lernen können. Anfangs wusste ich noch nicht, was ich alles lernen würde, aber meine Lernergebnisse sind vielfältig. Nach einem langen intensiven Jahr voller neuer Erfahrungen und wunderbaren Begegnungen fuhren eine Freundin und ich am Wochenende mit dem Bus ans Meer. Nach ein und einer halben Stunde Bewegung setzten wir uns in ein Strandlokal. Wir schauten aufs Wasser. Da man Handtaschen in Chile auf keinen Fall auf den Boden stellt, auch nicht zu Hause, da sie sonst Beine bekämen, sagt man, lasse ich meine auf dem Schoß und packe reflexartig mein Handy auf den Tisch. Unter dem entsetzten Blick meiner Freundin lasse ich es schnell wieder in der Tasche verschwinden. Mein hilfloses „Ich wollte doch nur kurz…“ schützt mich nicht mehr vor ihrem strafenden Kommentar. Heute noch bringe ich meine Uhren zur Reparatur, oder vielleicht auch erst morgen oder übermorgen, mal sehen….Vielleicht lasse ich mich auch absurderweise im Einkaufscenter bei 30 Grad Außentemperatur in einer riesigen Schneekugel, durch die Styroporkugeln geblasen werden, mit einem Weihnachtsmann in einer Kutsche fotografieren. Ich habe nun ja Zeit, der Urlaub beginnt. Oh du fröhliche Weihnachtszeit. Mein Handy klingelt, ich muss los. Monday, December 24. 2012Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin![]() Wenn man wie ich ursprünglich aus Niederbayern kommt, dort wo der Bayerische Wald liegt, fällt es nicht schwer, Menschen aus anderen Kulturen zu begegnen. Das Fremdartige fängt dann bereits in Oberbayern an, von München ganz zu schweigen. Norddeutschland beginnt spätestens ab Frankfurt, und Augsburg und Aschaffenburg sind eigentlich schon Ausland. Doch im Ernst: Psychotherapie ist ein Begegnungsraum, in dem man fortwährend auf Andersartiges, Fremdes trifft, und dieses Fremde enthält doch immer auch Vertrautes, Bekanntes, und geht dadurch in Resonanz mit dem eigenen Innenraum. Wenn ich über Begegnungen mit fremden Kulturen nachdenke, fällt mir ein Patient ein, der meine Deutsche Nationalität hat, paradoxerweise aber dennoch aus einem anderen Kulturkreis kommt: er stammt aus der ehemaligen DDR, einem vergangenen Land, das mir entfernt vertraut und letztlich doch so fremd ist, als habe es auf einem anderen Kontinent gelegen. ![]() Im Westen Fuß zu fassen gelang ihm nie wirklich, trotz eines erfolgreichen Studiums und eines ebensolchen Berufslebens bis zur mittlerweiligen Rente. Von Westdeutschland aus unterstützte er die Flucht mehrerer Freunde, was ihm eine Aufgabe gab. Die damalige linksorientierte Haltung seiner Kommilitonen befremdete ihn, der den „real existierenden Sozialismus“ hautnah mitbekommen hatte. Er schilderte das in einer netten kleinen Episode. Mit einem Mitstudenten sei er, immer noch fasziniert vom glitzernden Warenangebot, in einem Kaufhaus umhergegangen und habe mit ironischem Unterton bemerkt, dies hier sei ja wohl ein herausragendes Beispiel für den vor sich hinfaulenden Kapitalismus. Jedem DDR-Bürger wären seiner Meinung nach die Augen aus dem Kopf getreten und es wäre ihm gewiss keine antikapitalistische Kampfparole in den Sinn gekommen beim Anblick dieser Fülle. Der Kommilitone aber habe die Ironie nicht bemerkt und habe sehr ernst und beifällig mit dem Kopf genickt. Er selbst sei sich damals vorgekommen wie in einem Museum und habe sich manchmal gewundert, dass die Leute in diesem sonderbaren Land Deutsch sprächen. Seine Ehe mit einer Südländerin ist letztlich nicht glücklich verlaufen, ein Sohn, als Frühgeburt zur Welt gekommen, starb bald nach der Geburt. Den Verlust hat das Paar zu keiner Zeit mitsammen verarbeitet, er selbst kann nicht verstehen, dass die Frau so tue, als sei der Sohn nie dagewesen. Das Paar adoptierte eine Tochter, seine Frau jedoch tat dies nur halbherzig, sodass auch hieraus ein Konfliktthema wurde. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er seinen ersten Psychiatrieaufenthalt, dem weitere folgten. Die Therapie bestand aus Medikamentengaben gegen Depressionen. Antriebslos und wie gelähmt sei er oft, und es bedurfte keiner großen Deutungskompetenz, zusammen mit ihm dahinter seine Erschöpfung, seinen Schmerz und seine Trauer zu erkennen. Ich erzähle von diesem Patienten aber vor allem deshalb, weil er ein großartiger Erzähler ist und weil in seinen Erzählungen die Zeit still zu stehen scheint. Nein, er ist kein Rafik Schami, aber er erzählt von einer längst vergangenen Zeit, die schon deshalb nicht mehr wiederkommen kann, weil das Land, in das diese Zeit gehört, gestorben ist. Und dieses Erzählen ist paradox. Denn er hat diese vermeintliche Idylle ja voller Abscheu verlassen, und ist darüber ein Heimatloser geworden. Es gibt ein Gedicht von Thomas Brasch, das lautet “Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber Die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber Die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber Wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.” Ich erinnerte es nur bruchstückhaft, kannte auch den Titel nicht, aber ich empfahl es ihm zu lesen. Als er in der nächsten Stunde berichtete (er hatte es in einer Anthologie gefunden), war er tief berührt (was bei einem depressiv strukturierten Patienten äußerst positiv zu werten ist). Die Eltern, die – gegen die herrschende politische Linie – einen kleinen Betrieb hatten, hätten von früh bis spät gearbeitet. Aber es habe keine Hektik gegeben. Sie hätten immer Zeit gehabt, wenn er einen Ansprechpartner gebraucht habe. Und man sei jeden Abend beisammen gesessen, die Familie und die Angestellten, und dann sei gegessen und gesungen worden. So gerne würde er wieder mit anderen gemeinsam singen, nicht im Chor, sondern abends am Tisch. Empört schaut er, als er davon erzählt, dass heute Fernsehen und Internet regierten. Mehrmals habe er den Test „auf die modernen Zeiten“ gemacht. Als Beispiel erzählt er die Suche nach neuen Winterreifen. Vor 20 Jahren noch hätte er sich, wenn er neue Winterreifen gebraucht hätte, mit Freunden zum Bier getroffen, und sie hätten miteinander beratschlagt. Wenn er heute einen frage, bekäme er nur noch zur Antwort, er solle doch im Internet nachschauen. So war dieser Mann ein Suchender, mit Proust auf der Suche nach der oder besser nach seiner verlorenen Zeit. Und dies in der Gewissheit, dass diese Zeit nicht wiederkommen kann. Diese unstillbare Sehnsucht danach aber trieb und treibt ihn um. Die Verluste, der Schmerz und die Trauer hatten ihn wund gerieben und so gebrauchte er mehrmals eine treffende Metapher: er fühle sich oft, als habe er keine Haut mehr. Der Patient sprach etwas an, was mich selbst sehr beschäftigt. Es soll ja vorkommen, dass Therapeuten mit dem was Patienten erzählen, in Resonanz gehen und nicht nur umgekehrt. Er erzählte nämlich von etwas, was es immer weniger gibt. Vom Zeithaben, vom Sich-Zeit-nehmen, vom unabgelenkten Zusammensein mit anderen. Vor allem kam dies in seinen Erzählungen von den vergangenen Weihnachtsfesten in seiner Herkunftsfamilie zum Ausdruck. Wie da wochenlang vorher gebacken worden war, wie das ganze Haus geduftet hat, wie es immer geheimnisvoller wurde je näher der Weihnachtstag rückte, wie die Räuchermännchen aufgestellt wurden und wie dann die Familie zusammengesessen hat und miteinander gesungen hat. Wer könne denn heute noch Weihnachtslieder singen? Da werde doch der Fernseher angemacht oder die CD aufgelegt, aber das sei doch etwas ganz anderes. Wir haben alles, sagt er einmal, Kühlschrank und Waschmaschine, aber Zeit haben wir nicht mehr. Ich finde, er hat Recht. Er erzählt von einem Verlust, den wir in Kauf oder zumindest hinnehmen. Wer nimmt sich tatsächlich die Zeit, mit anderen stundenlang zu sitzen und gar zu singen, ohne daran zu denken, dass er ja mal „seine Emails checken“ oder mal in seinem Smartphone in facebook gehen sollte? Es scheint uns allen etwas verloren gegangen zu sein, nicht nur diesem Patienten. Dann unterbrach er die Therapie für mehrere Monate, weil er mit seiner Frau in das Haus in einem südeuropäischen Bergdorf fahren wollte, das sie vor langer Zeit gekauft hatten und in dem sie viele Jahre nicht gewesen waren. Ein Abenteuer. Denn vieles würde zu reparieren sein nach so langer Zeit. Und ob die Matratzen noch zu gebrauchen seien, sei ungewiss. Aber dort verginge die Zeit langsamer. Wenige Menschen seien noch in diesen Bergdörfern, die meisten hätten sie verlassen, um in die Stadt zu gehen. Wenn man aber durchs Dorf gehe, um eine Besorgung zu machen, müsse man einen halben Tag einplanen, denn mit jedem den man unterwegs träfe, ergebe sich ein Plausch. Als er zurückkam, ging es ihm besser. Seine Traurigkeit schien eine Heimat gefunden zu haben. Auf der Reise durch Europa sei im schmerzlich klar geworden, dass Europa im Äußeren immer gleicher werde, eine Reise sei kein Abenteuer mehr wie noch vor 30 oder 40 Jahren. Auch hier kommt er wieder in eine Erzählung hinein, die über Südeuropa in die DDR und zu seinem anfänglichen Leben im Westen führt. Und es wird klar, dass diese Orte sich verbinden durch die Themen, über die er spricht. Traurig mache ihn, dass Dinge aus der Welt verschwänden und nicht mehr wiederkämen, weil niemand mehr sie wisse, z.B. die alten Handwerke. In seinem Bergdorf sei er in einer Welt gewesen, in der fast niemand mehr lebt; die Dörfer sind von den Jungen aufgegeben. „Die Leute verlassen ihre Träume“, sagt er, und: „Die Leute, die die Dörfer verlassen, sind oft fremd in der Welt“. Spätestens da wird klar, von wem er eigentlich spricht: von sich. Leute, die ihre Träume verlassen, ohne es zunächst zu wissen, sind danach fremd in der Welt. Sie suchen und finden nicht mehr, allenfalls vorübergehend. Die Zeit dort aber habe ihm gut getan: weniger Ärzte, weniger Telefonate, weniger Schriftkram, mehr Beschaulichkeit. Er sei nicht mehr so depressiv, habe mehr Antrieb, sei körperlich aktiver, habe mehr Zutrauen in sich selbst. Und sein Schlaf sei besser. Er schaut kurz auf und ein seltenes Lächeln ist auf seinem Gesicht, dann ist die Stunde zu Ende. Sunday, December 23. 