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Klassiker zur Übersicht
Ruesch, Juergen u. Bateson, Gregory
Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie
Ruesch Bateson Kommunikation Carl-Auer-Verlag, Heidelberg, 1991

(Originalausgabe 1951: Communication. The Social Matrix of Psychiatry. Neuauflagen 1967, 1987, W.W. Norton)

348 S., kartoniert

Preis: 30,90 €
ISBN 10: 3-927809-40-3
ISBN 13: 978-3-927809-40-6
Carl-Auer Verlag





Hinweis: Der nachfolgende Beitrag von Fritz B. Simon ist 2005  im von Dirk Baecker herausgegebenen Sammelband "Schlüsselwerke der Systemtheorie" beim Verlag für Sozialwissenschaften erschienen, dem hiermit ganz herzlich für die Erlaubnis zur Veröffentlichung gedankt sei. Zur Rezension dieses Bandes im systemagazin kommen Sie hier…


Fritz B. Simon, Berlin:

Vorbemerkung
Woran erkennt man, dass ein Text revolutionär ist? An seinem Inhalt? An seiner Rezeption? - zur Zeit seines Erscheinens? - in der Folge? - heute? Können Revolutionen stattfinden, ohne dass die Öffentlichkeit es merkt?
Das sind Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man das Buch von Juergen Ruesch und Gregory Bateson heute liest. Es ist von einer geradezu unglaublichen Aktualität. Viele der formalen Konzepte, die in späteren Jahren die Entwicklung von Kybernetik und Systemtheorie bestimmten, sind bereits thematisiert – manchmal nur angerissen, in anderen Fällen weitgehend ausgearbeitet. Ja, sogar Fragen und Konflikte, die in letzter Zeit auf der politischen Bühne diskutiert und ausgefochten wurden – der Unterschied zwischen den im “alten” Europa und in den “jungen” USA handlungsleitenden Werten – werden in einer seither unerreichten Klarheit beschrieben und analysiert.  

Paradigmawechsel
Revolutionär ist aus heutiger Sicht, dass in den unterschiedlichen Kapiteln dieses Buches ein radikaler Paradigmawechsel vorgenommen wird.  Vordergründig gilt dies der Psychiatrie, wie der Untertitel verspricht, hintergründig wird ein die traditionellen Grenzen der Disziplinen überschreitendes Modell der Humanwissenschaften entwickelt, durch das die alteuropäische Unterscheidung zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften auf der einen Seite und Naturwissenschaften auf der anderen Seite aufgehoben wird. Sie werden als unterschiedliche Konkretisierungsformen eines weit abstrakteren Paradigmas – der Kommunikationstheorie – angesehen. Was physische, psychische und soziale Prozesse miteinander verbindet, ist, dass sie als Kommunikationsprozesse beobachtet und erklärt werden können. “Geist und Natur” erweisen sich so als “notwendige Einheit” – wie Gregory Bateson 28 Jahre später sein letztes Buch denn auch explizit und programmatisch benennen sollte. In “Communication” werden die dafür grundlegenden erkenntnistheoretischen und philosophischen Überlegungen bereits entwickelt, wenn auch nicht als Paradigmawechsel gekennzeichnet.

Die Autoren
Das Buch ist das Ergebnis einer zweijährigen Zusammenarbeit (von 1948 bis 1950) eines klinisch arbeitenden und forschenden Psychiaters und eines Anthropologen, der lange Jahre Feldforschung in Neuguinea und Bali betrieben hatte. Die unterschiedliche professionelle Sozialisation der beiden Autoren dürfte für die Transdisziplinarität ihres  Ansatzes mitverantwortlich gewesen sein; dass sie sich auch der Frage nach den Unterschieden zwischen der europäischen und US-amerikanischen Kultur widmeten, hat vermutlich nicht nur mit der Tatsache zu tun, dass Bateson den überwiegenden Teil seines aktiven Berufslebens bis dahin als Kulturanthropologe verbracht hatte, sondern auch mit dem Umstand, dass hier zwei Europäer, die in Amerika lebten und arbeiteten, eine verbindende Perspektive finden konnten.
Juergen Ruesch, geboren in der Schweiz, lehrte als Professor für Psychiatrie an der California School of Medicine und leitete als Direktor die Sozialpsychiatrische Sektion des Langley Porter Neuropsychiatric Institute in San Francisco.
Gregory Bateson, geboren in England, in Cambridge zum Zoologen ausgebildet, hatte 1936 eine der einflußreichsten Studien der anthropologischen Feldforschung publiziert. In seinem Buch “Naven” über ein Ritual der Iatmul,  eines kopfjagenden Stammes in Neuguinea, hatte er analysiert, wie das Verhalten und die Beziehungsmuster zwischen Individuen wie auch zwischen soziale Einheiten (z.B. Dorfgemeinschaften) durch den kulturellen Kontext geregelt wird. Neben der sorgfältigen Deskription lieferte Bateson dabei wichtige Bausteine für die Theorieentwicklung, indem er Strukturbildung und Funktion sozialer Prozesse konsequent aufeinander bezog. Das Konzept der “Schismogenese”, das später zentral für die Kommunikationstheorie wurde, um generell soziale Differenzierungsprozesse zu erklären, wurde hier erstmals entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Bateson einer der Akteure bei den multidisziplinären Macy Konferenzen zur Kybernetik (1946 – 1953), die – wissenschaftsgeschichtlich betrachtet – der Entwicklung von System-, Informations- und Kommunikationstheorie entscheidende Anstöße vermittelten.  

Soziale Matrix
Für den ersten Teil des Buches zeichnet Juergen Ruesch verantwortlich. Er legt in seinem Einführungskapitel die Programmatik des gemeinsamen Projektes dar: In der Vergangenheit beschäftigten sich Persönlichkeitstheorien mit  einem einzigen Individuum, während es “heutzutage” (d.h. 1950/51) deutlich sei, dass dies wenig Nutzen bringe. Notwendig sei es, den Einzelnen in seiner sozialen Situation zu sehen. Es bedürfe einer einheitlichen Kommunikationstheorie, die Ereignisse erfasst, die das Individuum mit einem anderen Individuum verbinden, mit der Gruppe, mit der Kultur und schließlich mit Ereignissen von weltweiter Bedeutung.
Abgeleitet ist diese Fragestellung aus der Praxis des Psychotherapeuten (was damals offenbar von Ruesch und Bateson mit “Psychiater” gleichgesetzt wurde, aber heute, nach der biologischen Wende der akademischen Psychiatrie keineswegs dem Main-Stream des psychiatrischen Selbstverständnisses entspricht – nicht mehr und noch nicht wieder). In der Psychotherapie treffen zwei Personen aufeinander, die beide “Teile” eines größeren “Ganzen” sind: eines übergeordneten sozialen Systems. Mit dem Begriff der “sozialen Matrix” beziehen sich die Autoren auf diesen sozialen Kontext oder Rahmen, der es Beobachtern überhaupt erst ermöglicht, den Ereignissen Bedeutungen zu geben. Um die unterschiedlichen Aspekte menschlichen Verhaltens zu verstehen, schlagen sie den Interpretationsrahmen Kommunikation vor, weil er das einzige wissenschaftliches Modell sei, das sowohl physische wie interpersonelle als auch kulturelle Ereignisse in ein einziges, konsistentes theoretisches System zu integrieren erlaubt.  
Die Phänomene, die von der traditionellen Psychopathologie beschrieben werden, lassen sich so als Kommunikationsstörungen erklären. Was als Störung definiert ist, ist von der Kultur abhängig, in der das jeweilige “gestörte” Verhalten gezeigt wird. Da das zeitgenössische psychiatrische Denken (der 40er/50er Jahre) aus Europa nach Amerika importiert wurde, muss es modifiziert werden, um dem amerikanischen System der Kommunikation und seinen Folgen für die psychiatrische Praxis und Theorie gerecht zu werden.

