2002 hat David Becker (Foto: Phil. Fak. der Uni Düsseldorf), einer der exponiertesten Experten im Umgang mit dem Thema politischer Traumatisierungen, ein Projekttutorium an der FU Berlin durchgeführt, seine Ausführungen sind zum größten Teil transkribiert worden. Im Internet ist ein guter Text zu lesen, in dem er seine Gedanken über die individuell-therapeutischen und politisch-gesellschaftlichen Konstruktionen traumatischer Belastungen darstellt: „ Ein Flüchtling ist nicht nur Flüchtling, weil ihn in seinem Heimatland soziale Verhältnisse dazu gemacht haben, sondern er ist auch bei uns Flüchtling, entsprechend der Art und Weise, wie wir dieses Thema hier konstruieren. Bei uns gibt es praktisch keine positiven sozialen Konstruktion von Flüchtlingen mehr. Es gibt nur neutrale bis negative Konstruktionen: sie bleiben zu lange hier, wir müssen die Zuwanderung regeln, wir müssen aufpassen. Wir hatten eine positive Wertung von Flüchtlingen, solange der Kalte Krieg noch an- dauerte. Jeder einzelne unserer guten Brüder und Schwestern, die aus dem Osten kamen, wurden hier politisch gefeiert. Im Kalten Krieg gab es, zumin- dest was die Ostblockstaaten betraf, eine positive Besetzung dieses Terminus. Inzwischen gibt es keine positive soziale Konstruktion diese Terminus mehr. Man sollte darüber nachdenken, wie man diesen Terminus wieder positiv besetzen kann, damit wir die Kraft haben, Leute aufzunehmen, denen es woanders schlecht geht.“ Zum vollständigen Text…
Unter dieses Motto hat Cornelia Tsirigotis das aktuelle Heft der "Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung" gestellt. Die versammelten Beiträge von Tapio Malinen, Johannes Herwig-Lempp, Christiane Bauer sowie Jana Marek & Johannes Schopp legen nahe, dass die Erlaubnis, die eigene Geschichte zu erzählen und die Möglichkeit, sich über die Arbeit von "Profis" zu beschweren, ebenso dazu gehören wie Humor und: Würde. Die abstracts zu diesen Beiträgen und Informationen über die anderen Texte in dieser Ausgabe finden Sie hier…
Kurt F. Richter, vom 1. August 1973 bis zum 31. März 2008 Leiter des Fachbereichs Sozialpsychologie und Beratung in der Akademie Remscheid, der im Alter von 66 Jahren 2009 gestorben ist, hat die Veröffentlichung seines Buches über Coaching im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2009 nicht mehr erlebt, das nun bereits in zweiter Auflage erschienen ist. In der Verlagsankündigung heißt es: "Coaching, wie es in diesem Buch vermittelt wird, ist eine methodenplurale, mehrperspektivische und flexible Beratungsmethode, in der auch analoge, vor- und nichtsprachliche Aspekte neben der sprachlichen Kommunikation berücksichtigt werden. Nur so kann sie die Lebenswirklichkeit der Coachees angemessen erfassen. Coaching wird dabei als eine co-kreative Tätigkeit aufgefasst, als ein gemeinsamer schöpferischer Prozess, in dem es um Gewinnung von neuen Sicht-, Fühl-, Denk- und Handlungsweisen und die Umgestaltung von Strukturen und Mustern geht. Kreative Medien unterstützen diesen schöpferischen Prozess." Richters Kollege und Wegbegleiter Max Fuchs hat dieses Buch, das systemische, integrativ-gestalttherapeutische, analoge und körpertherapeutische Methoden integriert, rezensiert und kommt zu dem Schluss: "Der Nutzen des Buches ist ein mehrfacher. Es bietet einen Ansatz – wie man sagen könnte – aus einem Guss, der sich um Kohärenz zwischen Hintergrundtheorie und praktisch anwendbaren Übungen bemüht. Man kann sich gründlich über diesen spezifischen Ansatz informieren. Daneben erhält das Buch durch sein erfahrungsgesättigtes, reichhaltiges Repertoire unterschiedlicher Übungen den Charakter eines Handbuches mit hohem Gebrauchswert. Dabei sind die Methoden durchaus auch für diejenigen akzeptabel, die andere Vorstellungen über geeignete theoretische und/oder weltanschauliche Grundlagen haben." Zur vollständigen Rezension…