2012Diskriminierung und Rassissmus![]() Als ich vor drei Wochen mit Berufskollegen in einem Restaurant sass, betraten zwei Frauen das Lokal, wobei die eine, mit indischer Herkunft, mich freundlich anschaute und während dem Essen immer wieder nach mir hinüberblickte. Mir kam sie auch bekannt vor, da ich aber mit vielen ausländischen Menschen zu tun habe, konnte ich sie nirgendwo einordnen. Als ich das Restaurant verlassen wollte, stand sie auf und sprach mich an: Grüezi Frau Saxer, wie geht es ihnen? Erst als ich nach ihren Familiennamen fragte, habe ich sie wiedererkannt. Vor gut 10 Jahre waren sie und ihr Mann bei mir in Beratung. Der Grund, er legte ihr kurz ![]() So konnten zwei wichtige Themen gut bearbeitet werden und ich dazu etwas ganz wichtiges gelernt. Als ich nachfragte, wer für und wer gegen diese Heirat war, kam da einiges zum Vorschein. Die Eltern des Bräutigams, sehr konservative Menschen aus der Innenschweiz, glaubten nicht, dass so eine Verbindung gelingen könnte. Der Vater der Braut, der muslimischen Religion zugehörend, fühlte sich in seiner Ehre verletzt, dass ein Fremder seine Tochter „geraubt“ hatte. Dann haben wir darüber gesprochen, wie er wieder zu seiner Ehre und Würde zurückfinden könnte, damit die Tochter nicht von der Familie ausgeschlossen würde. So haben wir einen Text eingeübt, wobei der Mann den Vater am Telefon um die Hand der Tochter beten sollte, was ihm zuerst sehr widerstrebte. Es tat es mit gutem Erfolg und wurde so von der Familie aufgenommen. Dann gingen wir die Gründe nach, weshalb es der Frau so Mühe machte, den Vertrag zu unterschreiben, der sie von jeglichen finanziellen Vorteilen ausschloss. Das Paar konnte sich dann darauf einigen, dass der Mann ihr eine in ihrer Kultur üblichen „Brautgabe“ in Form eines Geldbetrages, entsprechend einer Ferienreise in der Heimat, auf ihr eigenes Konto überweisen würde. Das wäre für sie eine Garantie, dass wenn es mit der Beziehung nicht klappen würde oder sie starkes Heimweh bekäme, nach Hause reisen könnte. Dann fragte ich der Frau, ob sie hier Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus gemacht hätte, was sie verneinte. Wunderte mir auch nicht, denn nebst ihre Schönheit besass sie ein bezauberndes Lächeln und ausgezeichnete soziale Kompetenzen. Intuitiv frage ich den Mann, ob er irgendwelche Erfahrung der gleichen Art gemacht hätte. Er bekam gleich Tränen in den Augen und berichtete, ein Kollege, der die Frau gar nicht kannte, habe ihm im Lehrerzimmer vor alle anderen gefragt, aus welchem „Katalog“ er seine Braut gekauft hätte. Seither gebe ich sehr darauf Acht, auch der einheimischer Partner oder Partnerin über Erfahrungen mit Diskriminierung anzusprechen. Beim Abschied im Restaurant fragte ich der Frau, wie es ihnen gehe und ob sie Kinder hätten. Sie erzählte, sie hätte gleich im ersten Jahr hier eine Arbeit auf einer Bank bekommen und war immer noch dort. Die Ehe habe nur vier Jahre gedauert, sie seien geschieden, sie habe nicht wieder geheiratet. Von ihren Wurzeln hatte sie sich freiwillig getrennt, ihre Flügel wollte sie sich jedoch nicht stutzen lassen. Saturday, December 22. 2012Antidoron - die Geschichte vom gesegneten Brot![]() Meinen kulturellen Rucksack habe ich in unterschiedlichen Lebensphasen gefüllt und umsortiert: Bruder mit Austauschschüler aus Griechenland, Kindheit mit ersten Gastarbeiterfamilien, deren Babys ich spazieren fahren durfte, ein Jahr in Griechenland nach dem Studium in einer Hütte ohne Strom und Wasser, mit Olivenernte, Arbeit in der Kneipe, mit Lektüre griechischer Zeitungen und Gedichte... und dann mit meinem Mann in nunmehr über 30jähriger bikultureller Lebenspartnerschaft mit vielfältigen Erfahrungen mit dem deutschen Umfeld wie mit der Familie in Griechenland. All das hat meine Perspektive und meine Haltung zum Thema Kultur immer wieder verändert, manchmal mit Tränen, immer bereichernd. ![]() Die Art, wie wir Geschichten aus der Arbeit mit KlientInnen aus anderen kulturellen Kontexten erzählen, verraten etwas von unserer Beobachterperspektive und von der Einstellung unserer Brille im kulturellen Rucksack. Vielleicht führt das dazu, dass mir die diesjährige Adventskalendergeschichte nicht so leicht aus der Feder fließt wie „Kongressgeschichten“ oder „systemische Begegnungen“. Mein derzeitiges Arbeitsfeld ist eine Schule und ein überregionales Beratungs- und Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören. Die Schülerinnen und Schüler, die meine Stammschule besuchen und nicht in Regelschulen „inklusiv“ beschult werden, haben zu 80 % Migrationshintergrund, durch ihre Hörschädigungen ist ihnen der Zugang zur Kommunikation doppelt erschwert, viele Familien sind von Armut betroffen. Darüber hinaus ist auch die Gehörlosen- und Gebärdenkultur ein Teil der kulturellen Herausforderungen meines Arbeitsalltages. Eine griechische Schülerin, nennen wir sie Aliki, hat und macht vielfältige Schwierigkeiten. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, flippt sie aus. In der Vergangenheit waren Aggressivität und das Erlangen von Selbstkontrolle immer wieder ein Thema. Die Kolleginnen haben sich angewöhnt, wenn sie mit ihr nicht mehr klarzukommen, sie zu mir zu schicken. Manchmal beruhigt die Muttersprache sie, manchmal, wenn sie gar nicht mehr zugänglich ist, redet sie auch mit mir „nur“ deutsch. Wenn sie dann wieder griechisch spricht, ist sie wieder „ansprechbar“, ist die Kraft der zuwendenden Beziehung wieder da. Die wenigsten „meiner“ SchülerInnen sind katholisch, der katholische, gebärdenkompetente Gehörlosenpfarrer sehr engagiert. Er hat zurzeit eine Lerngruppe, die sich mit unterschiedlichen Religionen beschäftigt. So meldet er für die vergangen Woche eine Exkursion in die griechisch-orthodoxe Kirche an, die mich zu einem spontanen: “Ich gehe mit!“ veranlasst. Der dortige Pfarrer hat den Schülern sehr schön erklärt, was in der orthodoxen Kirche wichtig ist, die Ikonen, die Symbolik. Aliki wusste ganz viel und der Pfarrer bedankte sich immer wieder, da sie ihn an etwas erinnert hatte. Die anderen SchülerInnen waren interessiert und aufmerksam genug. Alle haben sich gut benommen. Aliki wurde als Expertin akzeptiert, das war eine ganz neue und sehr aufregende Erfahrung für sie. Wir bekamen, weil Feiertag war, ein gesegnetes Brot, Antidoron, geschenkt. Das konnten wir dann erst am nächsten Tag anschneiden. Dazu hatte Aliki die Gruppe in der Pause zusammengetrommelt, ich hatte das Brot schön auf einen Teller mit Weihnachtsserviette platziert - und das Messer vergessen. Aliki stürzt hilfsbereit los, um eins zu organisieren. Wegen einiger Vorerfahrungen geben die Kollegen Aliki kein Messer, ich muss es selbst holen. Sie erklärt mir noch einmal, wie ich das Brot anschneiden soll. Ich lasse sie es selbst machen. Sie macht dreimal mit dem Messer das Kreuz darüber, wie es sich gehört vor dem Anschneiden. Sie verteilt das Brot an die Gruppe, an dazu kommende Lehrerinnen, an andere SchülerInnen, die interessiert dazu kommen. Wir heben je ein Stück für ihre Eltern, für unsere griechischen Putzfrauen und für meinen Mann auf. Aliki erlebt sich als Expertin für ihre Kultur, als selbstwirksam und von den anderen geschätzt. Ein Rahmen, in dem ein ganz anderes Verhalten möglich ist. Mich freut einfach so eine Entwicklung. Den Umständen zum Trotz. Friday, December 21. 2012Multifamilientherapie in einem Satz![]() Im Jahr 2007 hatte ich die Leitung der Tagesklinik der Elisabeth-Klinik (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie) in Dortmund übernommen und nach einigen Monaten gemeinsam dort mit dem Team ein Multifamilientherapie-Angebot eingeführt. Begeistert und fast ein wenig „beseelt“ von diversen Workshops und Tagungen mit Eia Asen und anderen war ich überzeugt, dass genau ein solches Angebot das richtige für die jeweils 10 Familien der 7-13 jährigen Kinder der Tagesklinik sei. Also starteten wir zunächst mit monatlichen Nachmittagen in einem benachbarten Theater, wo auch schon die Gruppentherapie stattfand, da die Tagesklinik für solche Veranstaltungen deutlich zu klein geraten war. ![]() Aufgrund der Lage der Tagesklinik mitten in der Stadt, kamen die Familien häufig aus vielen verschiedenen Herkunftsländern und Kulturen, manchmal bis zu 7 verschiedene Herkunftsländer bei 10 Kindern und ihren Familien. Nach den ersten Monaten dieses Angebots, gab es dann einen Multifamilientherapie-Termin, an dem nur noch zwei Familien teilnahmen, denen dieses Angebot schon vertraut war und insgesamt 8 neue Familien. Fast alle dieser Familien waren zu diesem Zeitpunkt sehr resigniert über die Symptomatik ihrer Kinder, die häufig in der Zuschreibung „ADHS“ zusammengefasst war. Viele waren von der Schule oder anderen Instanzen geschickt und hatten aufgrund der bisherigen Erfahrungen und des bisherigen Verlaufs wenig Hoffnung auf Veränderung. Das machten sie auch gleich in der Anfangsrunde der Multifamiliengruppe deutlich und so sollte es auch in den folgenden beiden Stunden bleiben. Es schien fast so, als ob das auch so sein müsste und jedes „Mehr“ an Lösungsorientierung geradezu eine Zumutung wäre. Einer der beiden Väter, die das Multifamilientherapie-Angebot nun schon länger kannten, erinnerte sich schnell an seinen ersten Termin in diesem Setting. Die aus der Türkei stammende Familie hatte sich mit ihrem 11-jährigen Sohn in eben einer solchen hilflosen und scheinbar ausweglosen Situation befunden und der Idee, nun mit vielen anderen Familien gemeinsam an Themen zu arbeiten, zunächst sehr wenig abgewinnen können. Mittlerweile hatte dieser türkische Vater jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich in der Familie viele Themen hatten ansprechen und zum Teil auch klären lassen und sich die Symptomatik des Sohnes deutlich verändert und damit die gesamte Situation entspannt hatte. Dabei hatte er besonders auch die Multifamilientherapie als hilfreich und wirksam erlebt. So versuchte er in der besagten Sitzung nahezu alles, ja es glich einem „Werbefeldzug“ die anderen neuen Familien vom Sinn und den Möglichkeiten der Multifamilientherapie zu überzeugen. Dabei machte er viele Angebote, berichtete detailliert von den eigenen Erfahrungen usw. Zunächst leider ohne Erfolg, denn die versammelte Familienschar verharrte in ihrer Überzeugung, dass es für sie sicher kein hilfreiches Setting sei. Etwas enttäuscht ging dann also jener Vater nach Ende des Treffens neben mir zurück in Richtung Tagesklinik, wo anschließend immer ein Familien-Kaffeetrinken angeboten wurde. Nach einigem Schweigen, wandte er sich dann zu mir und sagte einen Satz auf türkisch, den ich nicht verstand, um ihn dann aber gleich zu übersetzen: „Ach, Herr Hermans, man müsste für die Anderen die Hoffnung erfinden“. Über diesen wunderbaren Satz sind wir dann nicht nur lange ins Gespräch gekommen und haben fast die gesamte nächste Multifamilientherapie zu diesem Thema gearbeitet; ich nutze ihn und diese schöne kleine Geschichte bis heute gerne als Titel und Auftakt für Vorträge und Workshops über Multifamilienarbeit. Besser und authentischer kann ich das Wirkprinzip nicht beschreiben. Thursday, December 20. 