Zirkuläre Prozessmuster als Werte
Um dieses Vorhaben durchführen zu können, erweitern die Autoren zunächst unter Missachtung aller akademischen Disziplingrenzen ihren Beobachtungsrahmen über das Individuum hinaus und “in” es hinein. Sie interpretieren nicht nur das Verhalten eines Individuums als Element von Kommunikation, sondern sie erklären darüber hinaus seine Psychodynamik sowie die biologischen Prozesse des Organismus als Netzwerke von Kommunikationen.
Was diese Bereiche und die Ereignisse, die ihnen zugeordnet werden können, miteinander verbindet, sind abstrakte Prozessmuster, die zirkulär organisiert sind, sich wiederholen und sich so stabilisieren. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Reiz und Reaktion, durch die der Beobachter traditionellerweise solche zirkulären Prozesse in die Form einer geradlinigen Kausalität bringt, kann bei der Untersuchung von Kommunikationsmustern nicht vollzogen werden. Daher betrachten Ruesch und Bateson die Einheit aus Reiz und Reaktion und nennen sie “Wert”. Werte sind für sie daher, sehr umfassend, bevorzugte Weisen der Kommunikation und des Bezogenseins. In diesem Sinne können nun Kulturen auf ihre Werte hin verglichen werden, Gruppen oder andere soziale Systeme, aber auch Individuen, d.h. ihre intraindividuellen Kommunikationsmuster, seien sie nun biologisch definiert als neuronale Aktivitäten oder psychisch als Kommunikation zwischen verschiedenen Elementen der Psyche.

Intrapersonale und interpersonale Kommunikation
In ihrer Konzeption psychischer Prozesse als intrapersonale Kommunikation zeigt sich eine weitgehende Orientierung der beiden Autoren an originär psychoanalytischen Modellen. Allerdings verlassen sie, und das ist der entscheidende Schritt, in ihren Erklärungen die traditionellen energetischen Modelle und wenden sich konsequent einem kommunikationstheoretischen Ansatz zu.
Intrapersonale Kommunikation wird so zum Spezialfall der interpersonalen Kommunikation, nur dass nicht zwischen realen äußeren Personen kommuniziert wird, sondern zwischen imaginären Entitäten, die den kondensierten Niederschlag früherer Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen bilden: internalisierte Repräsentanten von Kommunikationsteilnehmern bzw. den Mustern der Kommunikation zwischen ihnen.

Der kulturelle Kontext
Der Erfahrungsbereich der Psychotherapie bietet sich als Zugang zu interdisziplinären Fragestellungen an, da sich die symptomatischen Verhaltensweisen von Patienten letztlich immer biologisch, psychologisch oder auch soziologisch erklären lassen. Das Verhalten eines Individuums ist stets von körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen bestimmt und es lässt sich auf Muster in diesen drei Phänomenbereichen hin beobachten. Dass Ruesch und Bateson zu ihrer Form der Zusammenarbeit finden konnten, hat wohl damit zu tun, dass Psychiater und Anthropologen, die Feldforschung in fremden Kulturen betreiben, dem selben Untersuchungsmuster folgen. Sie beobachten und beschreiben von den gewohnten Erwartungen abweichendes Verhalten: einmal das von Individuen, das andere Mal das von sozialen Einheiten. Abweichend ist es natürlich immer nur, wenn man es an dem stillschweigend als “normal” vorausgesetzten Verhalten misst, und das ist in beiden Fällen das der eigenen Kultur. Psychiatrische Patienten zeigen ein überraschendes, in seiner Sinnhaftigkeit für den durchschnittlichen  Europäer oder Amerikaner nicht auf den ersten Blick oder auch gar nicht verstehbares Verhalten, und ähnlich unverstehbar verhalten sich die Stämme von Kopfjägern in Neuguinea. Erst die Abweichung von der Erwartung und das Nicht-Verstehen eröffnet in beiden Fällen die reflexive Einsicht, dass ein “selbstverständlich erwartetes” und “verstandenes”  Verhalten sich nicht von selbst versteht und der Erklärung bedarf. So eröffnet die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Verrücktheit erst die Frage nach denen der “Normalität”, und die Frage nach den Entstehungsbedingungen fremder Kulturen, lenkt den Blick auf die eigene Kultur.

Kybernetik 2. Ordnung und Radikaler Konstruktivismus
Unter den konzeptuellen Neuerungen, die bereits von Ruesch und Bateson ausformuliert wurden, war die Problematisierung der Rolle des Beobachters. Es ist ein Thema, das erst später in den Fokus der Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit kam und heute mit den Namen anderer Autoren verbunden wird, die allerdings meist – wie z.B. Heinz von Foerster – ebenfalls Teilnehmer der Macy-Konferenzen waren. Was einmal unter den Etiketten Kybernetik 2. Ordnung und Radikaler Konstruktivismus gehandelt werden sollte, ist hier bereits angesprochen und klar formuliert. Dass der  Beobachter in zwischenmenschlichen Beziehungen keinerlei Zugang zu den intrapsychischen Prozessen anderer Menschen hat, dass alles, was er über sie sagen kann, nur seine Interpretationen und Folgerungen aus dessen Verhalten sind, dass er durch seine Beobachtung das verändert und beeinflusst, was er beobachtet usw.
Wenn man dies alles berücksichtigt, so die Argumentation, dann ist die Rolle des Beobachters in der Psychiatrie, speziell in der Psychiatrie-Theorie, nur unzureichend reflektiert. Auch der Psychiater kann seine Patienten immer nur von außen beobachten. Was immer er über den Patienten sagt, ist eigentlich immer eine Aussage über die Kommunikation zwischen ihm und seinem Patienten, und die ist weitgehend vom sozialen Kontext bestimmt.
Eines der Probleme der Psychiatrie ist darüber hinaus, dass dieselben Phänomene mit einer Vielzahl von Namen belegt werden und sie bzw. ihre Vertreter ständig die Abstraktions- und Systemebene wechseln, wenn sie über ihre Patienten sprechen. Dasselbe kann über die jeweils konstruierten Erklärungen für die beobachtbaren Phänomene gesagt werden. Sie bilden gewissermaßen eine Art anthropologisches Museum historischer philosophischer, wissenschaftlicher und religiöser Weltbilder. Daraus ergibt sich für die Autoren die Notwendigkeit einer “vereinheitlichten Feldtheorie”, die es ermöglicht, ein die verschiedenen wissenschaftliche Universen vereinigendes Begriffssystem zu erstellen. Gesundheits- und Krankheitskonzepte sowie die daraus abgeleiteten therapeutischen Methoden beschäftigen sich dann in erster Linie mit den funktionellen Beziehungen eines “Systems von Ereignissen” und dem Feld, in dem sie sich ereignen.
Die grundlegenden Anforderungen, die sie an die “Konstruktion” einer psychiatrischen Theorie stellen, sind: ”... that it be circular, that it have the characteristics of self-correction, that it satisfactorily solve the problem of part and whole function, and that it clearly define the position of the observer and therefore state the influence of the observer upon that which ist observed and vice versa" (p.79).
Psychopathologie ist dann als Kommunikationsphänomen zu erklären. Ein Ansatz, der auch heute – wissenschaftstheoretisch gesehen – nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.

