Sunday, June 26. 2011
 Im Haus eines befreundeten Bauernpaares wirkt eine Schmutzschleuse als Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen. Sie lädt den Bauern und seine Mitarbeiter ein, auf dem Weg von Acker, Wiese oder Stall die Stiefel abzustellen, zu duschen und die Arbeitskleider an den Nagel zu hängen. Der Übergang in die häusliche Sphäre wird durch dieses kleine Ritual markiert. In den traditionellen Familienverhältnissen bleibt die Hausarbeit zwar Frauensache, aber durch die symbolische Reinigung, bei der auch die grösseren Kinder mitmachen, bekommt die Bäuerin Anerkennung für ihre Arbeit. Die Schmutzschleuse stiftet Ordnung und Entlastung im Alltag, und sie dient der Aufrechterhaltung weiblicher und männlicher Bereiche, ohne dass darüber noch «kommuniziert» werden muss. Eine ähnliche Funktion hatte im Haus meiner Kindheit die gute Stube. Im Geschäftshaushalt war es selbstverständlich, dass während der Woche die Angestellten mit am Tisch aßen. Es wurde am Werktag für zwölf oder mehr Leute gekocht, und wir Kinder waren froh, wenn unsere Stimmen am Tisch überhaupt gehört wurden. Anders am Sonntag, wenn nur die «Kernfamilie», die Eltern und wir fünf Kinder, in der guten Stube assen – mit Porzellan und Silberbesteck. Auch wenn heute die Einrichtung der guten Stube als bürgerliche Spießigkeit abgetan wird, denke ich mit einem Lächeln an sie zurück. Für uns markierte sie wichtige Grenzen zwischen Arbeit, Familie, Öffentlichkeit und Privatheit. Wenn ich mit modernen Paaren zusammen bin, kommt mir oft die Weisheit von Schmutzschleuse und guter Stube in den Sinn, die den Übergang von außen nach innen kennzeichnen. Klagen über das Fehlen solcher ritualisierter Übergänge klingen ähnlich. Eine Frau: Mein Mann kommt müde nach Hause, vielleicht von einer Reise – und was tut er? Er läuft durch die Wohnung und schimpft über herumliegende Spielsachen oder meine Arbeitspapiere auf dem Esstisch, oder er rennt zum Handy, bevor er uns begrüßt hat. Ein Mann: Ich gönne doch meiner Frau den Erfolg im Beruf. Aber wenn sie heimkommt und atemlos die Kinder nach ihren Hausaufgaben fragt oder den Geschirrspüler auszuräumen beginnt, ist der Abend im Eimer. Übergänge ritualisieren: eine halbe Stunde aufs Bett liegen, bevor die Frau sich der Familienarbeit zuwendet; ein vereinbarter Rückzug an den Computer, bevor der Mann als Partner und Vater präsent wird. Oder ein gemeinsames Glas auf dem Balkon. Den Seelen erlauben, den Alltag hinter sich zu lassen und anzukommen. Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel "Paarlauf" veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
Sunday, June 19. 2011
 In einer Welt, die an den rational entscheidenden Menschen glaubt, wäre mein Metier – die Therapie von Paaren und die Beratung von Arbeitsteams – Unsinn. Doch zum Glück gibt es die moderne Hirnforschung. Sie zeigt, wie Vernunft und Verstand in die emotionale Natur des Menschen eingebettet sind und wie sinnlos die Forderung ist, menschliches Verhalten nur sachlich zu begründen. Der Ausruf «Sei nicht so emotional!», den ich in privaten Beziehungen und in der Arbeitswelt täglich höre, wirkt hilflos banal. Aber er zeitigt oft strafende Wirkung, besonders bei Frauen. Denn die Entwicklung unseres Gehirns wird nachhaltig geprägt von affektiver und formaler Sprache, die uns sogenannt männliche und weibliche Rollen vorschreibt. Was mich bewegt, ist, wenn Liebe in Hass kippt: Ein Partner in einer Unternehmung, nicht mehr ganz jung, verliert plötzlich seine Kooperationsbereitschaft und verweigert sich. Niemand weiss, warum. Er kommuniziert nur noch