2012Das Training ist vorbei…!![]() ![]() Heute war der letzte Seminartag. Noch purzeln alle Eindrücke durcheinander. Am Anfang unsere Aufregung, die fremde Sprache, die große Gruppe, lectures auf Englisch! An jedem Tag gab es so viel Neues dass wir abends erfüllt und platt waren und uns erstaunt fragten ob wir wirklich erst ein, zwei oder drei Tage da wären. Die ersten lectures, der erste Abendvortrag, die erste Supervision, das erste Team mit den chinesischen Trainern, die erste Live-Familie! Wir drei, Wolfgang, Inge und ich, die erst eher zusammengewürfelt als abgestimmt schienen. In Deutschland hatten wir uns zweimal zur Vorbereitung getroffen, und in Bejing ging die Zusammenarbeit von null auf hundert los. Es ist uns gut gelungen! JedeR von uns konnte seinen oder ihren Stil leben und auf den Support der anderen bauen. Kooperationsmomente klappten nahezu mühelos und wir hatten viel Spaß! In der Mitte des Seminars erlebten wir eine Wende: Die Aufregung ließ nach, die Energie langsam auch. Es gab mehr Genuss auch während der Arbeit – und abends fielen wir halbtot ins Bett. Die chinesischen Teilnehmer machten es uns leicht. Kaum hatten wir Bilder oder Metaphern angesprochen, wetteiferten sie darum sie zu kreieren. Rollenspiele oder Aufstellungsarbeit waren kein Problem sondern immer eine energetische Freude. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Weiterbildung wurde bei einer Live-Familie mit Skulpturen gearbeitet. Dass es das erste Mal war erfuhren Wolfgang und ich zum Glück erst danach. Chinesen scheinen ihre Energie wie auf Knopfdruck nutzen zu können. Sie haben unglaubliche Talente beim Singen, Spielen und Erzählen – Letzteres brachte uns so manches Mal in die Bredouille, wenn wir den chinesischen Wortschwall stoppen wollten, nicht verstanden und deshalb keine Lücke fanden. Genauso schnell wie sie den Raum füllen verlassen sie ihn auch wieder, wie ein Spuk oder eine Erscheinung nach der man sich fragt ob man sie erlebt hat oder nicht. Wir lernten unglaublich viel von chinesischer (Familien-) Geschichte der letzten Jahrzehnte und staunten über manch unerwartete Unterschiede. In diesem Land scheint so viel im Umbruch und in tiefgreifenden Veränderungsprozessen zu sein, dass die Verführung groß ist mitmischen zu wollen. Es gäbe so viel zu tun für Therapeuten, Sozialarbeiter und Beraterinnen! Doch wäre es wirklich mehr als bei uns oder nur anders? Nun ist es Abend, fast Nacht. Wir waren in der Peking-Oper, ein irres Erlebnis an fremden Klängen und wunderschönen Stimmen. Die Klänge manchmal schrill für unsere Ohren, es fehlt die europäische Lieblichkeit. Hier gehen auch kleine Kinder und Jugendliche in die Oper, meist mit ihren Großeltern während die Eltern hinterherlaufen oder gar nicht da sind. Das Gebäude ist imposant und ein architektonisches Wunderwerk. Von außen sehen wir eine riesige gläserne Kuppel. Innen schwappt ein See über die Glasdecke und und Rolltreppen führen in Stockwerke die mit einer Vielzahl an Materialien und immer neuen Formen und Winkeln gebaut wurden. Nach der Vorstellung versuchten wir vergeblich ein Taxi anzuhalten. Schließlich fuhren wir zu dritt mit einer Rikscha durch die Nacht bis der Radfahrer an einer Kreuzung ein Taxi für uns ergatterte. Der Taxifahrer brauchte eine Weile um zu entscheiden ob er uns fahren könne – Beijing ist anscheinend zu groß um alle Stadtteile kennen zu können. Schließlich brachte er uns unter unserem Applaus ins Hotel. Die erste Nacht nach dem Seminar wartet. Gute Nacht. Wednesday, December 19. 2012Sich zeigen ist Gold, reden ist Silber…
Tuesday, December 18. 2012Die Geschichte von einem, der nach Hause kam...![]() Ein kleiner vierjähriger Junge wird im Kindergarten wegen seiner Hautfarbe gehänselt. Die deutschstämmigen Eltern haben vor drei Jahren das Kind aus West-Afrika legal adoptiert. Er reagiert laut der Erzählung der Erzieher sehr aggressiv auf die Hänseleien. Er spucke und schlage um sich etc., wodurch andere Kinder gefährdet seien. Den Eltern wird seitens des Kindergartens nahegelegt, für das Kind in einer Therapie oder einer anderen pädagogischen Einrichtung Unterstützung zu suchen. Die Adoptiveltern sind ratlos und glauben inzwischen nicht an eine Besserung. Sie haben ![]() In der Therapie erklärt der Junge sein Verhalten mit den Worten: "sie ärgern mich und sagen ,Neger, Neger‘ zu mir und dann muss ich mich wehren“. Wir schlagen den Eltern ein Experiment vor: „Machen sie mit dem Kind in Westafrika eine Woche Urlaub und zeigen dem kleinen Jungen seine eigentliche Herkunft, jedoch sollten Sie auf keinen Fall die (allen dreien ![]() Nach der Rückreise berichten sie Folgendes: Es sei fast ein Wunder geschehen… Dem Jungen ginge es gut in der Kita, er würde jetzt auch nicht mehr aggressiv reagieren. Wenn die anderen Kinder ihn wieder mit dem Wort „Neger“ reizen wollten oder ansprächen, würde er antworten: "ja, ich war in Afrika, ich bin Afrikaner". Monday, December 17. 2012Küsse aus Brasilien![]() Wie immer saß die Kulturelle Mittlerin bereits vor dem eigentlichen Beratungsgespräch mit der Beraterin in deren Büro. Wie groß war die Verwunderung der Beraterin als die Klientin ins Büro hereintrat und die Kulturelle Mittlerin herzlich begrüßte, dabei umarmte und küsste. So eine Begrüßung würde in Deutschland nur eins bedeuten: dass diese Menschen ganz enge Freunde sind. Während des Gespräches übersetzte (zum großen Erstaunen der Beraterin) die Mittlerin dann neutral, kompetent und professionell. Keine Spur mehr von der vorherigen Emotionalität?! Die Beraterin war sichtlich verwirrt. Erst nach dem Gespräch fasste sie sich und fragte die Mittlerin, woher sie die Klientin so gut kenne?! Die Mittlerin war über diese Frage sichtlich überrascht und wollte wissen, wie die Beraterin darauf käme, woraufhin die Beraterin die Begrüßungssituation ansprach. Die Mittlerin lachte herzlich und erklärte, dass es in Brasilien beim Begrüßungsritual üblich ist, dass die Leute sich umarmen und fröhlich begrüßen - völlig unabhängig davon, ob man die Person persönlich kennt oder nicht. Beide waren erleichtert, dass es sich nur um ein kulturelles Missverständnis gehandelt hat, das zum Glück so schnell durch kompetente Aufklärung beseitigt werden konnte. Informationen zu den kulturellen Mittler/innen über integration@stadt-heilbronn.de Sunday, December 16. 2012Mitmachen?![]() Supervision im 11köpfigen Team einer Institution, die Betreuung und Beratung für psychisch kranke Erwachsene anbietet: 9 deutsche Männer und Frauen, 2 türkische Frauen (sie sagen zu sich türkisch, obwohl sie beides sind, Deutsche wie Türkinnen). Eine deutsche Kollegin berichtet von einem Fall, einem jungen Mann, der seit zwei Jahren versucht, selbstständig in seinem Apartment zurechtzukommen. Sehr mühselig das Ganze. Die Eltern, griechische Türken, belagern ihren Sohn täglich und kümmern sich um alles. Am schlimmsten, sagt die Betreuerin, ist es, wenn ich mit den Eltern zu tun habe: sie fassen mich dauernd an, wenn wir reden, nicht zum Aushalten. Dieses Anfassen geht eigentlich gar nicht für mich, Handgeben am Anfang und am Ende geht klar, aber dann ist Schluss. ![]() Die deutsche Kollegin erzählt weiter. Ganz eigenartig sei auch, wie es zu den Treffen in der Wohnung des jungen Mannes komme. Wenn ich mich mit ihm verabrede, sagt sie, muss ich ihn immer ein-zwei Stunden vor dem Treffen anrufen und nochmal Bescheid sagen, dass ich um soundso viel Uhr komme. Ohne diese zusätzliche Ansage, so behauptet der junge Mann, vergesse er den Termin. Tatsächlich, lacht die Betreuerin, habe ich selbst schon einmal vergessen, ihn vorher anzurufen und ihn dann nicht angetroffen. Die Runde ist amüsiert über das Hin und Her der Vergesslichkeiten, findet aber, dass das eigentlich zu weit geht und dadurch das abhängige Verhalten des jungen Mannes gefördert werde. Irgendwie sei es aber wie ein Spiel, aus dem man nicht aussteigen kann, ohne dass etwas kaputt geht. Ist doch ein Spiel, sage ich, machen Sie mit! Das nächste Mal rufen sie ihn vorher an und sagen: Hören Sie mal, wie ist das eigentlich, sind wir heute verabredet!? Ja genau, sagt die türkische Kollegin, man muss mitmachen, wenigstens ein bisschen. Sonst geht es nicht. Saturday, December 15. 2012Psychotherapie kann so einfach sein. Eine interkulturelle Lernerfahrung![]() Die Geschichte, die ich erzählen will, stammt aus einem persönlichen Kontakt mit einem Priester aus Nigeria, der in Österreich seine Ausbildung zum Psychotherapeuten (Systemische Familientherapie) absolvierte. Meine Begegnung mit ihm fand in einer Veranstaltung zu dem Thema „Religion als Gegenüber, als Herausforderung und als Ressource für Psychotherapie“ statt. Beeindruckt hat mich die Einfachheit seines Vortrags. Zentraler Inhalt seiner Ausführungen war die Frage: „Wie kann man sich Psychotherapie in Nigeria vorstellen?“ Zwei Punkte, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind, möchte ich an dieser Stelle kurz wieder geben. Der erste bezieht sich auf das Thema „Setting“, der zweite auf das Thema „Methodik“. Zum Setting: In Nigeria findet Psychotherapie immer in Anwesenheit der Familie statt. Dem Aussprechen von Problemen in Anwesenheit der Familie und dem Bekenntnis eigener Verantwortung zur Problementstehung vor der Familie wird in Nigeria eine heilende Funktion zugeschrieben. Intimität und Verschwiegenheit werden im Gegensatz zu unserem Kulturkreis nicht als lösungsfördernde Rahmenbedingungen angesehen. Vielmehr wird die Anwesenheit von Familie und anderen relevanten Personen als Ressource genutzt, ja geradezu als Voraussetzung für das Gelingen von Psychotherapie angesehen. Zur Methodik: In Nigeria hat das Ritual eine zentrale Funktion in der Psychotherapie. Gefragt nach den psychotherapeutischen rituellen Handlungen, die in Nigeria Anwendung finden, antwortete der Priester: „In Nigeria ist das ganz einfach. Es gibt fünf Sachen, die der Seele gut tun: Reden, Weinen, Lachen, Tanzen und Singen.“ Auch wenn ich mich nicht der Illusion hingeben will, Weisheiten aus Nigeria 1:1 auf Psychotherapie in Zentraleuropa übertragen zu können, leitete ich zwei Aspekte für meine Arbeit aus dem Vortrag ab. Erstens: Ich denke auch bei erwachsenen Klienten öfter daran das Setting zu erweitern und Personen aus dem Herkunftssystem in die Therapie einzuladen. Zweitens: Auch wenn Probleme komplex erscheinen mögen, können Lösungen einfach sein. Friday, December 14. 