Vom 20.-25.2.2011 findet in Zagora/Marokko die zweite von psyseminare.com (Reto Mischol & Felix Böhringer) organisierte Workshop-Kongress-Woche statt. Eindrücke von der ersten Konferenz in diesem Frühjahr sind auf obigem Video zu sehen. Referenten im kommenden Jahr sind Jürgen Kriz, Stefan Geyerhofer, Angelika Groterath, Peter Hain, Andrea Lanfranchi, Tom Levold, Gisela Osterhold, Susy Signer-Fischer, Liane Stephan und Mohammed El Hachimi. Täglich finden Vorträge, Workshops, Supervisionsgruppen und Podiumsdiskussionen der Referentinnen statt. Die Kosten für die ganze Woche betragen 980,- Sfr./700,- € excl. Anreise, Verpflegung und Unterbringung. Eine schöne Gelegenheit, fachlichen Austausch mit interkultureller Begegnung und Erholung in traumhafter Landschaft zu verbinden. Mehr Informationen gibt es auf der website der Veranstalter…
Lieber Gunthard, eine Sieben vor der Null - das kann man kaum mit Dir in Verbindung bringen. Deine Frische, Zugewandtheit, Fröhlichkeit und Initiative sind nach wie vor bewundernswert, allen Zähnen zum Trotz, die die Zeit uns zeigt. Du hast in den vergangenen Jahrzehnten eine Menge Bäume gepflanzt - Wiesloch kann ein Lied davon singen. Aber auch in der systemischen Szene hast Du vieles gesät, gepflanzt und zum Wachstum beigetragen. Durch Deine integrative und einladende Art hast Du nicht nur schon ganz früh einen wichtigen Anteil an der Verbreitung Systemischen Denkens in der psychotherapeutischen Landschaft geleistet, sondern auch viele Kolleginnen und Kollegen ermuntert, selbst daran mitzuwirken. Als ziemlich junger Kollege habe ich das Anfang der 80er Jahre mehr als zu schätzen gewusst! Gemeinsam mit Fritz Simon hast Du mit dem Carl-Auer-Verlag eine echte Perle geschaffen und (mit einer wunderbaren und inspirierten Crew) zu einem funkelnden Schmuckstück ausgebaut, ohne das das systemische Feld heute bedeutend ärmer wäre. Menschen zu helfen, ohne es an die große Glocke zu hängen, ist immer ein wichtiger Teil Deiner Lebensführung gewesen. Aber die Initiative „Häuser der Hoffnung“, die Du ins Leben gerufen hast, verdient eine viel größere Glocke als sie zur Zeit noch hat! Nicht alle Saat, die Du ausgesät hast, hat Anklang gefunden. Auch ich selbst habe Dir, als es um Bert Hellinger ging, nicht folgen können und wollen, auch wenn ich mich Dir in allen anderen Dingen immer sehr nahe gefühlt hatte. Du hattest viel Kritik einzustecken. Dennoch stand Deine persönliche Integrität für mich jederzeit völlig außer Frage. Am 30. Januar 1993 trafen wir uns auf dem berufspolitischen Tag der DAF und aus meinem Vorschlag, einige systemische Institute einzuladen, um eigene Perspektiven außerhalb der DAF zu entwickeln, ist mit Deiner aktiven Unterstützung ein paar Monate später die Systemische Gesellschaft hervorgegangen - auch dies eine unserer vielfältigen Verbindungen, über die ich mich heute noch sehr freue. Nun wird, im neuen Lebensjahrzehnt, sicher manches schwerer, manches aber hoffentlich auch leichter. Mit Bewunderung habe ich beobachtet, wie Du das von Dir gegründete Wieslocher Institut ohne Nachwehen und Hader Deinen Nachfolgern übergeben konntest - das ist eine Kunst, die wenige beherrschen. Dich zu schonen, so kann man aus der Ferne meinen, könntest Du aber noch perfektionieren, im Sinne eines optimal entspannten Unruhestandes… Lieber Gunthard, unsere Begegnungen waren mir immer eine Freude, ob auf Tagungen, Sitzungen, Verlagstreffen oder beim gemeinsamen Besuch der Zürcher Kunsthalle. Ich wünsche Dir viele gute Ernten aus dem, was Du angepflanzt hast. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Tom
PS: Wer noch ein bisschen über Gunthard Weber erfahren möchte, sei auf das Interview „Leben als Lerngeschichte“ im systemagazin verwiesen, das zu Gunthards 65. Geburtstag erschienen ist…