über Schuldzuweisungen und hasserfüllte Mails. Die Versuche seiner Umgebung, sein bizarres Verhalten zu verstehen, enden stets in linearen Fragen nach möglichen Ursachen. Frühkindliche Störungen und private Probleme werden vermutet, die zu emotionalem Chaos geführt haben könnten. Schon möglich, denke ich. Aber affektive Kipp-Phänomene sind vernünftig und ursächlich nicht zu fassen, so schmerzlich das ist. Le cœur a des raisons que la raison ne connaît pas. Ein ähnliches Kipp-Phänomen zeigt sich, wenn eine Ehepartnerin plötzlich davonläuft. «Als ich am Abend nach Hause kam, war meine Frau weg, mitsamt den Kindern. Ich bin schier wahnsinnig geworden, weil ich ihr Verhalten überhaupt nicht verstehe. Wir hatten es doch gut miteinander», berichtet ihr Mann, der sie über Interpol suchte. Später lerne ich die Frau kennen. Ausziehen sei eine Sache des Überlebens gewesen, erzählt sie mir: «Ich habe schon vor Jahren Abschied genommen, ich bin fast erstickt in dieser Ehe». Warum sie gerade damals und so radikal den Bruch vollzogen hat, weiss sie nicht. Vielleicht hat sie geahnt, dass in ihrer Ablehnung noch ein Funken Liebe war und ist davor geflohen. Kipp-Phänomen! Dennoch meine ich, ganz altmodisch, schlechte Gefühle seien kein Grund für schlechtes Benehmen, selbst wenn die Gefühle einen Menschen in negative Trance versetzen. Dass viele von uns keine optimalen Bedingungen angetroffen haben, als sie geboren wurden, und die Welt unseren Wünschen oft nicht entsprochen hat, ist Grund für Trauer, nicht für Zerstörung. Aber das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt. Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel "Paarlauf" veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
Sunday, June 12. 2011
 Etwas vom Schönsten, was ich in Therapien erlebe, ist die reale Begegnung von erwachsenen Kindern mit ihren Eltern. Auf den ersten Blick ist es zwar einfacher, wenn beide Generationen über die Bilder klagen, die sie sich voneinander machen. «Schrecklich, diese Mutter. Sie hat mir nie gegeben, was ich gebraucht hätte.» Oder: «Unser Sohn hat die falsche Frau erwischt. Wenn die wüsste, wie wir Schwiegereltern unter ihr leiden.» Generationenprobleme können auch zu lösen versucht werden mit sogenannten Familienaufstellungen, bei denen fremde Rollenspieler vor möglichst viel Publikum die persönliche Sicht eines Mannes oder einer Frau von ihrer Herkunftsfamilie inszenieren. Lösungen für den «Aufsteller» werden dann von dem Gruppenleiter vorgegeben, indem er die richtige Ordnung zwischen den Generationen, zwischen Frauen und Männern und der Rangfolge der Geschwister herstellt und den Spielern mitteilt, wer wem Anerkennung oder Sühne zu leisten hat. Die entsprechenden Sprachregeln erinnern an katholisch- kirchliche Rituale. Es geht um Verneigungen vor denen, die einem das Leben schwer gemacht haben, oder um Würdigung jener, die keinen «guten Platz» hatten in der Familie. Diese Inszenierung einer individuellen Sichtweise schliesst die real Betroffenen (Vater, Mutter oder Geschwister) aus. Vielleicht wirkt sie gerade deshalb so tröstlich? Vor allem für das Publikum, welches den Prozess auf der Bühne mit seinen Tränen begleitet. Wer hat keine unerledigten Geschichten in seiner Familie und kann sie nicht stellvertretend beweinen? Bei mir gibt es in Therapien weder stellvertretende Familienmitglieder noch ein mitschluchzendes Publikum, dafür Menschen, die miteinander aus gemeinsam gelebter Vergangenheit Zukunft gestalten. Tränen können dazu gehören, manchmal kommen sie auch mir vor Rührung, dass endlich Brücken über Gräben gebaut