2012Küsse für den Therapeuten - Begrüßungsrituale![]() In September 1987 wurde ich eingeladen, eine einmonatige Gastdozentur am Instituto de Psicología der Universidad de La Frontera in Temuco, Chile, durchzuführen. Ich sollte die dortigen Hochschuldozenten auf den neuesten Stand in Sachen systemisches Denken und systemische Praxis bringen. Als gebürtiger Chilene hatte ich, obwohl ich schon mehr als 25 Jahre im Ausland gelebt hatte, wenig Schwierigkeiten, mich in der spanischen Sprache zu Hause zu fühlen. Allenfalls fehlten mir hier und da einige Fachbegriffe, die ich dann aber auf Englisch äußerte, sodass einer der teilnehmenden Kollegen sie ins Spanische übersetzten konnte. Der jugendliche Slang und einige Sitten hatten sich seit meiner Auswanderung zwar etwas verändert, doch gelang es mir, fast alles zu verstehen und mich angemessen zu verhalten. Erstaunt war ich allerdings zunächst, als ich von den Frauen, die ich zum ersten Mal begegnete, gleich mit einem Wangenkuss begrüßt wurde. Der gegengeschlechtliche Wangenkuss hatte sich als Begrüßungszeremoniell etabliert. Eine solche Form der ![]() Im Rahmen meiner Gastdozentur hatte ich mir vorgenommen, einige Live-Demonstrationen von Familientherapien durchzuführen. Dafür sollte die vorhandene Einwegscheibe genutzt werden. Die teilnehmenden Dozenten würden dem Familiengespräch von draußen anschauen und später mit mir diskutieren. Meine erste Sitzung mit einer chilenischen Familie hat mich zu Anfang ziemlich verunsichert, eigentlich sollte ich sagen: ‟entwaffnet”. Es handelte sich um ein junges Ehepaar mit drei Kindern zwischen sechs und elf Jahren. Als ein in Deutschland, zumal in Norddeutschland beruflich sozialisierter Familientherapeut hatte ich mir angewöhnt, die Sitzung mit einer eher distanzierten Haltung zu beginnen. Das sollte sowohl der Familie als auch mir ermöglichen, uns langsam aneinander anzunähern, ohne uns durch zu starke Involviertheit gegenseitig zu überfordern. So war meine Erwartung auch, als die chilenische Familie den Therapieraum betrat. Ich ging auf sie zu und bot ihnen meine Hand zur Begrüßung an. Der Familienvater nahm meine Hand und drückte sie herzlich - so weit, so gut. Dann wandte ich mich der Mutter zu und bot ihr ebenfalls die Hand an. In typisch chilenischer Manier übersah sie diese Geste, ging statt dessen auf mich zu und küsste mich auf die Wange. Ich stand da ziemlich ratlos und wusste zunächst nicht, was ich als nächstes tun sollte. Es war aber nicht nötig, dass ich etwas tat, denn die drei Kinder kamen der Reihe nach auf mich zu und drückten mich sanft nach unten, um mir mit einem ‟Hola tio” auf die Wange zu küssen. (In Chile war es damals und ist vielleicht heute noch Usus, dass Kinder für sie wichtige Erwachsene mit ‟tio” anreden, also als Onkel bezeichnen.) Dankenswerterweise hat die Kollegin, die mit mir als Kotherapeutin die Sitzung durchführen sollte, die Situation übernommen und einige Zeit damit verbracht, der Familie die Besonderheiten des Settings zu erklären. Diese Zeit habe ich tatsächlich gebraucht, um mich von der Überraschung und Verunsicherung zu erholen, die diese vielen Küsse ausgelöst hatten. Das weitere Gespräch ging um die Probleme, die sie überwinden wollten. Das unterschied sich nicht wesentlich von dem, was ich aus Deutschland kannte. Zum Abschluss des Gesprächs wurde ich aber wieder von der Frau und den drei Kindern herzlich geküsst. Bis dahin hatte ich mich aber daran gewöhnt und war nicht mehr überrascht. Ich begann zu verstehen, dass das Ansinnen, die Durchführung von therapeutischen Gesprächen nach standardisierten Maßgaben zu gestalten, nur dann Sinn macht, wenn man sie an den Gepflogenheiten einer bestimmten Kultur orientiert. Diese Erfahrung sollte mir dann in späteren Jahren bei den Gesprächen helfen, die ich in anderen Ländern als Demonstration durchführte. Ich lernte, mit geringeren vorgefertigten Erwartungen an die Klienten heranzugehen. Thursday, December 13. 2012(Noch mehr) Ukrainische Episoden![]() Ukrainische Episoden Einige Episoden während unserer verschiedenen Aufenthalte in der Ukraine sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Vassily hatten wir ja bereits in Deutschland kennen gelernt. Igor, sein Freund und Kollege und unser Chauffeur, hatte uns in Lemberg vom Flughafen abgeholt (Die Abenteuer der transukrainischen Autofahrten sind schon gestern an dieser Stelle ausführlicher behandelt worden). Am nächsten Tag lernten wir den Rest der Kerngruppe kennen, die zusätzlich aus Viktor und Ira, beides Psychiater, und Oleg, der als Dolmetscher für uns arbeitete, bestand. Ira, eine attraktive Frau um die 40, hatte in der Vorbereitungsphase neben ihrer Tätigkeit in der Klinik und an der Uni zusätzlich Sekretariatsarbeit für das Systemische Projekt übernommen und unsere ins Ukrainische übersetzten Handouts und Arbeitsblätter gestaltet. ![]() Ich überprüfte kurz, ob ich einen Stenoblock in der Hand und einen Bleistift hinter dem Ohr hatte, dem war nicht so. Auf den nächsten Würdenträger, der uns vorgestellt wurde, es war der Chefarzt der Klinik, der uns die Räume für das Seminar zur Verfügung gestellt hatte, trat ich dann auch entschlossen zu und schüttelte ihm die Hand. Er schien etwas überrascht, reagierte aber souverän. Oleg, unser Dolmetscher, erklärte mir anschließend, dass es in der Ukraine als unhöflich angesehen werde, einer Frau die Hand zu geben, weil dies als eine Respektlosigkeit angesehen werde (Ob die Erklärung stimmt, welche ich an anderer Stelle gelesen habe, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese besagt, dass die Frau, die nach einem Händeschütteln in die Küche zurückkehrt, die ihr angestammter Platz ist, sich die Hände dann ständig waschen müsse, bevor sie wieder mit den Lebensmitteln hantiert, und dass man ihr dies respektvoll ersparen möchte). Ob es auch als respektlos angesehen wurde, als Frau diesbezüglich initiativ zu sein und die Hand eines verdutzten Mannes zu ergreifen, oder ob hier andere Bewertungskategorien gelten, ist mir nie wirklich klar geworden. Aber im Laufe der beiden Jahre begegnete man mir mit freundlicher Nachsicht. Meine rechte Hand führte manchmal ein Eigenleben und wollte schneller Guten Tag sagen, als mein Gedächtnis brauchte, um die kulturellen Unterschiede in den Arbeitsspeicher zu laden. Und so stellten wir uns wechselseitig darauf ein, uns die Hände zu schütteln oder auch nicht, je nach dem, welcher Impuls auf welcher Seite vom jeweiligen Gegenüber zuerst dekodiert wurde. Rudi berichtet an anderer Stelle über die korrekte Zusammensetzung eines ukrainischen Frühstücks, das wir häufig in einem Café zu uns nahmen. ![]() Es bestand aus Eiern in jeder Zubereitungsform, süßen und salzigen Pfannkuchen, eingelegten oder frittierten Fischen, Würstchen, Kuchen, Buchweizengrütze, Brot und Butter, Marmelade, Käse oder Aufschnitt. Längere Zeit gingen wir davon aus, dass diese Angebotspalette typisch für dieses spezifische Café war, und eine Ähnlichkeit mit dem typischen ukrainischen Frühstück nicht bestünde. Weit gefehlt. Staunend hörten wir dem Bericht einer jungen Germanistikstudentin zu, die Oleg gelegentlich beim Dolmetschen vertrat, als diese höflich nach unserem Frühstück gefragt und anschließend erzählt hatte, welche verschiedenen kalten und warmen Gerichte sie an diesem Morgen bereits zu sich genommen hatte. Ihre Mutter, so erzählte sie, stehe an jedem Morgen um 5:00 Uhr auf, um der Familie ein Frühstück zu bereiten, welches mindestens aus drei warmen und frisch zubereiteten Gerichten bestehe. Danach gehe sie selbst zur Schule, wo sie als Lehrerin arbeite. Alles andere sei mit der weiblichen Ehre und dem Anspruch, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, nicht zu vereinbaren. Oxana & Svetlana, zwei gestandene Frauen im mittleren Alter mit fast erwachsenen Kindern und beide als Oberärztinnen in der Psychiatrie tätig, bestätigten mir das in einer Unterhaltung am Rande der Mittagspause. Allerdings erzählten sie auch, wie erschöpft von diesem Mammutprogramm in Familie, Haushalt und Beruf sie waren. Die Situation der Frauen in der Ukraine blieb ein besonderes Thema. Viele Frauen sorgten alleine für das Einkommen der Familien. Die Arbeitslosigkeit der Männer war sehr hoch und für Frauen gab es Jobs auf dem grauen Arbeitsmarkt von Pflege, Kinderbetreuung und als Hausangestellte. Der Anteil weiblicher Migranten, die zum großen Teil illegal im Dienstleistungssektor im westlichen Europa tätig waren (und oft in der Zwangsprostitution landeten), lag damals im 7-stelligen Bereich - die genaue Größenordnung weiß ich nicht mehr. Ob es mittlerweile weniger oder doch eher mehr geworden sind? Der Versuch, die Zahl schnell zu googlen, führte auf eine unendliche Anzahl von einschlägigen Kontaktbörsen. Auch eine ukrainische Familie, die wir im Rahmen eines Live-Interviews in der Klinik kennenlernten, war von dieser Thematik betroffen. Die 20jährige Ola, die seit ihrem 16. Lebensjahr fast schon Dauergast in der Psychiatrie war, war von ihrem behandelnden Psychiater mit ihren Eltern eingeladen worden. Ola hatte bereits die meisten Interventionen der osteuropäischen Psychiatrie kennengelernt. Sie war mit Elektroschocks, Neuroleptika, Insulinschock und Hypothermie behandelt worden. Eine Besserung wurde nicht erreicht. Jetzt sollte die Wunderwaffe der Systemischen Therapie zum Einsatz kommen. Wir bemühten uns, einerseits die Erwartungen der Gruppe zu minimieren und andererseits, uns auf die Familie einzustellen. Die Mutter lebte mit der älteren Tochter seit 4 Jahren in den USA und arbeitete mit greencard in einem privaten Haushalt. Ein halbes Jahr nach ihrer Abreise war Ola zum erstenmal psychiatrisch behandelt worden. Der Vater war seit etlichen Jahren arbeitslos und trank zuviel. Die Ehe bestand zumindest formal noch, der Vater hatte aber nicht ohne die Großmutter mit in die USA umziehen wollen. Die Großmutter väterlicherseits lebte in der Nähe. Sie war 1947 im Rahmen der polnischen Operation Weichsel zwangsumgesiedelt worden, war früh verwitwet und hatte ihre beiden Söhne alleine großgezogen. Ola und ihr Vater waren die einzigen Angehörigen in der Nähe, der andere Sohn mit seiner Familie lebte in Portugal. Ola wollte nicht ohne den Vater emigrieren, die Mutter nicht ganz zurückkommen. Olas ältere Schwester war mittlerweile in den USA verheiratet. Zum Zeitpunkt des Familiengesprächs war die Mutter wegen der Krise der jüngeren Tochter für einige Wochen in die Ukraine zurückgekehrt. Wir sprachen mit der Familie über die Nöte der vergangenen Jahre, die sich wechselseitig blockierenden Loyalitäten und die Auswirkungen von Ola 's psychotischen Krisen auf Bindung und Distanz. Die Tochter hatte seit einem halben Jahr kaum etwas geredet und niemandem auf der Station ihr Gesicht gezeigt, welches sie unter einer tief in die Stirn gezogenen Baseballmütze versteckte. Wir fragten die Eltern, ob sie es für möglich hielten, dass Ola sich in sich zurückgezogen habe, da die Optionen für eine befriedigende Veränderung zur Zeit so unerreichbar schienen. Ola schob die Mütze zurück und beteiligte sich am Gespräch. Als das Gespräch vorbei und die Familie bereits verabschiedet war, kehrte der Vater in den Seminarraum zurück und schenkte uns eine Tüte mit Äpfeln. Eine würdevolle Geste, die uns berührte. Wir saßen mit der Gruppe zusammen und aßen Äpfel und ließen den Tag ausklingen. Wednesday, December 12. 