Amerikanische Werte
Dreh- und Angelpunkt, um den sich das amerikanische Leben und die alltägliche Kommunikation organisiert, sind Werte, die sich aus der Geschichte der Immigration und der Besiedlung, die immer auch eine Emigration war, ergeben haben. Ihre vielfältigen Prämissen sind puritanisch und von Pioniergeist geprägt. Die meisten Einwanderer hatten entweder ein politisches System oder eine Familie verlassen, in der sie unterdrückt wurden. Daher wird das Prinzip der “Gleichheit” zu einem hohen Wert. Das führt zu Widersprüchen und Paradoxien. Aufgelöst werden sie wie beispielhaft beim Geschworenengericht, indem einer Gruppe von Gleichen eine funktionelle Autorität gegeben wird. Ganz allegemein scheint dies ein durchgängiges Prinzip: Gremien und Steuergruppen wird Autorität zugewiesen, was zum einen dem Prinzip der Gleichheit der Individuen Rechnung trägt, zum anderen aber die Funktionalität von Autorität nutzbar macht.
Dass in den USA die größten denkbaren Unterschiede und Ungleichheiten im Blick auf Wohlstand, Position und Macht zu beobachten sind (wohlgemerkt: schon 1950  - aber heute noch in weit stärkerem Maße, wenn man den Statistiken glauben darf), ohne dass es zu öffentlichen Unruhen kommt, lässt sich nach Ansicht der Autoren damit erklären, dass Gleichheit immer nur als Gleichheit der Möglichkeiten verstanden wird (was, aus heutiger Sicht und von außen betrachtet, ein Mythos ist).
Der hohe Wert, der Gleichheit zugemessen wird, führt aber auch dazu, dass intellektuelle oder künstlerische Leistungen vom Durchschnittsamerikaner mit Misstrauen betrachtet werden: ”Thinking as well as artistic expression is only tolerated along conventional lines. Original and new contributions are either floured or totally ignored” (p. 104). Dasselbe gilt für die politische Arena, wo Denker und Theoretiker, auch wenn sie herausragende Wissenschaftler sind, verdächtigt werden, subversiv tätig zu sein ( – diese  Feststellung bezieht sich auf die Kommunistenhatz zu Beginn der 50er Jahre, scheint aber im Rahmen der allgemeinen Terrorangst auch 50 Jahre später wieder an Aktualität zu gewinnen).
Den zweiten zentrale Wert nennen Ruesch und Bateson “Sociality” und sie bezeichnen damit die Tendenz, Gruppen zu bilden, “Geselligkeit” als Relikt des “Herdeninstinkts”. Mit anderen zusammen zu sein, ist Selbstzweck und bedarf keiner weiteren Begründung. Während in Europa Individuen oft wie Objekte betrachtet und behandelt werden, wird in den USA der Einzelne unabhängig von seinem Job oder seiner hierarchischen Stellung als unverwechselbares Individuum behandelt, das eine Familie hat, das leben will und bestimmte Bedürfnisse hat, die befriedigt werden müssen. Deswegen wird auch keine Mühe gescheut, wenn es darum geht, Notfalldienste einzurichten, Lebensretter an öffentlichen Stränden zu postieren oder im Kriegsfall medizinische Dienste von unvergleichlich hoher Qualität zu installieren.
Jede Person ist Repräsentant der Gruppe, zu der er gehört, und wer ihn beleidigt, beleidigt die Gruppe. Beide haben wechselseitig füreinander Verantwortung. Der Amerikaner akzeptiert die Gruppenentscheidung und ihre Autorität. Von früher Kindheit an hat er trainiert, sich in Sportteams oder die Organisation anderer Gruppen einzufügen. Daher genügt es ihm nicht, wie in einem patriarchalen System, sich mit dem jeweiligen Oberhaupt gut zu stellen, sondern er muss im System der Gleichen vielen Gefallen. Dies erzeugt einen hohen Konformitätsdruck. Doch der ist eher auf oberflächliche, freundliche Anpassung geringer emotionaler Intensität gerichtet, tiefes Engagement wird vermieden, und die Bereitschaft, sich aus solchen Beziehungen auch wieder zu lösen, ist groß.
Dieser freundlich-zugewandte Kommunikationsstil wird von Nicht-Amerikanern oft als persönliches Interesse missverstanden, obwohl sie nur als Einladung gemeint sind, sich frei an einem Zusammentreffen zu beteiligen. Auf der Gegenseite wird die Zurückhaltung des Ausländers, nicht gleichermaßen freundliche Signale zu senden, von Amerikanern oft als Arroganz gedeutet.
Das Zusammentreffen von Amerikanern und Europäern ist also von gegenseitigem Nicht-Verstehen geprägt. Das bezieht sich auch auf die Beziehung des Einzelnen zur Gruppe: Der Amerikaner ist sich seines Status innerhalb einer Gruppe sehr bewusst und nimmt den Status seiner Gruppe im Verhältnis zu anderen Gruppen weniger wahr, beim Europäer ist es umgekehrt. Da der Amerikaner die Gruppe bei Bedarf wechseln kann, steht für ihn sein individueller Status im Vordergrund. Wenn er die Spitze erreicht hat, kann er sich einen mit mehr Prestige versehenen Bezugsrahmen suchen. Das ist es, was “Soziale Mobilität” genannt wird.
Der dritte zentrale Wert ist “Erfolg”.  Wer Erfolg hat, wird von seinen Mitbürgern anerkannt und respektiert, d.h. er hat auch das Recht, sich selbst zu respektieren und wertvoll zu fühlen. Erfolg ist die Grundlage des sozialen Status, und er wird quantitativ definiert. Da die Herkunft der Einwanderer so verschieden war, blieb nur die quantitative Bewertung als gemeinsamer Nenner: der in Geld messbare, ökonomische Erfolg. Das Prestige eines Individuums steigt mit seinen Einkünften. Dabei nährt der Erfolg den Erfolg – ein selbstverstärkender Prozess.
Diese zwanghafte Orientierung an quantifizierbaren Maßstäben führt dazu, das Maximierung in den USA ein höherer Wert als Optimierung zu sein scheint. Die Notwendigkeit der Maximierung prägt bereits die Kindheit, da amerikanische Eltern von ihren Kindern verlangen, “heavier, bigger, stronger, and smarter than other babies” zu sein. Liebe und Zuneigung wird davon abhängig gemacht.
Der vierte, die amerikanische Kultur prägende Wert ist “Wandel”. Veränderung wird stillschweigend mit Fortschritt gleich gesetzt. Die Frage “Warum?” stellt sich daher für diese Kultur der Ingenieure nicht, sondern nur die Frage “Wie?” Angewandte Wissenschaft triumphiert über Grundlagenwissenschaft und Kunst, und Handeln ist höher bewertet als Denken und Fühlen.