Unter diesem Titel ist in der letzten Ausgabe des Forums Qualitative Sozialforschung ein Aufsatz von Thorsten Peetz, Karin Lohr & Romy Hilbrich erschienen, der eine Spezifizierung des Management-Begriffs im Kontext einer systemtheoretischen Organisationstheorie vornimmt: "Der Beitrag kritisiert die Verengung des Managementbegriffs auf 'wirtschaftliches' Management. Es wird vorgeschlagen, Management als funktionssystemspezifische Lösung des Koordinationsproblems in Organisationen zu verstehen. Hierfür wird Management im Kontext der Organisationstheorie Niklas Luhmanns in den Strukturdimensionen Programme, Kommunikationswege, Personen und Stellen konzeptualisiert. Am Beispiel des sich wandelnden Managements der Bildungsorganisation Schule wird gezeigt, wie eine derartige Neubeschreibung des Managementbegriffs in der Praxis der empirischen Forschung angewandt werden kann." Zum vollständigen Text…
Dieses spannende Thema hat Ute Müller, Kinder- und Jugendpsychiaterin und systemische Therapeutin, in ihrer Promotionsarbeit untersucht: "In dieser Arbeit wird untersucht, inwieweit die Therapeuten das für ihre Gesundheit selber tun, was ihnen durch ihr fachliches Wissen bekannt ist und was davon sie ihren Patienten empfehlen, wie sie gesundes Verhalten i.S. körperlicher Aktivität in ihren Alltag integrieren, wie sich also umgekehrt die berufliche Eingebundenheit auf ihre Gesundheit auswirkt und wie sie diese einschätzen. Weiter wird nachgefragt, welche Möglichkeiten der privaten oder beruflichen Selbstfürsorge sie praktizieren und wie sie ihre berufliche Ausbildung und jetzige Situation einschätzen und ob sie ihren Beruf wieder wählen würden. Dabei wird herausgearbeitet, ob und inwieweit es einen Unterschied gibt zwischen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, die ja durch das Grundstudium unterschiedlich sozialisiert sind und auch, ob und inwieweit sich die Gruppe der Kindertherapeuten von den Erwachsenentherapeuten unterscheidet. Allen gemeinsam ist die Aufgabe, Psychotherapie zu betreiben als „bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen“, wozu „in der Regel eine tragfähige emotionale Bindung notwendig“ ist (Strotzka, 1975)." Die Arbeit kann hier im Volltext heruntergeladen werden…
Vom 15.-18.9.2010 fand in Heidelberg die 10. wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) unter dem Titel „Vom guten Leben in schwierigen Zeiten“ statt. Rund 900 TeilnehmerInnen fanden sich zu dem Kongress in der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ein, mit dem die VeranstalterInnen vom Heidelberger Helm-Stierlin-Institut (HSI) durchaus ein Wagnis eingegangen waren: Würde es gelingen, mit einem eher untherapeutischen Thema und HauptrednerInnen aus Philosophie, Theologie, Wirtschaft und Politik die systemische Szene zu erreichen und zu interessieren? Matthias Richter hat einen Tagungsbericht verfasst, in dem er diese Frage entschieden bejaht. Zum vollständigen Tagungsbericht…
Von einer spannenden Supervisionssitzung mit Professionellen aus Psychiatrie-Teams berichtet Edelgard Struss in einem Aufsatz für die "sozialpsychiatrischen Informationen", die systemagazin mit freundlicher Genehmigung des Psychiatrie-Verlages in der Systemischen Bibliothek veröffentlicht: "Negative Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen spielen selbst in aufgeklärten und gut ausgebildeten Psychiatrie-Teams eine Rolle. Mitarbeitende aus dem psychiatrischen Feld unterscheiden sich hierin nicht prinzipiell vom Rest der Gesellschaft. Wird ein Kollege oder eine Kollegin psychisch krank, geraten die Teammitglieder im Umgang miteinander in eine eigenartige Zuspitzung. Das Tabu um psychische Krankheit landet dann nämlich auf der operativen Ebene der alltäglichen Arbeit und konfrontiert alle Beteiligten – auch mit sich selbst. Es handelt sich hier um den Versuch, besonders interessante Aspekte und spannende Sequenzen aus einem supervidierten Gruppenprozess zu schildern, in dem die Teilnehmenden psychische Erkrankung von Kollegen oder Kolleginnen zum Thema machten. Um die Dynamik der Sitzung zu veranschaulichen, wird das Geschehen parallel unter zwei Gesichtspunkten geschildert. Zum einen wird von den Arbeitsergebnissen der Teilnehmenden bzw. der Gruppe berichtet. Zum anderen wird das Gruppengeschehen aus einer am ehesten als systemischen-phänomenologisch zu bezeichnenden Perspektive erläutert." Zum vollständigen Text…