werden. Kürzlich sass ich mit einem 80-jährigen Vater und seiner 45-jährigen einzigen Tochter zusammen. Es ging um die emotionale Verstrickung der Frau mit ihrer verstorbenen Mutter und ihre Schuldzuweisung an den Vater: «Du hast dich nur um deine Arbeit gekümmert und uns Frauen nie ernst genommen, darum musste ich immer für meine Mutter da sein.» Wohl zum ersten Mal bekam aber dann im Gespräch auch die Geschichte des Vaters Raum: Er erzählte von seiner Mühe, das marode Familiengeschäft zu sanieren und von seiner Erfahrung, dafür aus Ehe und Familie ausgeschlossen zu werden. Das gemeinsame Erzählen ergab zwar keine Wunderlösung, dafür eine Annäherung von Vater und Tochter, die sich schrittweise im Alltag fortsetzt. Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel "Paarlauf" veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
Sunday, June 5. 2011
 Seit 9 Jahren leben Katja und Robert zusammen. Sie haben eine Tochter von 8 und einen Sohn von 7 Jahren. Katja, Lehrerin, ist halbtags berufstätig, und Robert arbeitet als Bautechniker. Beide lieben ihre Kinder und ihre Arbeit. Aber ihre Beziehung sei seit der Geburt der Kinder lustlos und monoton, es gebe kaum noch leidenschaftliche Begegnungen. Robert fragt, ob sie vielleicht dafür eine Sexualtherapie bräuchten? Weil das Thema Sex zu jeder guten Paarberatung gehört, ermutige ich das Paar zur Fortsetzung der Gespräche bei mir. Katja erzählt zerknirscht, dass sie sich in einen jungen Kollegen (der davon nichts weiss) verliebt und es inzwischen Robert gestanden habe, worauf dieser mit der Bemerkung, dass er das bei so viel Kälte zwischen ihnen normal finde, zur Tagesordnung übergegangen sei. Roberts Vernunft und Gelassenheit in allen Lebenslagen löst bei Katja immer wieder Verzweiflung aus und gibt ihr das Gefühl, Teil des häuslichen Inventars zu sein. Zwar schlafen sie noch ab und zu miteinander, aber ohne Feuer. Robert: «Ich möchte schon, dass es sexuell wieder so lebendig wird zwischen uns, wie es vor der Geburt der Kinder war, und dass Katja so experimentierfreudig ist wie damals – aber wie soll das gelingen, wenn sie andere Männer in ihre Phantasien lässt?» Katja: «Ich frage mich mit schlechtem Gewissen, warum das so ist. Eigentlich liebe ich Robert. Kürzlich habe ich meine sexuellen Wünsche aufgeschrieben. Aber es kam mir nur Banales in den Sinn. Meine grösste Sehnsucht ist, dass Robert mir wieder einmal in die Augen schaut, wenn er mich begehrt, damit ich weiss, er meint mich und nicht einfach seine eigene Entspannung.» Es sind selten Tragödien, mit denen Paare zu mir kommen, sondern ganz gewöhnliche, alltägliche Enttäuschungen wie eben, dass Lust und Leidenschaft nach der Geburt von Kindern in der Familie «verschwimmen». Es scheint eine normale Unvereinbarkeit zwischen Bindung und Sexualität und zwischen Elternschaft und sinnlicher Paarbeziehung zu geben. Der Graben kann aber überbrückt werden, wenn beide bereit sind, einander ihre Wünsche zuzumuten. Denn die Glut ihrer sexuellen Sehnsüchte lebt im Geheimen fast immer weiter, und der Sauerstoff, welcher sie anfacht, entsteht auf vielfältige Weise: zum Beispiel in der ausserehelichen Verliebtheit, dem Romeo- und-Julia-Syndrom des Unmöglichen. Wenn ein solches Erlebnis als Vorbote von Wandel statt als Tragödie verstanden wird und das Paar eigene Liebesinseln findet, können sexuelle Begegnungen «mit offenen Augen» zur Wiederbelebung der Leidenschaft führen. Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel "Paarlauf" veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
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