2012Alles ist okay!!![]() Interkulturelle Zusammenarbeit kann sehr oft ungemein komisch sein, und davon gibt es heute jede Menge. Rudolf Klein hat in den Jahren von 2003 bis 2005 gemeinsam mit seiner Frau Barbara Schmidt-Keller ein systemisches Weiterbildungscurriculum in der Ukraine durchgeführt, ein Projekt mit vielen Hindernissen und wunderlich-wunderbaren Erfahrungen. Aus seinen Tagebuchnotizen hat er einen Text für den Adventskalender erstellt, für dessen Lektüre man sich unbedingt Zeit nehmen sollte: Ukraine hin und zurück – Tagebuch einer interkulturellen Zusammenarbeit Barbara Schmidt-Keller und ich waren lange Jahre in einer Suchtberatungsstelle des Caritasverbandes beschäftigt. Die zuständige Diözese unterhielt eine Partnerschaft mit einer Diözese in der Ukraine – Ivano-Frankivsk. Dort war ein Hochschullehrer für Psychiatrie namens Wasilij neben seiner Hochschultätigkeit in der Jugendarbeit engagiert. ![]() Wasilij besuchte im Rahmen eines Aufenthalts in Deutschland mehrere psychotherapeutische Institute, sprach mit den jeweiligen Ausbildern und entschied sich letztlich für eine systemische Ausbildung. In diesem Zusammenhang lernte er auch Barbara und mich kennen und fragte an, ob wir Interesse hätten, eine solche Ausbildung für eine von ihm „handverlesene“ Gruppe anzubieten. Die Kosten für dieses Projekt wurden durch die EU gedeckt. Träger war der Caritasverband. Die Ausbildung setzte sich aus sechs fünftägigen Wochenkursen im Abstand von etwa drei Monaten zusammen und fand von 2003 bis 2005 in der Psychiatrie von Ivano-Frankivsk statt. Die Anreise erfolgte mit dem Zug nach Frankfurt, mit dem Flugzeug nach Lemberg (Lviv) und dann mit dem Auto nach Ivano-Frankivsk, das ca. 180 km südlich von Lemberg in den Ausläufern der Karpaten liegt. Die Übersetzung sollte durch einen eigens dafür engagierten Übersetzer erfolgen. Alle anderen organisatorischen Regelungen wie Unterkunft und Verpflegung sollten von Wasilij vorgenommen werden. Die besonderen Erlebnisse, die sich aus der Begegnung zwischen teilweise unterschiedlich kulturell geprägten Erwartungen ergaben, habe ich damals in einer Art Tagebuch festgehalten. Einige Auszüge habe ich für den diesjährigen Adventskalender ausgesucht. 1. Woche Anreisetag Die Reise verläuft bis Lemberg unproblematisch. Züge und Flugzeug sind pünktlich. Wir werden in Lemberg von Wasilij und dem Fahrer Igor abgeholt. Igor lernen wir erst hier kennen. Er ist Psychiater, nimmt am Kurs teil und hat sich seinen alten Ford durch Maurerarbeiten während seines Urlaubs in London verdient. Die Autofahrt von Lemberg nach Ivano-Frankivsk wirkt abenteuerlich, gibt aber auch einen ersten Einblick in die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Ukraine. Zur Bewältigung der ca. 180 Km langen Strecke benötigen wir dreieinhalb Stunden. Die relativ lange Fahrdauer ist u.a. auch dadurch zu erklären, dass an der Grenze zwischen zwei Provinzen die Straße am Ende der einen Provinz ca. ein Meter höher liegt als sie am Beginn der anderen Provinz weitergeht. Beide Provinzen können sich seit Jahren nicht über den genauen Grenzverlauf einigen, sodass eine auf gleicher Höhe verlaufende Straße bisher nicht realisierbar war. Dieser Umstand wird bis ans Ende unserer Ausbildungsreihe so bleiben. Dieses unüberwindliche Hindernis kann nur durch eine Ausweichstrecke über einen Feldweg umfahren werden. 1. Tag Der Kurs startet offiziell mit 22 Personen. Unangemeldet sind noch zwei Psychiaterinnen erschienen und werden von Wasilij aufgenommen. Ein Sponsor der Gruppe aus Lemberg (er bezahlt für einige Teilnehmer aus Lemberg den gesamten Aufenthalt, ist Geschäftsmann und Abgeordneter in irgendeinem politisch bedeutsamen Gremium) wünscht die Teilnahme seiner Gattin. Diese wird ebenfalls aus strategischen Gründen aufgenommen. 3. Tag Der direkte Vorgesetzte von Wasilij und Igor lädt sich selbst in einem Befehlston ein und droht bei Verhinderung damit, den beiden die nächsten Kurse schwerer zu machen (Urlaub nicht genehmigen usw.). Es besteht die Hypothese, dass er seine Tochter noch in dem Kurs unterbringen will. Er erscheint verspätet, da er es als die Pflicht von Igor ansieht, ihn mit dem Auto abzuholen und anschließend wieder zurück zu fahren. Igor musste allerdings zuerst uns transportieren. Der Vorgesetzte sitzt anfangs im Außenkreis und wird während einer Rückmelderunde in den Kreis integriert. Nach der ersten Einheit verabschiedet er sich. Barbara und ich bedanken uns für sein Interesse und teilen ihm mit, dass er bei einem erneuten Besuch willkommen sei. Die Ehefrau und Tochter (ca. 8 Jahre) von Pater Vitali, einem Teilnehmer des Kurses, erscheinen verspätet und möchten als „interessierte Gäste“ zuhören. Mit Vitali und der Ehefrau wird in freundlichem Ton geklärt, dass diese Veranstaltung eine Lehrveranstaltung ist, Schweigepflicht besteht und persönliche Dinge zur Sprache kommen. Daher sei ihre Teilnahme nicht möglich. Außerdem sei die achtjährige Tochter vermutlich überfordert. Eine Musiktherapeutin erscheint und möchte unangemeldet integriert werden. Parallel muss ein vom Bischof angemeldeter Priester seine Teilnahme absagen. Dieser wird durch einen anderen Priester ersetzt. Mit diesem Argument gelingt es Wasilij auch besser, die Musiktherapeutin abzuweisen. Der Kurs besteht inzwischen aus 25 Personen. 2. Woche Anreisetag Statt um 11.20 Uhr fliegt das Flugzeug erst um 21.00 Uhr nach Lemberg, nachdem zunächst wegen eines Schneesturmes in Kiew von einer zweistündigen, dann von einer fünfstündigen Verspätung und dann von einem Flug ab 21.00 Uhr nach Kiew informiert wurde. Eine Zwischenlandung in Lemberg sei aufgrund des Nebels nicht machbar. Die Rückreise nach Lemberg sollte von Kiew aus mit dem Bus in der Nacht erfolgen. Kurz vor Abflug in Frankfurt erhalten wir auf Nachfrage die Information, dass eine Landung doch noch in Lemberg vorgesehen sei. Ein Anruf bei Wasilij ermöglicht, dass wir um 24.00 Uhr in Lemberg abgeholt werden. Die Autofahrt inklusive Zollkontrollen ermöglicht den Bezug des Hotelzimmers in Ivano-Frankivsk um 3.30 Uhr. 1. Tag Wir beginnen mit zwei Stunden Verspätung – wegen der Anreiseprobleme. Der Vorlesungssaal ist verschlossen. Der Schlüsselinhaber ist für unbekannte Zeit unterwegs. Die Gruppe begnügt sich mit einem zu kleinen Raum. Es erweist sich als positiv, dass die Priester noch fehlen (Wochenende), da nicht alle einen Platz finden würden. Nach zwei Stunden ist der Vorlesungssaal geöffnet – allerdings ist er so kalt, dass man darin nicht arbeiten kann. Es bleibt am heutigen Tag bei dem kleinen Raum. Für den nächsten Tag ist das Erwärmen des Vorlesungssaales vorgesehen. Möglicherweise ist wegen des Wochenendes nicht geheizt. Eine Teilnehmerin ist in die BRD ausgewandert. Dafür rückt eine neue Teilnehmerin nach. Sie ist eine frisch promovierte Ärztin, Tochter des Lehrstuhlinhabers, der in der ersten Woche unangemeldet erschien und als Beobachter fungierte. Angenehmer Nebeneffekt: Alle Teilnehmer, die an der Universität angestellt sind, sind nun offiziell für die Veranstaltungen freigestellt. Der organisatorische Hintergrund ist damit zusätzlich abgesichert. Wir werten die Aufnahme der neuen Teilnehmerin durch Wasilij als eine taktisch kluge Entscheidung. Ein Auszubildender in systemischer Familientherapie erscheint unangemeldet und bittet um den Status eines Beobachters. Dies wird von Wasilij abgelehnt mit dem Hinweis an uns, dieser Kollege sei ein „Spion“ der analytisch orientierten Psychotherapie. 3. Tag Wir beginnen mit einer Verspätung von 30 Minuten, weil der für uns vorgesehene neue Raum vormittags zwar für uns reserviert wurde, nun jedoch noch nicht zur Verfügung steht. Die Benutzung des Vorlesungssaales wird nicht mehr ernsthaft in Erwägung gezogen. Nach einer gewissen Verzögerung entpuppt sich der neue Raum als das Schulzimmer auf der kinderpsychiatrischen Station. Der Raum ist größer als der andere Ausweichraum, allerdings zur Hälfte mit Schultischen und integrierten Bänken versehen. Die Heizung ist kaputt und der Raum somit kalt. Die Gruppe lässt sich von diesen Veränderungen und Vorkommnissen überhaupt nicht beeindrucken. Sie arbeiten konzentriert und offensichtlich mit Spaß. 3. Woche Anreisetag Wir sind bei 8 Grad plus in Frankfurt weggeflogen und bei minus 9 Grad gelandet. Dieses Mal sind wir in einem anderen Hotel untergebracht. Ein Hotel von historischer Bedeutung: 1918 wurde hier die westukrainische Republik ausgerufen. Möglicherweise sogar aus dem Hotelzimmer zur Straße hin, in dem wir nun wohnen. 1. Tag: Heute liegt die Temperatur bei minus 14 Grad. Außer vier Gruppenmitgliedern sind alle anwesend. Eine Teilnehmerin hat vermutlich gerade ihr Kind bekommen. Ein Priester ist wegen der bevorstehenden Fastenzeit unter Arbeitsdruck. Zwei Mitglieder fehlen noch ohne Begründung. Dafür ist ein neues Mitglied, Anatolj, in die Gruppe aufgenommen worden – ein weiterer Psychiater. Die Gruppe besteht nun aus 26 Personen. 2. Tag: Es wird wärmer: 8 Grad minus. Die vier gestern noch fehlenden Gruppenmitglieder sind heute da. Die frisch gebackene Mutter ist auch anwesend. Sie hat einen Sohn geboren und muss während des Tages zum Stillen nach hause. Morgen beginnt die Fastenzeit. Vermutlich wird dann auch der noch fehlende Priester erscheinen. Am Abend nach dem heutigen Seminar fing es zu regnen an. Das führt zu starkem Glatteis, was die Abfahrt in der Psychiatrie wegen völlig vereisten Autoscheiben erheblich verzögert. Die Fahrt ist ebenfalls langwierig, funktioniert aber ohne Unfälle. 