Einer der wichtigsten Theoretiker des embodiments, d.h. der Körpergebundenheit aller Erkenntnis und allen Selbst-Erlebens, Shaun Gallagher, hat gemeinsam mit Anthony J. Marcel im Journal of Consciousness Studies 1999 einen Aufsatz veröffentlicht, in dem es um ein Verständnis des Selbst geht, das stärker in sozialen Handlungskontexten verwurzelt ist, als es herkömmliche psychologische und philosophische Ansätze in Erwägung ziehen: "This paper suggests that certain traditional ways of analysing the self start off in situations that are abstract or detached from normal experience, and that the conclusions reached in such approaches are, as a result, inexact or mistaken. The paper raises the question of whether there are more contextualized forms of self- consciousness than those usually appealed to in philosophical or psychological analyses, and whether they can be the basis for a more adequate theoretical approach to the self. First, we develop a distinction between abstract and contextualized actions and intentions by drawing on evidence from studies of rehabilitation after brain damage, and we introduce the notion of intentional attitude. Second, we discuss several interesting conclusions drawn from theoretically and experimentally abstract approaches. These conclusions raise some important issues about both the nature of the self and reflexive consciousness. At the same time they indicate the serious limitations concerning what we can claim about self and self-consciousness within such abstract frameworks. Such limitations motivate the question of whether it is possible to capture a sense of self that is more embedded in contextualized actions. Specifically, our concern is to focus on first-person approaches. We identify two forms of self-consciousness, ecological self-awareness and embedded reflection, that (1) function within the kinds of contextualized activity we have indicated, and (2) can be the basis for a theoretical account of the self. Both forms of self-consciousness are closely tied to action and promise to provide a less abstract basis for developing a theoretical approach to the self." Zum vollständigen Text…
Das neue Heft der "Familiendynamik" schließt thematisch an die Ursprünge systemischer Therapie an, nämlich an die Frage des Umgangs mit und der Einbeziehung von Multipersonenkontexten in einen therapeutischen oder beraterischen Rahmen. Dabei geht es nicht nur um die Einbeziehung von Familienmitgliedern (z.B. Geschwister - auch hierzu gibt es Beiträge) oder um Personen aus der familialen Umwelt, sondern auch um die Rolle von Gruppen und und der Bedeutung von Gruppendynamik für die systemische Perspektive. Oliver König zeichnet in einen brillanten Eingangsbeitrag die inhaltliche und historische Entwicklung des Gegenstandes und der Verfahren von Gruppendynamik und Familiendynamik in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext nach und untersucht Konvergenzen und Konkurrenzen auch in Hinsicht auf die aktuellen Entwicklungen Systemischer Therapie - unbedingt lesenswert. Zu den vollständigen abstracts…
Heute vor 20 Jahren starb Murray Bowen (Foto: familysystemstheory.com), einer der Pioniere der Familientherapie. Ausgebildet als Psychiater und Psychoanalytiker, wurde er mit seinen theoretischen Arbeiten über die Dynamik der Familie bekannt. In den 60er und 70er Jahren spielten seine Überlegungen für viele Familientherapeuten eine Rolle, den meisten systemischen TherapeutInnen dürfte er heute wenig bekannt sein. Von 1978 bis 1982 war er Gründungspräsident der American Family Therapy Association. Im Internet gibt es einen Aufsatz von Larry Fritzlan mit dem Titel "Murray Bowen’s Insights into Family Dynamics" aus dem Jahre 1990, in dem es heißt: "The following article is a modified version of a chapter in the book Family Therapy: An Overview, by Goldenberg and Goldenberg (1990). This article describes the psychiatrist Murray Bowen’s view of family systems and how individuals and families interact. It offers a theoretical perspective of family dynamics. The article has been updated to include the popular term “codependence” as well as the family dynamics often found in families where there are high levels of fusion and/or substance use." Zum vollständigen Text…