Amerikanische Perspektiven
Die Konstruktion von Raum und Zeit im Weltbild der Durchschnittsamerikaner weisen Besonderheiten auf, die in einen engen Zusammenhang mit den skizzierten Werten gebracht werden können. ”In America, things are big” (p. 136).
Das amerikanische Bedürfnis nach Ausdehnung zeigt sich nicht nur in der Dimension der Hochhäuser, sondern auch in der Gestaltung der Objekte des täglichen Gebrauchs: von den Kühlschränken bis zu den Autos, die oft überdimsioniert erscheinen. Doch dieses Bedürfnis gerät offensichtlich mit einem anderen Bedürfnis in Konflikt: dem Bestreben, ökonomischen Prinzipien gerecht zu werden.  Das führt dann dazu, dass beispielsweise die Zimmer in den riesigen Häusern sich als kleine Verschläge erweisen. Man hat einen Rasen vor dem Haus, eine Terrasse, aber keinen Blick und keine Fernsicht.  Irgendwie scheint der weite Blick als bedrohlich erlebt zu werden. Wenn man ein Haus betritt, so steht man gleich im Wohnzimmer, weil eine Eingangshalle als Verschwendung erscheint
Generell scheinen in der Architektur die Übergänge abrupt, wie dies auch im Verhalten des Einzelnen zu beobachten ist. Man wechselt den Job oder den Wohnort von einem Moment zum anderen, ohne Vorankündigung, oder man verlässt nach einem langen Gespräch unvermittelt das gemeinsame Essen und murmelt lediglich ”Please excuse me”.
Die zeitliche Orientierung ist auf die Zukunft gerichtet, und die Zukunft, so die allgemeine Überzeugung, wird besser sein als die Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht von Interesse, weil sie sowieso nicht mehr zu ändern ist. Nur die Zukunft ist noch zu beeinflussen. Daher fühlen Amerikaner keinerlei Verpflichtungen, irgendwelche aus der Vergangenheit stammenden Aufgaben zu erfüllen oder Traditionen zu wahren. Jede Generation ist frei zu tun, was ihr richtig erscheint.
Dies hat sicher mit der Geschichte der Einwanderung zu tun, die ja für alle mit einem Bruch von Traditionen verbunden war, der in der Regel als Akt der Befreiung verstanden wurde. Und die Konzentration auf Gegenwart und Zukunft war überlebenswichtig.
”Time is money” und die Orientierung an der Zukunft gilt auch für die Psychotherapie. Der Gegensatz zu Europa, wo der Beschäftigung mit der Vergangenheit stets eine hohe Bedeutung zugemessen wurde, ist offensichtlich.
Was die Denkstrukturen der Amerikaner betrifft, so fällt auf, dass sie sich eher mit konkreten Fragestellungen als mit Abstraktionen beschäftigen. Daher lieben sie es zu messen. Um dies tun zu können, müssen kleine Details, kleine “Gestalten” isoliert werden. Nur im Blick auf die Zukunft bevorzugen sie große Gestalten. Das, was existiert, wird in kleine Stücke zerbrochen, das, was noch nicht existiert, wird großzügig und überdimensioniert dargestellt. Grundlagenprobleme werden in den Wissenschaften vernachlässigt, während Fragen der konkreten Anwendung im Vordergrund stehen.
Während in Europa komplexe Denkgebäude existieren können, ohne jemals einem Realitätstest unterzogen zu werden, geht es in Amerika immer um Handlungskonsequenzen. Damit verbunden ist in der Fokussierung der Aufmerksamkeit eine klare Präferenz für Prozesse im Gegensatz zu Strukturen zu beobachten.
Was die unterschiedliche Emotionalität in den USA und Europa angeht, so herrscht in Amerika ein konstanter Alarmzustand: ”...anxiety becomes almost institutionalized” (p.145). Da Wandel vorausgesetzt und erwartet wird, ist es auch angemessen, ständig bereit zu Kampf und Aktion zu sein. Das ist in Europa anders, da die Strukturen als zuverlässig erlebt werden und nicht ständig “action” nötig ist. Ziel ist hier nicht die ständige Veränderung, sondern die Verfeinerung des bereits Existierenden. Der Europäer hat daher ein komplexeres inneres Leben, sowohl was sein Fühlen als auch was sein Denken betrifft, und Angst als Motivator spielt eine weit geringere Rolle.
Die Auswirkungen des kulturellen Kontextes auf die Therapie lassen sich auf eine einfache Formel bringen: ”Things have to be done fast in America, and therefore therapy has to be »brief«” (p- 148).

Das System der Checks and Balances
Die Organisation von Konflikten ist ein anderes Beispiel für die Unterschiede zwischen den USA und Europa. Dies zeigt sich am deutlichsten am Parteiensystem. Während in Europa in der Regel innerhalb der Parteien die Differenzen (zumindest die nach außen kommunizierten) klein gehalten werden und sich die Parteien als Oppositionen in Schach halten, ist in den USA der Unterschied zwischen den Parteien oft kaum wahrnehmbar. Stattdessen werden innerhalb der Parteien unterschiedliche Positionen eingenommen. An die Stelle des Konfliktes zwischen den sich jeweils ambivalenzfrei zeigenden politischen Einheiten tritt der Konflikt innerhalb der jeweiligen Einheiten.
In Amerika wird jede Partei von einem Team geleitet, das die verschiedenen Pressure-Groups sowie Interessenvertreter der relevanten Akteure in der Umwelt repräsentiert. In ihrer Auseinandersetzung kommt es zu einem ständigen System der Checks and Banlances, d. h. man ist sich der Spannungen bewußt, lebt mit dem Risiko des Auseinanderbrechens und versucht zu einem Interessensausgleich zu kommen. Die so gefundenen Entscheidungen sind in der Regel tragfähig und haben große Erfolgschancen. Wenn es zu keiner Entscheidung kommt, so müssen die zugrunde liegenden Koalitionen neu bedacht und geformt werden.
Auch wenn die Öffentlichkeit den offiziellen Vorsitzenden solcher Gremien ein hohes Maß an Macht zuschreibt, beruht das Konstruktionsprinzip darauf, dass eine Gruppe Gleicher sich in ihrer individuellen Macht limitiert und balanciert.
Im europäischen System steht sich eine Zahl gleicher organisatorischer Einheiten gegenüber, die sich gegenseitig formen und in ihrer Macht begrenzen. Die Führung in solchen Organisationen kann sich darauf verlassen, dass die Mitglieder mehr oder weniger geschlossen hinter ihr stehen. Das führt meist zu einem hierarchisch geordneten System. Doch es braucht die Opposition, um sich intern zu definieren und die Homogenität intern zu wahren.
Diese Organisationsprinzipien sind auch auf der Ebene der Persönlichkeitsstruktur zu beobachten. Amerikaner sind eher  dazu bereit, widersprüchliche Elemente innerhalb ihrer eigenen Persönlichkeit zu akzeptieren als Europäer. Ohne dadurch in Identitätskrisen zu stürzen, erlauben sie sich das Wechseln von Meinungen, Wohnorten, Ehepartnern, Berufen usw. All dies wird unter der Überschrift “gute Anpassung” zusammengefasst.
Konflikte müssen aus amerikanischer Sicht gelöst werden, und das geht durch die Suche nach Alternativen, Kompromissen und Veränderung. Handlung und Umsetzung sind hoch bewertet, d.h. um es in psychoanalytischer Terminologie auszudrücken, das “Ich” übernimmt die Führung in den psychischen Prozessen.
Ganz anders der Europäer: Er schaut fatalistisch in die Welt, fügt sich ins Unvermeidliche und glaubt nicht so sehr ans Agieren. Er ist daher sehr viel mehr mit dem “Es” und dem “Über-Ich” beschäftigt. Und er versucht, die widersprüchlichen Tendenzen seines Erlebens, Fühlens, Wünschens in seiner Persönlichkeitsstruktur zu integrieren. Unterschiede sind zwischen Personen akzeptiert, aber nicht innerhalb einer Person. Die Prinzipien, die sich im einen Bereich der Wirklichkeit bewährt haben, werden auf andere übertragen. Man strebt nach Ganzheit und Universalität, was aber nur um den Preis der Selbsteinschränkung möglich ist. Außerdem wird dadurch die Bereitschaft zu Veränderung behindert.
Betrachtet man die Analogie zwischen der Organisation sozialer Systeme und der Organisation psychischer Systeme, so ist der kulturelle Unterschied auf beiden Ebenen derselbe. Interne Konflikte werden im einen Fall zur Entscheidungsfindung genutzt (USA), was die externen Konflikte reduziert, während im anderen Fall (Europa) interne Konflikte reduziert werden, was die externe Konflikte verstärkt. Die Konflikte bleiben inhaltlich im Prinzip dieselben, die Organisationsformen ihrer Bewältigung sind jedoch sehr verschieden.
Dass es zu solch einer Isomorphie zwischen politischen und psychischen Strukturen kommen kann, lässt sich am ehesten dadurch erklären, dass die auf der politischen Ebene feststellbaren, kulturspezifischen Prinzipien auch für die familiäre Kommunikation gelten.