3. Tag: Noch wärmer: 0 Grad. Allerdings hat es in der Nacht weiter geregnet und gleichzeitig gefroren. Es befinden sich ca. 3 cm Eis auf allen Gehsteigen und Seitenstraßen. Die Bewegungsfähigkeit ist enorm eingeschränkt. Ein Glatteis wie schon lange nicht mehr. Wir kommen ca. 45 Minuten zu spät. Interessanterweise sind (fast) alle Teilnehmer bereits da. Auch der gestern noch vermisste Priester. 5. Tag: Über Nacht hat es zwischen 5 und 8 cm geschneit. Außerdem müssen wir noch bestellten Kuchen aus einer Bäckerei abholen. Wir fahren dennoch zur normalen Zeit ab und kommen entsprechend spät in der Psychiatrie an. Die Gruppe ist vollständig anwesend. Da am heutigen Tag v.a. Übungen, Rollenspiele und Supervisionsanliegen bearbeitet werden, werden verschiedene Kleingruppen gebildet. Die Gruppe überrascht uns erneut ob ihres Improvisationsvermögens: Fünf Kleingruppen in einem Raum. Die Kleingruppen haben nur feste Schulbänke zur Verfügung, die sie, je nach Gruppengröße, im Raum immer wieder neu verteilen und so mit einer hohen Disziplin arbeiten. Wir erfahren heute von einer „Beschwerde“ der Köchin, die für uns in der Psychiatrie eigens das Mittagessen zubereitet. Es gab immer eine Vorspeise, einen Hauptgang, einen Nachtisch und anschließend Kaffee. Die Köchin, eine kleine und ziemlich korpulente Frau hat Wasilij mitgeteilt, dass wir unhöflich seien: „Die trinken ja noch nicht einmal Wodka nach dem Essen.“ 6. Tag: Dieses Mal fahren wir „nur“ eine Stunde verspätet von Ivano nach Lemberg. Die Gründe sind unklar. Die Fahrt durch schneebedeckte Landschaften und vorbei an vereisten Sträuchern ist jedoch sehr schön. Die HWS-Symptome nehmen aufgrund mangelhafter Stoßdämpfer im alten Ford merklich zu. Lemberg ist sehr schön. Wir trinken am alten Marktplatz phantastisch guten Espresso. 7. Tag: Eine Stunde vor Abfahrt mit dem Taxi zum Flughafen beginnt es stark zu schneien. Dies hat zur Folge, dass der Abflug um eine Stunde verzögert wird. Alle Anschlusszüge sind damit unerreichbar. Die von Wasilij ausgehändigten 50 Gryvna (falls das Taxi teurer werden sollte), wird mir an der Zollkontrolle vor der Ausreise von einem (vermutlich korrupten) Zollbeamten ohne Aushändigung irgendeiner Quittung abgenommen. Den Rest von zwei Gryvna und einigen Kopeken darf ich als Souvenir behalten. 4. Woche Anreisetag Auf der Fahrt von Lemberg nach Ivano-Frankivsk werden wir darüber informiert, dass der Chef des Lehrstuhls, dessen Tochter Mitglied in der Gruppe ist, uns für Spione hält und davon ausgeht, diese Ausbildung mache die Auszubildenden zu Zombies. Allerdings scheint er dies nur den Kollegen der Abteilung vorzuwerfen. Seine Tochter bleibt dennoch weiterhin Ausbildungsteilnehmerin. Neben psychiatrischen Diagnosen wird von Wasilij und Igor noch eine zerebrale Schädigung des Chefs als Erklärungsursache in Erwägung gezogen. Igor, bislang einer der langsamsten, reaktionsverzögertsten, vorsichtigsten und unsichersten Fahrer unseres bisherigen Lebens, erweist sich heute als wahrer Henker am Steuer. Das einzige, was ihm geblieben zu sein schien, ist die langsame Reaktion. 1. Tag Das Gebäude der Psychiatrie ist frisch gestrichen. Am Fahnenmast hängt eine deutsche Flagge – zu Ehren der deutschen Gäste. Damit sind wir gemeint. Das Seminar findet heute im großen Vorlesungssaal statt, der auch zu Beginn der Ausbildung als Ausbildungsraum gedient hat. Auch dieser ist komplett renoviert. Das Dach ist repariert, der Boden ausgebessert und lackiert, Fenster erneuert, die Wände gestrichen, neue Heizkörper hängen an der Wand. Es ist hell, freundlich und aufgrund des Wetters angenehm temperiert. Allerdings dünstet der Fußbodenlack in einer Art aus, dass man Leberschädigungen und Hirnschwund befürchten muss. Ein unbekannter Kollege erscheint und bittet um eine Position als Gasthörer. Nach eingehender Diskussion wird dies aus Rücksicht auf die Gruppendynamik von Wasilij abgelehnt. Da der Kollege in einer systemisch orientierten Arbeitsgruppe in Lemberg eingebunden ist, bietet ihm Wasilij eine Kooperation außerhalb der Ausbildungsgruppe an. 2. Tag Zwei der fehlenden KollegInnen erscheinen heute. Die drei anderen KollegInnen lassen sich entschuldigen, da sie aus finanziellen Gründen die Reise von ihren jeweiligen Heimatstädten nach Ivano-Frankivsk und den Aufenthalt z.Zt. nicht finanzieren können. 4. Tag Wir beginnen mit dem Seminar erst um 12.00 Uhr, da der Übersetzer, Oleg, in seinem Hauptberuf als Professor für Germanistik (Schwerpunkt: Metaphern) noch Diplomprüfungen abnehmen muss. Außerdem müssen wir unser Visum um einen Tag verlängern lassen. Aus Sicht von Wasilij stellt das aber kein Problem dar. „Alles ist okay!!“ (Wahlspruch und Kampfruf – oder Beschwörungsformel (?) von Wasilij). Es erweist sich als komplizierter als gedacht. Gestern, am Nationalfeiertag, hat Wasilij zumindest die schriftliche Vorbereitung für die Verlängerung des Visums vorgenommen. Der Caritasdirektor hat diesen Antrag aber noch nicht unterschrieben. Seine Sekretärin ist auch noch nicht zum Dienst erschienen. Der Direktor war gestern in Lemberg und kam spät nach hause. Ohne seine Unterschrift sinken die Chancen, kurzfristig eine Verlängerung des Visums zu bekommen. Wir verbringen die Wartezeit mit einem Frühstück (wir: Pfannkuchen mit Quarkfüllung und Kaffee; Wassilij und Igor: Pfannkuchen mit Pilzfüllung, Würstchen, Suppe, Schweinefleisch und Tee). Endlich liegt die Unterschrift des Direktors vor und wir fahren zum Ausländeramt. Dort wird hinter verschlossenen Türen irgendetwas verhandelt. Wir benötigen „nur noch“ zwei Passbilder, dann ist „alles okay“. Dies geschieht im Raum gegenüber der Antragsstelle. Den Raum teilen sich vier Personen, von denen einer arbeitet (die Passbilder macht) und die anderen sehr interessiert zuschauen. Dann stellt sich heraus, dass Wasilij morgen erneut mit den Passbildern und irgendwelchen Bescheinigungen des Caritasverbandes beim Amt erscheinen muss, damit der Rest (hoffentlich) erledigt werden kann. Aber: „Alles ist okay!“. Nachdem dieser Vorgang insgesamt zweieinhalb Stunden gedauert hat, versuchen wir den Fahrer Igor zu finden, der die Zeit brauchte, um seine Vorderreifen vulkanisieren zu lassen. Leider ist er zu spät, da die Straßen nach einem sehr langen Wochenende (Nationalfeiertag) total verstopft sind. Während der Wartezeit bekommen wir per Handy die Information, dass der Übersetzer Oleg dienstverpflichtet wurde und zwei Stunden länger bleiben muss. Glücklicherweise kommt ein deutsch sprechender Mitarbeiter der Malteser, Igor, vorbei und erklärt sich zur zweistündigen Übersetzung bereit: „Alles ist okay!!“ 5. Tag Wasilij kommt später zum Seminar, da er die Angelegenheit mit unserem Visum erledigen muss. Gegen 11.30 Uhr erscheint er im Seminar und erklärt, dass alles geregelt sei. Allerdings mussten die Pässe noch im Amt bleiben. Sie können erst am nächsten Tag (Abreisetag nach Lemberg) abgeholt werden. Aber: „Alles ist okay!“ Da Wasilij morgen um 14.00 Uhr Promotionsprüfungen hat, vereinbaren wir, dass er einen Fahrer besorgt, der uns nach Lemberg fährt. Die Abfahrt wird auf 11.30 Uhr festgelegt. Das Seminar endet in guter Stimmung und das Organisationsteam um Wasilij, Victor, Ira und Igor lädt uns zu einem Wochenendhaus eines Freundes am Fuße der Karpaten ein – zu einem Abschlussessen, wie es heißt. Dort erwartet uns eine wunderschöne Landschaft mit einem abgelegenen neuen Holzhaus und einem Weiher, durch den ein Bach fließt und in dem man angeln kann. Es werden insgesamt 5 Hechte gefangen (einer von mir!!), von denen einer sofort zu einer Suppe verarbeitet wird. Anschließend gibt es gegrillte Fleischspieße mit Blumenkohlsalat und danach die gegrillten übrigen Hechte mit einem Kartoffel-Pilz-Püree – und reichlich Wodka. Es ist ein sehr schöner Abend, an dem ein Trinkspruch den anderen jagt: „Auf die Frauen“, “ „Auf die Liebe“, „Auf den Frieden“, “Auf die Gesundheit“, „Auf die deutsch-ukrainische Freundschaft“, „Auf die orangene Revolution“, „Auf das Leben“, „Auf die Kinder“, „Auf die Zukunft“…, gefolgt von einem Glas Wodka, wobei Wodka-Gläser in der Ukraine fast hiesigen Wassergläsern entsprechen. Für die anwesenden Frauen gibt es statt Wodka süßen Wein. Wir kehren erst weit nach Mitternacht eher mehr als weniger betrunken in unser Hotel zurück. 6. Tag Wasilij will heute die Sache mit den Visa endgültig klären. Die Abfahrt soll um 11.30 Uhr erfolgen. Die Spannung steigt. Das Visum wird problemlos verlängert: „Alles ist okay!“ Allerdings verzögert sich die Abfahrt, da der Fahrer vom Malteser-Chef für eine andere „dringendere“ Fahrt eingesetzt wurde. Früheste Abfahrt: 12.30 Uhr. Der Fahrer erscheint pünktlich, bittet jedoch um eine zehnminütige Pause. Die Abfahrt erfolgt letztlich kurz vor 13.00 Uhr. Die Fahrt verläuft unproblematisch. Unterwegs sehen wir zwei fliegende Störche und ein Nest auf einer Kapelle mit mindestens drei jungen Störchen. 5. Woche Anreisetag Wasilij und Igor holen uns am Flughafen ab. Igor wird durch extrem schlechte Straßenverhältnisse (der Winter hat seine Spuren in Form riesiger Schlaglöcher hinterlassen) davon abgehalten, uns mit einer unnachahmlichen Mischung aus halsbrecherischer Fahrweise und langsamer Reaktion von Lemberg nach Ivano-Frankivsk zu befördern. Man kann ja auch mal Glück haben. Wasilij teilt uns mit, dass der Übersetzer Oleg kurzfristig nach Kiew abgeordnet wurde und daher eine Studentin von ihm die Übersetzung übernehmen wird. 1. Tag Der Hörsaal, angekündigt als seit langer Zeit fest organisierter Raum für die fünf Tage, ist besetzt. Wir müssen erneut in das Schulzimmer der Kinderpsychiatrie ausweichen. Das kennen wir ja bereits. Morgen soll alles anders werden. Elena, die Übersetzerin tut ihr bestes. Allerdings überträgt sich ihre Unsicherheit etwas auf uns, was den Anfang nicht gerade einfach macht. Da müssen wir durch. Ersatz gibt es nicht. 3. Tag Der Seminartag verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Eine „Kiewer Torte“, die eine Teilnehmerin (Natalja) mitbringt, schmeckt ausgezeichnet. Dadurch wird zwar die Nachmittagspause zu lang – wir teilen die Torte mit allen – es lohnt jedoch. 5. Tag Heute ist Sonntag. Das Seminar neigt sich dem Ende zu. Dennoch eine sehr positive Überraschung. Die Toilettenspülung in der Psychiatrie funktioniert heute zum ersten Mal für diese Woche. Das Wasser läuft hörbar in den Spülkasten und er lässt sich betätigen. Wir freuen uns und sind auf die sechste Woche gespannt. 