Hier eine aktuelle Presseerklärung der DGSF: Eine integrierte, „multimodale“ Behandlung hilft Kindern mit „ADHS-Syndrom“, die Verschreibung von Ritalin sollte bei einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung hingegen eine wohl überlegte Entscheidung der zweiten Wahl sein. Das fordert die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF). Der Fachverband der Familientherapeuten begrüßt die kürzlich durch den Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossenen neuen Vorschriften für die Verordnung von methylphenidathaltigen Medikamenten wie Ritalin. Damit sollte endlich einer vorschnellen und alleinigen Medikamentenverordnung – die verordnete Methylphenidat-Menge ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen – ein Riegel vorgeschoben werden. Von 2005 bis 2009 ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die mit Psychostimulanzien wie Ritalin behandelt wurden, beispielsweise bei den Versicherten der Krankenkasse KKH Allianz, um mehr als die Hälfte gestiegen. Gleichzeitig haben in den vergangenen Jahren Medikamentendosis und Behandlungsdauer zugenommen. Immer mehr Kinder und Jugendliche nutzen also täglich mehr und insgesamt länger Medikamente, um mit die Anforderungen unserer Gesellschaft klar zu kommen. So erfreulich es ist, wenn zunehmend Kindern geholfen werden kann, stimmt es doch bedenklich, dass dazu Medikamente genutzt werden: „Die Ritalin-Vergabe erlebt einen riesigen Anstieg, weil sie vermeintlich immer wieder schnell hilft. Eine weitergehende diagnostische Klärung der Schwierigkeiten unterbleibt dabei oft und alternative Hilfen werden viel zu selten angeboten“, erläutert Björn Enno Hermans, Vorstandsmitglied der DGSF. Der Verband weist darauf hin, dass bei unruhigem und unaufmerksamem Verhalten von Kindern und Jugendlichen eine Vielzahl von möglichen Wechselwirkungen zu beachten sind: in der Familie und in den sie umgebenden Systemen wie beispielweise der Schule. Systemische Familientherapie und Beratung bieten zahlreiche Möglichkeiten, solche Wechselwirkungen zu erkennen und wesentliche Bedingungen für bestimmtes Verhalten in den Beziehungen des Kindes oder des Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Auch neuere Therapieformen, wie zum Beispiel die gleichzeitige Therapie von mehreren Familien (Multifamilientherapie) bieten neue Chancen für die ADHS-Behandlung. Eine einseitig neurophysiologische Ursachenzuschreibung und Behandlung werde dem Phänomen AHDS hingegen nicht gerecht, so Hermans. Die jetzt beschlossene Änderung der Arzneimittel-Richtlinie erfolgt auf dem Hintergrund eines Risikobewertungsverfahren der Europäischen Union für methylphenidathaltige Arzneimittel, das im vergangenen Jahr abgeschlossen wurde. Nach Inkrafttreten der Änderungen darf Ritalin nur noch von „Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen“ verordnet werden, wenn nicht-medikamentöse Therapiemöglichkeiten nicht erfolgreich waren oder eine besonders schwere Störung festzustellen ist. Sie darf nur erfolgen nach einer besonders gründlichen Diagnose. Eine medikamentöse Behandlung sollte jedenfalls immer eingebettet sein in ein therapeutisches Gesamtkonzept, das psychotherapeutische, pädagogische oder soziale Interventionen umfasst: Aufklärung und Beratung von Eltern, Kindern und Lehrern, Elterntraining, Veränderung der Familiensituation oder Veränderungen in der Schule, Psychotherapie/Familientherapie. Ein solches Angebot wird in der sozialpsychiatrischen Versorgung vorgehalten, beispielsweise in systemisch ausgerichteten kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen, in denen multiprofessionelle Teams arbeiten.