Information und Codifikation
Ebenenwechsel: Vom relativ Konkreten zum Abstrakten, von der amerikanischen Kultur zu den Grundlagen menschlicher Kommunikation. Bei den nun folgenden Kapiteln war Bateson federführend. Und er beginnt bei dem, was alle psychologischen Theorien verbindet: dem Unterschied zwischen intrapersonalen Prozessen und den Ereignissen in der Außenwelt bzw. dem, was sie verbindet – der Codifikation. Sie wird von Ingenieuren als ”substitution of one type of event for another, such that the event substituted shall in some sense stand for the other” definiert (p. 169).
Um diese Funktion erfüllen zu können, muß Codifikation systematisch sein, d.h. es muß eine systematische Beziehung zwischen inneren und äußeren Ereignissen bestehen. Ist diese Beziehung nicht systematisch, so wirkt sie als “Rauschen” (”noise”), das nicht dekodiert werden kann.
In der menschlichen Wahrnehmung und seinen kognitiven Prozessen kommt es zu einer Abfolge von Codifikationen. Was nach Batesons Ansicht bei diesen vielfältigen Umformungen – Transformationen im mathematischen Sinn – konstant bleibt, sind Beziehungsmuster.
Wie von den Ingenieuren vorgegeben unterscheidet Bateson auch in der menschlichen Kommunikation zwischen digitaler und analoger Codifikation, wobei er es für möglich hält, dass nicht nur das Nervensystem in diese Prozesse einbezogen ist, sondern dass ”the whole moving body may be used as an analogic component. It is probable, for example, that some people empathize the emotions of others by kinethetic imitation.  In this type of thinking, the body would be an experimental analogue, a model, which copies changes in the other person...” (p. 171).
Als dritte Form der Codifikation führt Bateson Gestalten an. Dabei geht es um die Identifikation formaler Beziehungen zwischen Objekten und/oder Ereignissen und ihre Klassifizierung aufgrund formaler Kategorien. Dies ökonomisiert nicht nur jede Art der Kommunikation, sondern bildet die Grundlage dafür, so etwas wie “Objekte” zu konstruieren. Vor der Wahrnehmung eines “Dings” erfolgt die Registrierung von Relationen. Und um eine genauere Kenntnis von Gegenständen in der Außenwelt zu erhalten, verändern Menschen immer ihre Beziehung zu ihnen. Wir streichen mit der Hand über Oberflächen, um genauer zu spüren, wie sie sind, verändern unseren Blickwinkel, um ein vollständigeres Bild zu gewinnen usw. ”In this sense, our initial sensory data are always ‘first derivatives‘, statements about differences which exist among external objects or statements about changes which occur either in them or in our relationship to them” (p. 173).
Bei der Figur-Grund-Unterscheidung scheint es so, dass der Empfänger die Tatsache nutzt, dass bestimmt sensorische Endorgane nicht stimuliert sind oder gar inhibiert werden, um ein größeres Verständnis für die Areale, die stimuliert sind, zu gewinnen. Es ist ein Charakteristikum der Codifikation, dass Information immer “multiplikativ” ist. ”Every piece of information has the characteristic that it makes a positive assertion and at the same time makes a denial of the opposite of that assertion ... [...] ... always the elementary unit of information must contain at least this double aspect of asserting one truth and denying some often undefined opposite” (p. 175).
Eine analoge Struktur zum System der Codifikation weist das System der Werte auf. ”The value system, as organized in terms of preference, constitutes a network in which certain items are selected and others passed over or rejected, and this network embraces everything in life” (p. 176). Was beide Systeme ebenfalls miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass die negierte Klasse undefiniert bleibt oder bleiben kann. Man sagt, beispielsweise, man möge dies oder jenes, ohne dass man gleichzeitig definieren muss, was man alles nicht mag (oder auch umgekehrt). Dies entspricht der Thematisierung der Gestalt, ohne den Grund zu erwähnen, oder umgekehrt, der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Grund ohne auf die Gestalt zu achten. ”People will say that the figure has ‚meaning‘ for them...” (p. 176).
Was den Autoren als die zentrale philosophische Einsicht erscheint, die den größten Umschwung in der Geschichte des menschlichen Denkens seit Aristoteles und Platos zur Folge hat, ist die von Norbert Wiener ins Blickfeld gerückte Beziehung zwischen Information und Negentropie, der beide Begriffe als Synonyme betrachtet. Hier sehen sie die Chance, die Körper-Geist-Dichotomie aufzulösen. Es geht um Ordnung und ihre Auflösung, und beides sind Beobachterphänomene.
Wenn der Beobachter in die Aussagen über das beobachtete System einbezogen wird, so wird die Ähnlichkeit deutlich: ”Negative entropy, value, and information, are in fact alike in so far as the system to which these notions refer is the man plus environment, and in so far as , both in seeking information and in seeking values, the man is trying to establish an otherwise improbable congruence between ideas and events” (p. 179).
Wenn Wert und Information so ähnlich sind, so stellt sich die Frage, wie das eine ins andere übersetzt werden kann. Diese Frage versuchen die Autoren damit zu beantworten, dass jede Botschaft, sei es ein neuronaler Impuls oder die Worte in einer Konversation, zwei “Bedeutungen” habe. ”On the one hand, the message ist a statement or report about events at a previous moment, and on the other hand it is a command – a cause or stimulus for events at a later moment” (p.179).
Jede Kommunikation weist diese Dualität (report vs. command) auf. Doch die Sachlage ist noch weit komplexer, denn Kommunikation kann sich auch auf Kommunikation beziehen (Meta-Kommunikation), die Beziehung zwischen den Kommunikationsteilnehmern, ihre Komplementarität oder Symmetrie.

Ein epistemologischer Ansatz des psychiatrischen Denkens
Sucht man nach dem gemeinsamen Nenner der Überlegungen, die Ruesch und Bateson in ihrem Werk präsentieren, so kann man als integratives Prinzip eine epistemologische Konzeptualisierung der gesamten Psychiatrie finden.
Ihre Argumentation folgt konsequent und konsistent der Linie, dass die Untersuchung von Wissen und Information untrennbar an die Untersuchung von Kommunikation gebunden ist: an das Studium der Prinzipien der Codifikation, an Zwecke und Werte, die der Beobachter setzt.
Wenn sie von Epistemologie sprechen, so meinen sie damit das System der Prämissen, die  dem Denken und Sprechen zugrundeliegen, d.h. im gegebenen Fall der Psychiatrie. Und so wie Informationen erst durch Unterschiede gewonnen werden können, treten auch solche Prämissen erst ins Bewusstsein, wenn sie mit abweichenden Vorannahmen konfrontiert werden.
Die Psychiatrie hat sich als Studium der Psychopathologie entwickelt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf Abweichungen, Unerwünschtes und Abnormität gerichtet, die jeweiligen Gegenbegriffe sind ihr nicht verfügbar, und der durchschnittliche Psychiater ist nur wenig mit “normaler” Psychologie vertraut. Was Diagnose genannt wird, enthält eine Unmenge von Informationen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen über das System der Codifikation des Patienten wie des Psychiaters. Von zentraler Bedeutung für die Psychiatrie ist dabei zu realisieren ”that the observer and even the theorist must be included within the systems discussed” (p. 253). Ihre Aussagen sind ”human constructions and can only be understood as products af an interaction between the data and the human scientist, living in a given epoch in a given culture” (p. 253). Die Frage, die sich daraus für die Psychiatrie ergibt, ist, ob sie sich als reflexive Wissenschaft versteht, die ihre eigenen Prämissen, Theorien und Praktiken zum Gegenstand ihrer eigenen Untersuchungen macht. Der Theoretiker gestaltet seine Theorien heute immer aufgrund dessen, was der Praktiker gestern getan hat, und morgen wird der Praktiker etwas anderes tun, aufgrund gerade dieser Theorien.