6. Tag Heute geht es zurück nach Lemberg. Wasilij und Igor fahren uns. Wir starten pünktlich. Unterwegs besichtigen wir Halics (garantiert falsch geschrieben), zwischen 1100 und 1200 Sitz eines Königs, mindestens aber eines Fürsten. Eine schöne kleine Stadt mit einer interessanten Festung, die sich gerade im Wiederaufbau befindet. Barbara macht schöne Fotos. Danach wieder in Richtung Lemberg. Igor fährt wie ein Irrer. Wir versuchen uns strikt an der Überlegung zu orientieren, dass Igor sicher genau so wenig vorzeitig ums Leben kommen möchte wie wir und er zwischen den Seminaren auch Auto fährt – ohne erkennbaren körperlichen Schaden. Irgendwie scheint er Situationen völlig anders einzuschätzen als wir. Einmal überqueren ca. 30 Gänse die Straße. Die Gänsegruppe ist von weitem gut zu erkennen. Igor fährt ungerührt mit gleicher Geschwindigkeit auf die Gänsegruppe zu. Etwa 10 Meter vor den Gänsen tritt er plötzlich mit aller Entschiedenheit auf die Bremse und rutscht in die Gänsegruppe. Die Tiere springen, fliegen, rennen, schnattern. Federn flirren auseinander. Der Anblick erinnert an eine Kissenschlacht. Igor wartet einen kurzen Moment ungerührt. Die Tiere – alle leben noch – verlassen beleidigt die Straße. Igor drückt aufs Gas und weiter geht’s. Die Begegnung Igors mit dem Fahrradfahrer, der in der Abenddämmerung mit einem uralten, unbeleuchteten Fahrrad auf der linken Straßenseite unterwegs ist und mit letztem Schwung kopfüber den lebensrettenden Straßengraben erreicht, muss nicht detailliert erzählt werden. In Lemberg angekommen machen wir eine kleine Stadtbesichtigung, trinken wieder einmal hervorragenden Espresso und merken langsam, dass uns das Seminar viel Kraft gekostet hat. 6. Woche Anreisetag Die letzte Ausbildungswoche bricht an. Die Fahrt nach Ivano-Frankivsk verläuft wie immer. Igor fährt aber vorsichtig, jedoch extrem unsicher. Auf der Fahrt erfahren wir, dass der Dolmetscher Oleg nicht engagiert werden konnte. Stattdessen soll uns die Dolmetscherin vom letzten Aufenthalt, Elena, übersetzen. Angeblich habe sich die Ehefrau von Oleg durchgesetzt. Diese monierte, dass Oleg zeitgleich einen Auftrag in Österreich annehmen könne – mit dem Vorteil, dass die ganze Familie dort Urlaub machen kann. Die Hitze in Ivano-Frankivsk ist fürchterlich. Die Temperatur in unserem Zimmer unter dem Dach erinnert stark an die schlimmsten Nächte in Korsika. Die Moskitos auch. Nur verfügten wir in Korsika über Moskitonetze. Hier sind wir leichte Beute. Unbeeindruckt von der Hitze scheinen die ukrainischen Autofahrer und Discobesucher sich an neue Lautstärkenrekorde heranzuwagen. Die Bässe der Autos, die Musik- und Auspuffanlagen vollbringen wahre Wunder – bis ca. 3.00 Uhr in der Nacht. 2. Tag Ein Abschlussfest am Ende dieser Woche ist zwar oft kommuniziert worden, keineswegs aber organisiert. Zunächst sieht es danach aus, dass es im Caritas-Gebäude stattfinden soll. Heute fährt Wasilij zur Caritas und bittet einen Pater, die Gruppe am Samstag zu segnen. Plötzlich könnte der Seminarsaal die bessere Lokalität sein. Warum, ist unklar. Nun soll es nach Ende des Seminars eine kleine Feier geben. Diese wird mit nicht-alkoholischen Getränken bestritten, da mindestens zwei bekennende trockene Alkoholiker in der Gruppe sind. Außerdem soll es süße Speisen geben (Kuchen, Kekse usw.). Allerdings weiß der Chefarzt der Klinik noch nichts davon. Wasilij will alles klären: „Ist kein Problem. Alles ist okay.“ 3. Tag Heute wird endgültig festgelegt, dass morgen nach dem Seminar die Abschlussfeier stattfinden wird. Dazu soll das Seminar bereits um 17.30 Uhr enden. Am Abend trifft der Referent aus Deutschland eigens für die Zertifikatübergabe ein. Wasilij hat auch den Chefarzt eingeladen. Oxanna wird in ihrer Doppelrolle als Bezirkspsychiaterin und Kursteilnehmerin gemeinsam mit einem Vertreter der Stadt der Feier einen offiziellen Charakter verleihen. ![]() 4. Tag Für den Abend ist die Abschlussfeier mit Zertifikatübergabe geplant. Wasilij und das Organisationsteam verbringen fast die gesamte Mittagspause damit, Kuchen und Süßigkeiten zu kaufen. Nach Abschluss des Seminartages kann die Abschlussfeier beginnen. Allerdings sind die Zertifikate von uns noch nicht unterschrieben. Das ist aber insofern kein Problem, weil sich herausstellt, dass der Bischof samt seinem Nachfolger irgendwohin gefahren ist und ebenfalls noch nicht unterschrieben hat. Das Zertifikat kann somit nicht übergeben werden. Die Gruppe trifft sich möglicherweise zu diesem Zweck noch einmal. Oder Wasilij versendet die Zertifikate per Post: „Alles ist okay!“ Oxanna kann nun doch nicht kommen – ebenso wie vier Teilnehmer. Sie sind auf verschiedenen Hochzeiten eingeladen. Diese häufen sich, weil dies der letzte Samstag vor einer zweiwöchigen Fastenzeit ist und während der Fastenzeit nicht geheiratet wird. Der Priester, der die Gruppe segnen wollte (oder sollte) erscheint ebenfalls nicht. Die Stimmung ist dennoch (oder gerade deshalb?) gut. Es werden mehrere rührende und durchaus glaubhafte Dankesreden gehalten. 5. Tag Heute ist der letzte Seminartag von insgesamt 30. Es herrschen ambivalente Gefühle. Einerseits eine gewisse Erleichterung, dass es nun ein Ende hat. Wir haben doch viel Energie gelassen und viel gearbeitet. Andererseits eine gewisse Wehmut, v.a. der Gruppe gegenüber. Wir sind gespannt, wie es laufen wird. Die Gruppe ist vollzählig anwesend. Der Tag verläuft ruhig. Die Verabschiedung ist humorvoll und nicht zu überschwänglich. Wir werden reich beschenkt, was mit Sicherheit Transportprobleme aufwerfen wird. Wir verabschieden uns von allen. Jetzt ist es vorbei. Nach Ende des Seminars besuchen wir einen Künstler in seinem Atelier. Ein Besuch, der schon oft angekündigt worden war, bislang aber nicht realisiert werden konnte. Auf dem Weg dorthin sehen wir Straßen mit beeindruckend schönen, aber heruntergekommenen Häusern, die eine Ahnung über das Vorkriegsleben in Ivano-Frankivsk zulassen. Das Atelier war so, wie man sich ein Atelier vorstellt: Chaotisch, vollgepackt mit irgendwelchen Dingen und Bilder über Bilder. Diese sind sehr unterschiedlich. Teils gegenständlich, teils abstrakt, teils an Ikonen erinnernd. Wir kaufen nach einiger Überlegung ein Bild und freuen uns, nun auch Kunst aus der Ukraine in unserem Haus zu haben. 6. Tag Es regnet in Strömen. Wir frühstücken in einem kleinen Lokal, das nach Wasilij Angaben den Charme der ehemaligen Sowjetunion versprüht. Es gibt starken Kaffee und Vareniki (vermutlich auch falsch geschrieben: eine Art Ravioli mit einer Quark-Kartoffelfüllung, zerlassener Butter und Speck). 7. Tag Wir fahren pünktlich vom Hotel zum Flughafen. Dort erwartet uns Wasilij und verabschiedet uns. Das Projekt ist für uns zu Ende. Wir checken pünktlich ein, wir sitzen pünktlich in der Maschine, das Flugzeug hebt pünktlich ab, wir landen pünktlich und wir erwischen sogar den Zug, der uns pünktlich mit drei Umstiegen um 15.06 Uhr nach Hause bringt. Nachlese: So viel Zeit ist vergangen, so viele Menschen haben wir kennen gelernt, so viele Eindrücke in einem für uns fremden Land bekommen und so viel Unerklärliches, Unfassbares, Unergründliches erfahren. Soviel Ärgerliches, Lustiges, Liebevolles erlebt. Dennoch hat immer nur einer recht behalten: Wasilij. Denn: „Alles ist okay!“ Zwei Jahre nach Abschluss des Kurses – wir hatten bereits mit Wasilij darüber nachgedacht, einen Aufbaukurs anzubieten, bekamen wir die traurige Nachricht, dass Wasilij im Alter von 43 Jahren plötzlich verstorben war. Mit seinem Tod endete das Projekt, an das wir heute noch gerne denken. Und gerne riefe ich ihm noch zu: „Alles ist okay.“ Ich bin sicher, dass er beim Lesen dieser Zeilen auf seine ganz persönliche und schöne Art lachen würde. Wasilij, Ira, Victor, Igor, Oleg, Elena, Oxanna und alle anderen werden uns in Erinnerung bleiben. Eine Fotografie der Ausbildungsgruppe hat einen Ehrenplatz in unserer Praxis. Tuesday, December 11. 2012Du sein Künstler![]() Ich erzähle von einem Mädchen, das den Bombenangriff auf Sarajewo zwar überlebte, aber unter posttraumatischen Symptomen litt. Zum Termin, den ich in unserer Beratungsstelle vereinbarte, kamen Melina (deren Name ich geändert habe) und ihre Mutter, die aber beide kaum Deutsch sprachen. Die Mutter selber wollte meinen Praxisraum, trotz freundlicher Einladung, auch nicht betreten, gab mir aber zu verstehen, dass Melina später vom Vater hier abgeholt würde. Aufgrund der Verständigungsprobleme, aber spürbarer Offenheit und Neugier, entschied ich mich, mit Zeichnungen zu arbeiten. Melina begann auch sofort zu zeichnen und es gelang ihr wider mein Erwarten erstaunlich gut, ihre Traumageschichte (Luftangriff, Schutzraum, Angst, Ressourcen…) zu Papier zu bringen, so dass wir nach kurzer Zeit eine Anzahl Zeichnungsblätter vor uns liegen hatten. ![]() Ich war in dieser auch für mich ungewohnten Stille tief berührt und somit selber in leichter Trance, als plötzlich die Türe aufgestossen wird und ein grosser, kräftiger, sichtlich überraschter Mann, den ich sofort als Melinas Vater identifiziere, in meinem Praxisraum steht, auf mich zukommt und sagt: "Ich habe gedacht, meine Tochter gehen zu Doktor und jetzt ich sehen Du sein Ki(ü)nstler". Er drückt mir fest und fast freundschaftlich die Hand, nimmt seine Tochter liebevoll in die Arme, bedankt sich und beide - in sichbar entspannter Mimik und Gestik - verabschieden sich… Geblieben sind mir die Zeichnungen und eine berührende Erinnerung, was Psychotherapie ausmacht (Selbstorganisation!) und warum ich bis auf den heutigen Tag gerne systemisch "therapiere"... Monday, December 10. 