Klassiker | ||||
Stierlin, Helm Psychoanalyse - Familientherapie - Systemische Therapie. Entwicklungslinien, Schnittstellen, Unterschiede |
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Verlag Klett-Cotta Günter Reich, Göttingen: Erfreulicherweise hat sich der Klett-Cotta-Verlag entschieden, diesen Klassiker der Familientherapie, der familiendynamische Diskussion und die Entwicklung der Familientherapie in Deutschland wesentlich anregte und mitbestimmte, neu und in erweiterter Form herauszubringen. 1975 war ein großer Teil der auch im jetzigen Band versammelten Aufsätze unter dem damals zukunftsweisenden Titel „Von der Psychoanalyse zur Familientherapie. Theorie, Klinik“ erschienen. Zwischenzeitlich war das Buch auch als dtv-Taschenbuch erhältlich. Dieses Buch spannt einen weiten Bogen in der Entwicklung der Psychotherapie von den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute. Es beschreibt zugleich die Stationen der theoretischen und therapeutischen Auseinandersetzungen eines der bedeutendsten deutschen Familienforschers, -theoretikers und -therapeuten. Zwei der im ursprünglichen Buch enthaltenen Kapitel sind in der neuen Ausgabe entfallen, das Kapitel über „Psychoanalytische Ansätze zum Schizophrenie-Verständnis im Lichte eines Familienmodells“ sowie das Kapitel „Auf dem Wege zu einer Mehrgenerationen-Therapie“. Neu hinzugekommen sind Ausführungen zu den Themen „Überlegungen zu Übertragung und Beziehung“, zur Rolle der Diagnostik in der systemischen Psychotherapie, zur Bedeutung der Ressourcen im System und zum systemischen Zugang zum „Rätsel Schizophrenie“. Mit letzterem haben wir zugleich den roten Faden in der Hand, der sich durch das Werk und wohl auch die praktisch-therapeutische Tätigkeit von Helm Stierlin vom Anfang seines Schaffens bis heute zieht. Die Begegnung von Existentialismus und Psychotherapie, der das erste Kapitel in dem vorliegenden wie dem früheren Band gewidmet ist, ist gleichsam der Auftakt zu einer immer intensiver werdenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen Psychose, wobei sich Stierlin vom existentialphilosophischen Zugang seiner philosophischen Lehrer zunehmend abgrenzt, sich dabei zunächst den psychoanalytischen Verstehensweisen zuwendend. Von Anfang an erscheint dabei die konzeptuelle Entwicklung durch die Auseinandersetzung mit den diese jeweils vertretenden Personen geprägt, sei es mit den frühen psychoanalytischen Ansätzen in der Chestnut Lodge Clinic, die Auseinandersetzung mit Harry Stack Sullivan und seinem interpersonellen Ansatz sowie mit weiteren Pionieren der Familientherapie und systemischen Therapie wie Murray Bowen, Ivan Boszormenyi-Nagy, Gregory Bateson und Mara Selvini Palazzoli. Beim Lesen der Arbeiten taucht man gleichzeitig in die jeweils zeitgenössische Auseinandersetzung mit Verstehenskonzepten für schwere seelische Erkrankungen und den daraus folgenden therapeutischen Konsequenzen ein. Man spürt das jeweilige Ringen um neue Positionen. Am Ende, wohl besser gesagt, am vorläufigen Ende, steht für Helm Stierlin nun die systemische Perspektive und Therapie in ihren verschiedenen Metamorphosen. Zugleich wird deutlich, von welcher Aktualität viele diese Auseinandersetzungen für die heute zu beobachtenden Entwicklungen, insbesondere die Entwicklungen hin zu einseitig biologischen und lediglich psychoedukativen Konzepten in der Behandlung schwerer seelischer Erkrankungen, sind, drohen doch beziehungsdynamische Aspekte zusehends hinter den genannten Ansätzen zu verschwinden. Gerade hier zeigt der Sam-melband die Reichhaltigkeit familiendynamischen Denkens und ihre überaus wichtige Bedeutung für das Verständnis und die Veränderung interpersoneller Transaktionsmuster. Von besonderer klinischer Relevanz erscheinen mir dabei die Arbeiten über die „Anpassung an die Realität der ‚stärkeren Persönlichkeit’ “, die zur „Funktion innerer Objekte“, die Arbeit zu Familienmythen und zu Scham- und Schuldgefühlen in der familiären Entwicklung. Klarsichtig und einleuchtend vermag Helm Stierlin hier motivierende Kräfte in menschlichen Systemen zu beschreiben und Wege zu möglichen Veränderungen aufzuzeigen. Die neu hinzugekommenen Abschnitte zur systemischen Therapie sind ebenfalls interessant und klinisch bedeutsam. Mich sprachen insbesondere die Abschnitte zu den Ressourcen im System und zum systemischen Zugang zur Schizophrenie an. Auch war es erfrischend zu lesen, wie unbefangen ein Altmeister der systemischen und Familientherapie mit den Fragen