Individuum, Gruppe und Kultur
Es gibt für Menschen keine direkte Möglichkeit herauszufinden, ob ihr Bild der Welt, ihre Annahmen und Wahrnehmungen, der Realität entsprechen. Die einzige Methode, die Existenz der Welt zu überprüfen besteht darin, als Beobachter die eigene Sichtweise mit der anderer Beobachter zu vergleichen. Sollten sich dabei Diskrepanzen ergeben, so ist niemand in der Lage, zu entscheiden, was die Wahrheit ist. Dennoch ist es nützlich, auch von der Annahme einer unabhängigen Realität in der Kommunikation auszugehen, als ob sie von einem außenstehenden, “übermenschlichen” Beobachter erfasst würde.  Dann nämlich kann er seine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Positionen der Kommunikationsteilnehmer richten und ihre Wechselbeziehungen analysieren. Das ist es, was beispielsweise der Psychiater in der Kommunikation mit seinem Patienten tun kann und muß. Er folgert aus dem Verhalten in der Kommunikation auf intrapsychische Prozesse seines Gegenübers und muß dabei unterschiedliche Kontexte in seine Interpretationen und Deutungen einbeziehen.
Als erstes ist hier die soziale Situation bzw. der unmittelbare Kontext der Kommunikation zu nennen. Sie wird von jedem der Beteiligten unterschiedlich etikettiert, was davon abhängt, wie jeder die Wahrnehmung des anderen wahrnimmt. Aus welcher Position heraus wird beobachtet? Welche Spielregeln werden als gültig betrachtet? Welche Rollen werden übernommen bzw. zugewiesen?
Als nächstes treten die unterschiedlichen Kommunikationsnetzwerke ins Blickfeld. Sie existieren allesamt gleichzeitig, wenn sie auch den unterschiedlichen Beobachtern nur selektiv zugänglich sind und von ihnen jeweils unterschiedlich als metakommunikativer Rahmen genutzt werden.
Das intrapersonale (d.h. intrapsychische und intraorganismische) Netzwerk ist dadurch charakterisiert, das der Selbstbeobachter immer in seiner Totalität an der Kommunikation teilnimmt. ”Both the place of origin and the destination of messages are located within the sphere of one organism” (p. 278). Daher kann das individuelle System der Codifikation nicht selbst überprüft werden, es gibt keine Außenposition.
Das interpersonale Netzwerk der Kommunikation ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmer immer Sender und Empfänger von Signalen sind, was eine prinzipielle Gleichheit zwischen ihnen etabliert. Allerdings kann jeder nur begrenzt beobachten, was geschieht. Er kann seine Aufmerksamkeit nicht gleichermaßen und gleichzeitig auf seine propriozeptive Körperwahrnehmung in Beziehung zu anderen wie auf die Wahrnehmung anderer oder seinen und ihren sozialen Status richten.
Beim Gruppennetzwerk (ein Begriff, der von den Autoren synonym mit Organisation verwendet wird) kann eine Spezialisierung und Restriktion von Funktionen und die Entstehung von Ungleichheit hinsichtlich des Sendens und Empfangens beobachtet werden. Typisch sind dabei Muster des “one person to many” und “many persons to one”. Dies sind Merkmale von Organisationsprozessen, die einen gerichteten Informationsfluß und die Einordnung des Individuums und seiner Handlungen in eine übergeordnete soziale Einheit ermöglichen.
Im kulturellen Netzwerk werden Botschaften von vielen Personen zu vielen anderen Personen gesandt. Die Absender sind nicht identifizierbar, und die Empfänger sind sich in der Regel nicht bewußt, dass sie derartige Botschaften erhalten: ”Rather the message seems to be an unstated description of their way of living” (p 282). Sie werden nicht irgendwelchen menschlichen Schöpfern zugeschrieben, sondern als selbstverständlich voraus gesetzt. Beispiele dafür sind Botschaften über die Sprache, linguistische Systeme, ethische Prämissen, Theorien über die Beziehung des Menschen zum Universum usw. Sie sind in den Regeln des Alltags implizit, werden aber auch schriftlich durch mythische oder historische Dokumente und Monumente tradiert.
In all diesen größeren Netzwerken ist Information und Wissen nicht im Individuum allein lokalisiert, sondern in den Kommunikationswegen. Das soziale System als Ganzes ist in der Lage, seine Erfahrungen zu wiederholen, es ist Träger des Wissens. Es ist durch die Interaktion mehrerer Teilnehmer entstanden. Da sie individuell zu selbstkorrigierendem Verhalten fähig sind, ist das Verhalten der größeren sozialen Einheit stets in gewissem Maße unvorhersehbar. Das macht die Zukunft solcher Systeme immer unkalkulierbar.

Nachbemerkung
Diese kurze Skizze des Inhalts des Buches von Juergen Ruesch und Gregory Bateson kann die Lektüre und das Studium des Textes nicht ersetzen. Es sollte nur deutlich machen, dass die angeschnittenen Themen eine Exposition für die nächsten 50 Jahre der Entwicklung der Systemtheorie, zumindest im Bereich der Psychiatrie und der Sozialwissenschaften, darstellte. Die Positionen des radikalen Konstruktivismus, der Kybernetik der Kybernetik mit ihrer Einbeziehung des Beobachters, die Grundlagen von Spencer-Browns „Laws of Form“, ja,  sogar das Konzept der operationellen Geschlossenheit psychischer Systeme sind bereits entworfen. Dass die Ideen der beiden Autoren wegweisend waren, erwies sich vor allem im Bereich der Psychiatrie, speziell in der Entwicklung der sogenannten “systemischen Therapie”. Sie hat das epistemologische Verständnis der Psychiatrie als reflexiver Wissenschaft und Praxis ernst genommen und in Form spezifischer Methoden operationalisiert. Aber auch hier gilt wohl, dass die heutige Praxis sich durch diese Theorieansätze so verändert hat, dass sie morgen einer neuerlichen theoretischen Reflexion bedarf…





Eine weitere Rezension des Buches von Dirk Baecker für die TAZ 1996 (PDF)





Verlagsinformation:

"Das Buch von Jürgen Ruesch und Gregory Bateson über Kommunikationen und Psychiatrie fällt aus dem Rahmen, weil es heute wahrscheinlich aktueller und wichtiger ist, als es bei seinem ersten Erscheinen 1951 war. (Was die Haltbarkeit beziehungsweise schnelle Verderblichkeit angeht, unterscheiden sich wissenschaftliche Wahrheiten meist nur im geringem Maße von Südfrüchten.) Dieses Buch wurde geschrieben in der Pionierzeit der Kybernetik, als eine Handvoll Querdenker unser wissenschaftliches Weltbild revolutionierte. Die Autoren versuchten in ihrem Buch das neue Denkmodell - heute würden wir es "systemisch" nennen - auf die Psychiatrie anzuwenden. Kommunikation ist für sie die Phänomenebene, auf der es möglich ist, die verschiedenen, scheinbar unvereinbaren Aspekte der Psychiatrie - die unterschiedliche Logik körperlicher, geistig-seelischer und sozialer Prozesse - in einem einheitlichen Modell zu integrieren. In ihrer pragmatischen Schrift lieferten sie dazu eine große Zahl grundlegender Ideen, die inzwischen (leider) erst zu einem Bruchteil ihre genaue Ausformulierung gefunden haben."