Liebe Leserinnen und Leser, auch in diesem Jahr möchte ich wie in den letzten Jahren einen Adventskalender im systemagazin gestalten und Sie herzlich einladen, sich daran zu beteiligen. Systemische Therapie und Beratung hat als ressourcenorientiertes Verfahren vor allem die Fähigkeiten und Kompetenzen der Klientensysteme (seien es Einzelpersonen, Familien, Teams oder Organisationen) im Blick. Lern- und Veränderungsprozesse finden aus dieser Perspektive nicht nur auf der Klientenseite, sondern immer auch auf der Seite der professionellen TherapeutInnen und BeraterInnen statt. Jeder von uns hat also Erfahrungen gemacht, was es heißt, von Klienten zu lernen. Zu lernen, was funktioniert, obwohl man es nicht erwartet hat - oder: was nicht funktioniert, obwohl man damit gerechnet hat. Klientensysteme vermittelt uns Professionellen ein Gefühl für die eigene Bedeutung oder auch: Bedeutungslosigkeit. Immer geht es in Therapie und Beratung um ein Geschehen, das Überraschungen und Lerneffekte für alle Beteiligten bereithält. Von diesen Überraschungen und Lerneffekten ist im persönlichen Kontakt viel, in Lehrbüchern eher weniger die Rede. Es geht hier nämlich mehr um Geschichten und Erlebnisse als um Konzepte und Programme. Um diese Geschichten geht es hier. Im Adventskalender 2010 möchte ich gerne Ihre Geschichten veröffentlichen, in denen Sie von Erlebnissen in Therapie- und Beratungsprozessen (in den unterschiedlichsten Kontexten) erzählen, die Sie in Ihrer eigenen Entwicklung geprägt, berührt oder vorangebracht haben, in denen Sie überrascht, belehrt oder in Ihren eigenen Annahmen korrigiert wurden. Was haben Sie von Ihren Klienten lernen können? Alle Geschichten, die etwas zu erzählen haben, werden auch veröffentlicht (auch wenn es mehr als 24 Beiträge sind). Ich freue mich auf Ihre Einsendungen unter tom.levold@systemagazin.de, nach Möglichkeit bis zum 26.11.2010.