der Diagnostik umgeht. So kann er z. B. beschreiben, welche Vorteile die vor einigen Jahren neu eingeführte Diagnose der schizo-affektiven Störung auch für die systemische Erfassung familiärer Prozesse hat. Als Psychoanalytiker sehe ich eher kritisch, daß der Autor leider nicht auf neuere, interpersonell orientierte Theorie- und Forschungsansätze in der Psychoanalyse eingeht, namentlich auf die äußerst bedeutsamen Arbeiten von Daniel N. Stern und Joseph D. Lichtenberg, zudem nicht auf die neueren interpersonellen Theorieansätze und die entsprechenden Konzeptionen von Übertragung und Gegenübertragung. Hier eröffnen sich m. E. sehr fruchtbare Felder für den weiteren Dialog zwischen psychodynamisch und systemisch orientierten Therapeuten. Insgesamt ist es eine Freude, Helm Stierlin (wieder) zu lesen. Bestechend sind seine intellektuelle Brillanz, sein klarer Stil und die Reichhaltigkeit seines philosophischen, familientheoretischen, systemischen und therapeutischen Wissens. Die jetzt erschienene Ausgabe des Buches ist immer noch bzw. wieder ein Gewinn für Familientherapeuten und systemische Therapeuten. (Mit freundlicher Genehmigung aus Kontext) Verlagsinformation: Das Werk geht bis an die Wurzeln der gegenwärtigen Therapieformen zurück, und der Leser erkennt die Entwicklungslinien von den Anfängen bis zum heutigen Tag. In Deutschland ist es vor allem Helm Stierlin gewesen, der vor mehr als einem Vierteljahrhundert die Ideen der Psychoanalyse konsequent auf die Familiendynamik übertragen hat und dadurch ganz entscheidend mithalf, die Familientherapie hier als eigenes Konzept zu etablieren. Ausgebildet bei Karl Jaspers, Alexander Mitscherlich und Viktor von Weizsäcker hat Stierlin lange in den USA gearbeitet, wo er mit dieser neuen Richtung in Berührung kam. Erstmals dokumentierte er diese Entwicklung im Jahre 1975 in dem Buch »Von der Psychoanalyse zur Familientherapie«, und bald wurde klar, daß das, was im Laufe der Jahrzehnte aus der Beschäftigung mit dem familiären Umfeld des Patienten geworden war, nur noch wenig Ähnlichkeit mit Psychoanalyse aufwies, sondern daß es zu einer völlig neuen Orientierung sowohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht gekommen war. In den letzten Jahrzehnten ist es in der Familientherapie zu einer Erweiterung des Gesichtsfeldes über die Familie hinaus zur Betrachtung des gesamten »Systems« gekommen, und in Verbindung mit der Übernahme von Erkenntnissen aus der modernen Kommunikationswissenschaft ist das entstanden, was wir heute systemische Therapie nennen. Stierlin verfolgt in dem vorliegenden Werk die genannten Entwicklungslinien bis zu ihren Ursprüngen zurück, wodurch heutige systemisch arbeitende Therapeuten die Wurzeln ihrer Theorie erkennen und verstehen lernen. Zahlreiche Fallvignetten sorgen für eine hohe Praxisnähe, so daß das Werk nicht nur für Ärzte und Psychotherapeuten, sondern auch für Sozialarbeiter, Eheberater und Pädagogen bedeutsam ist. Inhalt: I. Anstoß zur Familientherapie. Das Problem der Schizophrenie 1 Die Begegnung von Existenzialismus und Psychotherapie 2 Bleulers Begriff der Schizophrenie. Ein verwirrendes Erbe 3 Die Anpassung an die Realität der »stärkeren Persönlichkeit«. Einige Aspekte der symbiotischen Beziehung des Schizophrenen 4 Hölderlins dichterisches Schaffen im Lichte seiner schizophrenen Psychose 5 Die Objektbeziehung im Lebenslauf eines schizophrenen Vierlings 6 Die Funktion innerer Objekte II. Familiendynamik und Trennungsprozesse 7 Die Gestaltung und Übermittlung des Wahns in der Familie 8 Wie sehen Eltern ihre sich von ihnen lösenden Kinder? Vorstellungen als formende Kräfte 9 Gruppenphantasien und Familienmythen: Theoretische und therapeutische Aspekte 10 Scham- und Schuldgefühle in der Familienbeziehung: Theoretische und klinische Aspekte III. Zur Theorie und Praxis der Familientherapie 11 Familientherapie mit Adoleszenten im Lichte des Trennungsprozesses 12 Die Gegenübertragung in der Familientherapie mit Adoleszenten 13 Überlegungen zu Übertragung und Beziehung 14 Welche Rolle spielt die Diagnostik in der systemischen Psychotherapie? 15 Ressourcen - die Kräfte des Systems 16 Ein systematischer Zugang zum Rätsel Schizophrenie Über den Autor: Prof. Dr. med. et phil., Psychoanalytiker und Familientherapeut. War von 1974 bis 1991 Ärztlicher Direktor der Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Er verfaßte über 200 wissenschaftliche Artikel und 13 Bücher, die insgesamt in 13 Sprachen übersetzt worden sind. |