Vorwort der Autoren Juergen Ruesch und Gregory Bateson für die Neuauflage von 1968:

Die Informationswissenschaften - vielleicht die aufregendste wissenschaftliche und intellektuelle Innovation des 20. Jahrhunderts - entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg. Die Kongreßberichte der frühen Macy-Konferenzen über Kybernetik, Wieners Kybernetik oder Kontrolle und Kommunikation in Tier und Maschine (1948) und Shannon und Weavers The Mathematical Theory of Communication (1949) markieren den Beginn einer neuen Ära. Während die wissenschaftliche Gemeinschaft versuchte, die neuen Denkrichtungen, welche die Kommunikationsingenieure eingeführt hatten, in sich aufzunehmen, unterzog sich die soziale Struktur der Universitäten bemerkenswerter Veränderungen. Fachleute mit unterschiedlichem Hintergrund begannen in Teams zusammenzuarbeiten. Die traditionelle Trennung der akademischen Fakultäten wurde unscharf, und auf der Basis eines interdisziplinären Mitarbeiterstabs wurden neue und ehrgeizigere Aufgaben übernommen.
Ungefähr zur gleichen Zeit tauchten neue Orientierungen im Feld der geistig-seelischen Gesundheit auf. Vor dem Erscheinen der Tranquillizer waren die therapeutischen Bemühungen der Psychiater hauptsächlich auf die Behandlung und Pflege der großen Psychosen gerichtet, und ihr wichtigstes Handwerkszeug waren Insulin- und Elektroschocktherapie. Dann kam der zweite Weltkrieg, und der Psychiater war plötzlich mit der Behandlung von Tausenden von Fällen betraut, die unter irgendeiner Art von psychologischem und sozialem Streß gelitten hatten. Unter diesen Umständen erwies sich die klassische Psychopathologie für das Verständnis von Persönlichkeitsstörungen, Psychoneurosen und psychosomatischen Zuständen als ineffektiv. Statt dessen wurden die Darlegungen der dynamischen Psychiatrie mit ihrer Schwerpunktsetzung auf intrapsychischen Prozessen populärer. Psychoanalytische Behandlungsmethoden erwiesen sich aber als zu zeitaufwendig, und die Linienoffiziere, Flugsanitäter, Crew-Manager und Psychiater wurden stark unter Druck gesetzt, die Männer in den aktiven Dienst zurückzubringen. Neue Methoden mußten entwickelt werden, und die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tatsache, daß die Gruppe eine große Hilfe bei der Rehabilitation neuropsychiatrischer Fälle war. Gruppenverfahren begannen, einen Teil der Ressourcen des Psychiaters auszumachen.
Zu der Zeit, als dieses Buch geschrieben wurde, war es vollkommen klar, daß das Zeitalter des Individuums der Vergangenheit angehörte. Trotz des zeitweiligen Blühens der Psychoanalyse war der Hauptstrom des Geschehens nicht länger mit den privaten Problemen von Individuen beschäftigt. Die Drohung atomarer Zerstörung, die Bevölkerungsexplosion, das schreckenerregende Gespenst künftiger Hungersnot, die fortschreitende Verunreinigung von Luft und Wasser und der graduelle Zerfall von urbanen Zentren, all das wies auf die Tatsache hin, daß der Umgang mit den menschlichen Problemen auf die herkömmliche Art ineffektiv geworden war. Der psychologische Mensch war tot, und der soziale Mensch hatte seinen Platz eingenommen. Damals stand aber keine einheitliche oder allgemeine Theorie zu Verfügung, die in angemessener Weise die Person, die Gruppe und die Gesellschaft in einem System repräsentieren konnte. Es ist wahr, es gab Theorien, die sich auf kleine Gruppen einerseits bezogen und auf die soziale Ordnung auf der anderen Seite; aber was fehlte, war das verbindende Glied, das den Wissenschaftler in die Lage versetzte, Person mit Person, Person mit Gruppe und die Gruppe mit der größeren sozialen Ordnung zu verknüpfen.
An diesem Punkt waren die theoretischen Entwicklungen im Feld der Kybernetik und der Kommunikationstechnik imstande, die Kluft zu überbrücken. Indem man den Fokus nicht auf die Person oder auf die Gruppe richtete, sondern auf die Botschaft und den Kreisprozeß als Forschungseinheit, war ein Weg gefunden, die verschiedenen Einheiten zu verbinden. Bemerkenswert in menschlichen Systemen ist, daß der Kreisprozeß, der erforscht werden muß, gewöhnlich zwei oder mehr Personen einschließt. Tatsächlich muß der Ursprung einer Botschaft oft zurückverfolgt werden, wie sie von Person zu Person weitergereicht wird, durch Gruppen und Maschinen, transformiert wird, bis sie schließlich ihren intendierten Bestimmungsort erreicht, wo ihre Wirkungen im allgemeinen auf die Originalquelle zurückwirken. Die Beschreibung einer Kommunikationstheorie, die an die menschliche Situation und besonders an die Bedürfnisse der Psychiatrie angepaßt war, war das Ziel, mit dem dieses Buch ursprünglich geschrieben wurde.
Nahezu zwanzig Jahre sind verstrichen, seit dieser Band vorgestellt wurde, und in der Zwischenzeit hat sich die Wissenschaft exponentiell beschleunigt. Die Annäherung von Physiologie, Ökologie und Ethologie - Gebiete, welche die Transaktionen des Organismus mit seiner physikalischen und sozialen Umwelt erforschen - haben zum Entstehen allgemeiner Systemtheorien in den biologischen Wissenschaften geführt. Die Konvergenz von Psychiatrie, Psychologie, Soziologie und Anthropologie - Feldern, die das menschliche Verhalten allein oder in Gruppen erforschen - führten zu dem, was als Verhaltenswissenschaften bekannt wurde. Die Konvergenz von Verwaltung, sozialer Organisation, Gruppenmanagement und Gruppentherapie - Feldern, die allgemein die Tendenz zu steuern, zu organisieren oder soziales Verhalten zu verändern miteinander teilen - führten zu einem theoretischen Wissensfundus, der sich mit sozialen Operationen befaßt. Parallel zu diesen wissenschaftlichen Entwicklungen sind wir in der politischen Arena Zeugen einer Beteiligung der Regierung an den ehemals privateren Bereichen von Erziehung, medizinischer Versorgung, Wohnung und Bürgerrechten, mit dem Ergebnis, daß die lange vernachlässigte soziale Perspektive der menschlichen Existenz neben den technologischen Sichtweisen nahezu Gleichberechtigung erlangt hat.
Die Evolution der Kommunikation hat nicht nur zur Entwicklung einer besseren Kommunikationsmaschinerie geführt, sondern zu einer ganzen Reihe neuer menschlicher Verhaltensweisen. Der Computer hat zum einen die Stellung eines Hilfs-Gehirns des Menschen eingenommen, und die Aufgaben der Informationsspeicherung, der Wiedergewinnung von Information, Datenüberprüfung, -berechnung und -übersetzung brauchen nicht länger vom menschlichen Gehirn durchgeführt zu werden. Außerdem können Computer als wissenschaftliche Modelle von Organismen und Gesellschaften gebraucht werden, und die Simulation von natürlichen Phänomenen erlaubt es dem Wissenschaftler, die Richtigkeit seiner Formulierungen zu überprüfen. Im Gebiet der Psychiatrie haben wir Programme, die in der Lage sind, das Verhalten von Patienten und Psychiatern zu simulieren. Das Gespräch zwischen zwei Computern - einer, der den Doktor simuliert, und einer, der den Patienten simuliert - ist fast nicht von der Interaktion in Fleisch und Blut zu unterscheiden. Computerisierte Lernprogramme und Therapiemaschinen sind schon weit über das Experimentierstadium hinaus. Während in der Vergangenheit der Mensch mit Tieren oder mit Menschen interagierte, sieht er sich nun, in Ergänzung dazu, aus Metall hergestellten autonomen Quasi-Organismen gegenübergestellt. Somit hat der moderne Mensch mit der menschlichen Interaktion, mit der Mensch-Maschinen-Interaktion und der Maschine-Maschine-Interaktion zu kämpfen.
Kommunikation ist damit zur sozialen Matrix des modernen Lebens geworden. Trotz der Tatsache, daß das vorliegende Buch weder die Geschwindigkeit der technischen Entwicklungen noch das Ausmaß der modernen sozialen Verpflichtungen beschreiben konnte, sah es doch einwandfrei den Trend der künftigen Geschehnisse voraus: daß die zunehmend größere Rolle der Massenmedien, der Computer und selbststeuernder Geräte in unserer Zivilisation als Parallele zu einer wachsenden theoretischen und praktischen Schwerpunktsetzung auf soziale Kommunikation und soziale Organisation gesehen werden kann. Schon vor zwanzig Jahren war klar, daß die komplexe Maschine nicht ohne ihre Dienerin, die soziale Organisation, existieren kann. Der in diesem Band skizzierte Ansatz sollte auch einen bedeutungsvollen Einfluß auf die spätere Entwicklung der allgemeinen Systemtheorie und die vorherrschenden Sichtweisen dessen, was nun "Sozialpsychiatrie" genannt wird, haben.
Nach der Fertigstellung dieses Buches entwickelten beide Autoren ihre Ideen weiter. Gregory Bateson verfeinerte seine Theorien des Spiels, der menschlichen Interaktion und der Kommunikationsweisen von Schizophrenen, während Jürgen Ruesch seine Vorstellungen von nonverbaler, gestörter und therapeutischer Kommunikation verdeutlichte. Die vorliegende Ausgabe dieses Bandes zielt also darauf ab, den Leser mit den Grundlagen, auf denen diese späteren Entwicklungen aufgebaut sind, vertraut zu machen.
Die Autoren, Oktober 1967