Mönchengladbach, 5. Oktober. Jenseits von Gesundheitsreform und Krankenkassenbeiträgen arbeitet das Gesundheitsministerium derzeit auch an der Überarbeitung des Psychotherapeutengesetzes. Aktuelle Entwürfe sehen vor, Sozialpädagogen von der Psychotherapeuten-Ausbildung nahezu auszuschließen. Damit würde der Beruf einen einseitig psychologischen Zugang bekommen. Sozialberufliche Studiengänge wie Soziale Arbeit, Pädagogik oder Heilpädagogik würden ihren Stellenwert für die Psychotherapeuten-Ausbildung verlieren. „Aus Sozialpädagogen werden im Laufe der Psychotherapieausbildung sehr gute Psychotherapeuten“, sagt dagegen Prof. Dr. Michael Borg-Laufs, der am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein das Lehrgebiet Theorie und Praxis psychosozialer Arbeit mit Kindern innehat. „Die Kehrtwende ist daher überhaupt nicht nachvollziehbar und durch keinerlei empirische Daten gestützt.“ Am 23. Oktober beschäftigt sich eine Fachtagung an der Hochschule Niederrhein mit dem Thema. Ihr Titel: „Perspektiven einer bio-psycho-sozialen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Betrachtungen zur Überarbeitung des Psychotherapeutengesetzes“. Laut der jüngsten Studie von Barbara Beck und Michael Borg-Laufs würden vor allem psychisch kranke Kinder und Jugendliche unter dem Ausschluss von Sozialpädagogen zum Beruf des Psychotherapeuten leiden. Bei ihnen sei der Zusammenhang zwischen Armut und psychischem Leid unbestreitbar. In solchen Fällen müssten sozialwissenschaftliche, sozialisationstheoretische, biografische und pädagogische Aspekte verstärkt in der Therapie berücksichtigt werden. Wenn solche Fachkenntnisse nicht mehr Bestandteil psychotherapeutischer Kompetenzen sind, könne dies negative Folgen für die Betroffenen haben. Psychisches Leid entstehe eben nicht nur aus psychologischen Phänomenen, sondern auch aus sozialen Bedingungen. Zwischen 10 und 15 Uhr wird eine hochkarätig besetzte Expertenrunde zu diesen Themen Stellung beziehen und mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der von der Psychotherapeutenkammer als Fortbildung akkreditierten Tagung diskutieren. Prof. Dr. Silke Gahleitner von der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin wird über „Das bio-psycho-soziale Profil der heutigen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ sprechen. Peter Lehndorfer, Vorstandsmitglied der Bundespsychotherapeutenkammer, informiert über „Perspektiven der Psychotherapieausbildung“. Barbara Beck und Prof. Dr. Michael Borg-Laufs von der Hochschule Niederrhein gehen der Frage nach: „Sind Sozialarbeiter nicht mehr gut genug für die Psychotherapeutenausbildung?“ Und Prof. Dr. Meinrad Armbruster von der Hochschule Magdeburg-Stendhal referiert zum Thema: „Ein oder zwei Berufe? Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie als eigenständiges Berufsbild“. Anschließend gibt es eine Podiumsdiskussion, die von Prof. Dr. Heidi Möller von der Universität Kassel moderiert wird: Perspektiven einer bio-psycho-sozialen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Betrachtungen zur Überarbeitung des Psychotherapeutengesetzes. Eine Fachtagung am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein am 23.10.2010, 10-15 Uhr; Webschulstraße 35, 41065 Mönchengladbach, Raum V1 E02 (Streifenhörsaal). Anmeldung und weitere Informationen
Die Soziologin Kirsten Hohn (Hamburg) und Andreas Hanses, Prof. für Sozialpädagogik in Dresden, haben 2008 im Forum Qualitative Sozialforschung einen Beitrag veröffentlicht, in dem es um die Bedeutung unterschiedlicher Wissensformen (Expertinnenwissen und biografisches Wissen) bei der Bewältigung psychosomatischer Erkrankungen geht: "Die Konstruktion von Wissen und der Umgang mit unterschiedlichen Wissensformen und -trägerInnen werden am Beispiel von Interviews mit Teilnehmerinnen psychosomatischer Nachsorgegruppen im Frauengesundheitszentrum Bremen analysiert. Grundlegend für die Konstruktion von Wissen durch die Frauen sind zum einen die Interaktionen mit professionellen ExpertInnen und die Auseinandersetzung mit deren medizinischem, therapeutischem und pädagogischem Wissen. Zum anderen entstehen diese Konstruktionen auf dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Erfahrungen und biografischer Konzepte sowie im Zusammenhang mit den interaktiven und kollektiven Erfahrungen im Rahmen der psychosomatischen Nachsorgegruppen. Während gegenüber dem durch ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen vermittelten Wissen eine mehr oder weniger große Distanz bzw. Ablehnung seitens der Frauen besteht, zeichnet sich das u.a. kollektiv erzeugte Erfahrungswissen durch seine biografische Anschlussfähigkeit aus. Bedeutsam sind hier die kollektiven therapeutischen Prozesse und der Austausch und die (Re-) Konstruktion von Erfahrungen v.a. in Bezug auf sexualisierte Gewalt und problematische Beziehungssituationen." Zum vollständigen Text…