2012Erinnerungen an Kopftuchzeiten …![]() Ich bin eine Grenzgängerin - man kann das als verrückt bezeichnen, als Narretei - für mich ist es der Versuch, der Vielfalt, der ich in meinem Leben begegne und begegnet bin, gerecht zu werden und mich dennoch verantwortlich zu entscheiden. Es war für mich immer schon so, dass mir viele verschiedene Wege gleichermaßen richtig erschienen, daß ich sie verstehen und nachvollziehen konnte. Zeitweise habe ich mich auf einen dieser Wege verpflichtet - weil ich ihn intensiver, sozusagen von innen heraus verstehen wollte. Zu anderen Zeiten habe ich mich von denselben Wegen gelöst - um andere Menschen besser begreifen zu können und um wieder mehr Weite und Freiheit zu erfahren. Vor inzwischen etwa 15 Jahren bin ich ein Jahr lang „unter dem Kopftuch gegangen“ - im vollen Bewusstsein der Provokation, die damit für mein Umfeld verbunden war, denn ich war damals schon zehn Jahre lang Psychotherapeutin, fünf Jahre Lehrtherapeutin und voll in meinem ![]() Heute erscheint mir diese Phase nur mehr schwer nachvollziehbar. Es war sicher die eigenartigste und befremdlichste Zeit meines Lebens, gespickt mit komischen Situationen: Ich bin z.B. mit dem Kopftuch bis zur Türe meiner therapeutischen Praxis gegangen, habe es dort abgelegt, um die KlientInnen nicht zu verwirren, und es beim Weggehen wieder angelegt. Ich bin in der Mittagspause in die nahe Moschee beten gegangen und habe mich dort mit konvertierten Österreicherinnen getroffen und ihren Eheproblemen zugehört. Dieselben Frauen kamen dann mit ihren vorwiegend arabischen Männern zu mir in Paartherapie, weil sie mir vertrauten. Sie konnten gut akzeptieren, dass ich im Kontext meiner Arbeit kein Kopftuch trug, im Umfeld der Moschee und auf der Straße aber schon. Die Kenntnis der religiösen Vorschriften war sehr hilfreich bei diesen Paartherapien. Die österreichischen Frauen kannten sich besser damit aus als ihre arabischen Männer, was ihnen ermöglichte, diese auf einer ihnen entsprechende Weise zu anderen Verhaltensweisen anzuregen. Als ich von neuem aufbrach, das Kopftuch ablegte und andere Beziehungswege beschritt, empfand ich Gefühle von Verrat und von schmerzlichem Verlust. Gleichzeitig erschien es mir ungeheuer befreiend, wieder unabhängig von diversen Normen und Bindungen denken und Menschen mit anderen Vorstellungen nahe kommen zu können. Ich spürte damals sehr deutlich, wie vorläufig meine Entscheidungen waren und wie sehr die Sichtweise, mit der ich mich jeweils identifiziere, zur Konstruktion meiner Persönlichkeit und der Welt, in der sie lebt, beitrug. Alte Bindungen lösten sich wieder auf, neue entstanden. Ich fühlte wie ein anderer Mensch, wusste eine Zeitlang gar nicht so recht, wer ich war. Die Folge dieser Lebenserfahrung ist zum einen, dass ich kein Einzelnes mehr absolut setzen möchte, auch meine diversen Rollen, Meinungen und Glaubensvorstellungen nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich wieder erkennen würde, wenn ich in einer anderen kulturellen Umgebung auf mich träfe und verstehe Menschen besser, die in solchen sozialen Kontexten leben. Andererseits widerstrebt mir seitdem die Idee noch mehr als früher, meine Identität ausschließlich relational aufzufassen oder als bloße Erzählung narrativ zu dekonstruieren. Ich habe erlebt, dass dieses Motiv zu einer Selbstauflösung führen kann, die in Handlungsunfähigkeit und großem Unwohlsein mündet. Manchmal berichte ich anderen Menschen über die Geschichten meines Lebens. Die damit verbundene Resonanz bietet mir einen Ort für einen Hauch sozialer und damit nicht mehr einsamer Kontinuität meines Ichs. Gleichzeitig höre ich mir zu, wie ich über mich erzähle und erkenne mich wieder, was mir in aller Veränderung Stabilität verleiht. Schön wäre, wenn das Fließen und die Vergänglichkeit umgeben wäre von etwas, das zuwendend, warm und nicht gleichgültig ist. Ich wünsche mir immer noch ein Du, das zumindest die Kontinuität der Erinnerung bietet – und damit einen Hauch „Überleben“, ein Stück hinausgezögerte Sterblichkeit. Sunday, December 9. 2012Weihnachten mitten im Jahr - ein Kind wird geboren![]() Bis vor einigen Jahren war ich in der Schwangerschaftskonfliktberatung tätig. Das folgende Erlebnis stammt aus dieser Zeit. Eine Vierzigjährige kommt in die Beratungsstelle. Sie stellt sich vor – ein deutscher Name und ich höre es sofort an ihrem russischem Akzent: sie ist Spätaussiedlerin. Sie ist erschrocken und fassungslos. Sie sei schwanger, sie wisse nicht, wie sie das ihrem Mann sagen solle, das Kind zu bekommen: unmöglich. Die anderen Kinder sind 12 und 14, sie sind doch schon groß und in Russland geboren und überhaupt: sich in Deutschland zurechtzufinden sei so schon schwer genug. Sie seien gerade aus der zu kleinen Wohnung in das neu gebaute, für eine vierköpfige Familie geplante Haus gezogen. Der Mann habe so lange nach einer guten Arbeit suchen müssen. Sie würden sich immer noch nicht richtig zurechtfinden, in dem fremden Land, das ihres sein soll. – Und dann ein Kind? Sie nimmt den Beratungsschein. Tage darauf ist sie wieder da. Ihr Mann habe sie in den Arm genommen. Warum um alles in der Welt hast du geglaubt ich wolle kein Kind? Es sei großartig, sie würden das schon schaffen. Sie hätten im Haus auch Platz für ein drittes Kind. Sie selbst freut sich und sie freut sich nicht. Sie freut sich darüber, dass ihr Mann für sie da ist, dass sie ein Paar sind. Und doch bleibt sie selbst, auch wenn das Kind jetzt kommt, skeptisch. Ich begleite sie durch die Schwangerschaft. Als das Kind auf der Welt ist sagt sie: „Wissen sie, wir sind nirgends zu Hause. In Russland waren wir die Deutschen und hier sind wir die Russen. Ich hoffe für mein Kind, meinen Sohn, dass er der erste von uns sein wird, für den das keine Bedeutung mehr hat.“ Saturday, December 8. 2012Hoffen auf den WeltmarktDie Geschichte von ![]() Wiener Kollegen hatten eine Einladung nach Leningrad, wie es damals noch hieß, und baten mich, mit zu kommen. Ich war völlig unerfahren bezüglich der Länder hinter dem „eisernen Vorhang“. Dieser begann sich gerade zu öffnen und Michael Gorbatschows Glasnost und Perestroika waren die Hoffnungsbegriffe in dieser Zeit. Für viele dort und auch für uns war es eine Zeit neuer Horizonte - und der Schwierigkeiten, diese einzuschätzen. Mitten im Januar also, bei nasskalten Schneewetter, besuchten wir ein Maschinenbau-Kombinat im heutigen Sankt Petersburg. Während einer Werksführung wurde uns gezeigt, wo mitten im Werksgelände die Front im Zweiten Weltkrieg verlaufen war. Die Deutschen hatten versucht die Leningrader auszuhungern, was unsägliche Leiden mit sich brachte. Geschichte plötzlich hautnah. Wir sahen uns unvermittelt einerseits als Nachfahren einer Täternation, andererseits richteten sich ausgerechnet auf uns Hoffnungen, irgendwie mit dem Kapitalismus zurecht zu kommen. Im ersten ausgebrachten Toast des Generaldirektors kam dies so Ausdruck: "Wir sind bereit uns große Mühe zu geben und wollen dem Weltmarkt entgegenkommen. Wir hoffen und wünschen, dass der Weltmarkt auch uns entgegenkommt". Ich hatte nicht gewusst, wie sehr mich das russische Sentiment anrühren konnte. Umso schmerzlicher, dass wir natürlich zur erwarteten Brüderlichkeit auf dem Weltmarkt nichts beitragen konnten. ![]() Friday, December 7. 2012Als ich einmal fremd war und auf den Hund kam![]() Das Thema interkultureller Begegnung und Erfahrung taucht oft in einem Zusammenhang auf, wenn Menschen verschiedener Nationalität und Sprache zusammen leben. In diesem Sinne über Kultur und Interkulturalität zu reden berücksichtigt manchmal wenig, daß es diverse Kulturen und Sprachen verschiedenster Art auch im eigenen Land geben kann. Menschen sprechen die gleiche Sprache und verstehen sich dennoch nicht, bleiben sich fremd oder erleben sich als feindselig und bedrohlich. Der Mensch aus Papua Neu-Guinea lädt manchmal mehr dazu ein, neugierig auf seine Kultur zu werden und ihn über seine Geschichte auszufragen ![]() Die Uckermark ist eine Landschaft nördlich von Berlin in Brandenburg mit dem Naturschutzreservat Schorfheide. Es ist dort hügelig, es gibt Wälder und viele Seen, Landwirtschaft und wenig Arbeitsplätze. Seit 1990 hat unsere Familie dort ein Haus in einem kleinen Dorf mit insgesamt 70 Häusern, einer alten Feldsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert, einem Gutshaus, das bis Ende der achtziger Jahre als Kinderheim betrieben wurde. Es gibt dort keine Kneipe und kein Lebensmittelgeschäft, nur einen Briefkasten und Zigarettenautomaten. Die Häuser dort sind als Siedlerhäuser nach 1945 aus den alten Gutsgebäuden von Flüchtlingen, heute würde man von Migranten sprechen, aus dem Osten erbaut worden. Die Grundstücke sind alle gleich groß, die Menschen hatten ein wenig zum Bewirtschaften und Tiere, unser Haus hatte eine kleine Wohnung mit Küche und zwei Schlafräumen, einen Stall nach hinten raus und im Dach einen Heuboden. Es gab ein Plumpsklo hinterm Haus und lediglich kaltes Wasser. Mit der Bodenreform in der ehemaligen DDR fingen viele Menschen dort an, in den LPGs zu arbeiten, nach der Wende wurden die meisten arbeitslos. Der frühere Besitzer hatte keine Familie und verkaufte das Haus aus Altersgründen. Eine unserer ersten baulichen Maßnahmen bestand darin, den aus Blech gestanzten Zaun abzureißen ohne schon zu wissen, wie und ob wir einen Ersatz finden wollten. Das Grundstück war also offen geworden. Die erste Begegnung mit dem dortigen Pachtförster war sehr feindselig, ruppig und rauh. Wir hatten eine Retrieverhündin, die wir ohne Leine liefen ließen. An einem der ersten Tage dort raste wutentbrannt der Pachtförster mit seinem Jeep auf unser Grundstück. Sein Jagdgewehr hing über seine Schulter und er baute sich klein und schmächtig vor uns mit den Worten auf: „Wenn dieser Hund noch einmal ohne Leine auf dem Grundstück herumläuft, erschieße ich den.“ Da fühlten wir uns wie Feinde aus dem fernen Berlin, die alles wegnehmen wollen. Wir hatten gegen viele „Regeln“ verstoßen, ein Hund ist dort ein Wachhund, der laut bellend an der Leine liegt um Einbrecher zu beängstigen. Der Zaun ist dazu da, das wenige Eigentum zu begrenzen, welches mühsam erhalten werden muß. Der frei umherlaufende Mensch und Hund zerstört die Natur, wenn man ihn und sie nicht kennt. Heute haben wir eine herzliche und freundschaftliche Beziehung zueinander. Die fing an, als im nächsten Frühjahr die Störche auf der Wiese hinterm Haus nach Würmern suchten und unser Hund ein Jagdverbot bekam. Dann trafen wir uns, als die alte kopfsteingepflasterte Straße im Dorf abgerissen wurde um eine überdimensionierte Teerstraße zu bauen und wir protestierten dagegen. Wir trafen uns, um gemeinsam gegen die Wiedereinrichtung einer großen Schweinemastanlage und den Bau einer riesigen Biogasanlage zu protestieren. Der Protest gegen und für brachte uns zusammen. Dieser Förster ist ein naturverbundener Mensch, kennt die heimischen Tiere und Pflanzen und die wiederkehrenden Störche. Das ist unsere gemeinsame Sprache geworden. Die Uckermark ist eine Gegend, in der die Menschen alle Fremde geblieben sind. Dort gibt es kaum alte Menschen, die dort geboren sind und kaum junge Menschen, die dort bleiben wollen. Es sind überwiegend entwurzelte Menschen, die froh zu sein scheinen, wenn nichts passiert. Manchmal habe ich den Eindruck, unter diesen Voraussetzungen kann nur schwer und sehr langsam etwas wie eine eigene Kultur entstehen. Wenn dann „die Berliner“ kommen wirkt das bedrohlich. Störche haben es gut, sie kommen im Frühjahr und fliegen im Herbst wieder in den Süden, wie die anderen Zugvögel auch.
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