Vorwort von Paul Watzlawick zur Ausgabe von 1987:

"Die Welt kann als eine Myriade von ''An alle, die es angeht''-Botschaften betrachtet werden", postulierte 1947 der große Mathematiker Norbert Wiener. Seine Aussage ist repräsentativ für den tiefgreifenden Wandel, der in unserer Art, die Welt zu begreifen, begonnen hatte. Die Paradigmen der klassischen Wissenschaft hatten die Grenzen ihrer Brauchbarkeit erreicht. Mehr und mehr Phänomene schienen sich der linearen Ursache-Wirkungs-Erklärung natürlicher Prozesse zu widersetzen, und damit wuchsen Zweifel an der Gültigkeit der lange Zeit nicht in Frage gestellten Überzeugung, daß man erst die Ursachen in der Vergangenheit entdecken und analysieren muß, um die Gegenwart zu verstehen (und zu verändern). Vielleicht kam eine sogar noch einschneidendere Neuorientierung durch das, was fast die "Entdeckung" von Information als einer eigenständigen Entität in Ergänzung zu den klassischen Prinzipien der Materie und der Energie genannt werden kann. Eine Welt, interpretiert als "Myriade von Botschaften", die Botschaften hervorrufen, die ihrerseits an ihre eigenen Quellen rückgemeldet werden, wurde nun zum Gegenstand der Forschung.
In diese Zeit beginnender Gärung fällt die Veröffentlichung des vorliegenden Buches. Es ist die Gemeinschaftsarbeit von zwei Wissenschaftlern, die aus verschiedenen Disziplinen stammen, aber beide einen kosmopolitischen Hintergrund haben und konsequent imstande und willens sind, wissenschaftliche Annahmen von den ersten Prämissen an in Frage zu stellen: Jürgen Ruesch, ein Psychiatrie-Professor, und Gregory Bateson, ein Kulturanthropologe. Sie begegneten einander, während sie an der Medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in San Franciso lehrten, und sie ließen ihre Ideen in diesem Buch zusammenlaufen - während sie gleichzeitig die getrennte Autorschaft an ihren jeweiligen Kapiteln beibehielten.
Es mag heute schwer zu begreifen sein, daß dieses Buch nicht einmal zehn Jahre früher hätte geschrieben werden können, als es geschrieben wurde. Es ist richtig, daß damals schon eine beträchtliche Menge Arbeit über die theoretischen und praktischen Aspekte der Übermittlung von Information getan worden war, und die Semiotik (die allgemeine Theorie der Zeichen und Sprachen) hatte schon bedeutsame Fortschritte gemacht. Aber die unmittelbarsten Wirkungen des Informationsaustausches (die verhaltensmäßigen, pragmatischen Wirkungen) und die Art und Weisen, wie Kommunikation tiefgehend Verhalten bestimmt (tatsächlich Verhalten ist), diese Untersuchungen existierten fast noch gar nicht. Die Veröffentlichung von Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie kann als Entstehung eines neuen Wissensgebietes betrachtet werden - wenn wir willens sind, den unheilvollen Mißbrauch von Kommunikation, wie er von Werbung und Propaganda praktiziert wird, unbeachtet zu lassen.
Was überrascht, ist, daß dieses Buch, geschrieben vor 35 Jahren, nicht nur historische Bedeutung hat, sondern es irgendwie geschafft hat, seinen neuartigen, fast revolutionären Charakter zu bewahren, der das nochmalige Lesen zu einem intellektuellen Vergnügen macht.
Sogar noch wichtiger sind aber seine praktischen, klinischen Aspekte. Das Buch fordert die Zweckmäßigkeit der dogmatischen "Warum"-Frage heraus, indem es aufzeigt, daß "in den letzten hundert Jahren das medizinische Konzept der Ätiologie, das aus dem Suchen nach unmittelbaren Ursachen einer Krankheit oder einer gestörten Funktion besteht, die Psychiatrie im großen und ganzen dominiert hat" (Seite 65 - 70). Aus Betrachtungen dieser Art und aus ihrem soziokulturellen und anthropologischen Hintergrund heraus gelangen die Autoren zu wichtigen neuen Perspektiven. Aufgrund seiner klinischen Ausbildung würde der traditionelle Psychiater die Phänomene gestörten Verhaltens anhand eines begrifflichen Modells der Geisteskrankheit untersuchen, das schon fest in seinem Kopf verankert ist, und er würde dann versuchen, ein bestimmtes Verhalten innerhalb des Rahmens dieses Modells zu verstehen (und zu verändern). Im Gegensatz dazu ist der Anthropologe darin ausgebildet, sich seinen Forschungsgegenständen (eine fremde Kultur, Zivilisation oder Gesellschaft) in einer Weise zu nähern, die seinen Geist so frei wie menschlich möglich von vorgefaßten Vorstellungen und festgelegten theoretischen Modellen läßt. Er wird nach Redundanzen des beobachteten Phänomens Ausschau halten, und er wird so stufenweise zu einem vorläufigem Modell des interaktiven Prozesses gelangen, welcher die "Realität" dieses bestimmten Systems menschlicher Beziehungen formt. Auf psychiatrische Bedingungen angewendet, fragt dieser Ansatz nicht länger: "Warum verhält sich diese Person in dieser bizarren, irrationalen Art und Weise?", sondern eher: "In welchem menschlichen Kontext würde dieses Verhalten das bestmögliche sein - vielleicht das einzig mögliche?" Wenn er das tut, hat der Psychiater drei Konzepte von allergrößter Wichtigkeit in seine Arbeit eingeführt: Kommunikation, die Relativität soziokultureller Normen (und damit auch die Definition, was als geistig gesund oder krank angesehen wird) und den Kontext, in dem das alles stattfindet. In dieser Sichtweise ist der "Patient" nicht länger ein monadisches Individuum, sondern eher ein System von gestörten Beziehungen. "Das Zeitalter des Individuums ist vorbei", stellten die Autoren in ihrem Vorwort zur Ausgabe von 1968 fest.
Im gleichen Vorwort erwähnten die Autoren, daß sie nach der Fertigstellung des Buches ihre Ideen unabhängig voneinander weiterentwickelten. Zwischen 1956 und 1961 publizierte Dr. Ruesch  drei Bücher, die eine Fülle klinischen Materials über nonverbale, gestörte und therapeutische Kommunikation enthalten. Gregory Bateson  hatte inzwischen sein eigenes, kleines Forschungsteam gegründet und verfolgte einige der fruchtbarsten Ideen, die er erstmals im vorliegenden Band geäußert hatte - vor allem die zwei Arten der "Bedeutung" jeder Botschaft, genannt Inhalts- und Beziehungsaspekt. Von noch größerer Bedeutung sind seine Behandlung des Paradoxes und der Rolle, die es in der Kommunikation spielt. Wie der Leser weiß, führte dies zu einer neuartigen Sichtweise der schizophrenen Kommunikation, der Double-bind-Theorie, und neuen Formen kurztherapeutischer Interventionen sowie zu einem besseren Verständnis kreativer Prozesse.
Die Autoren haben für ihre Arbeit den Untertitel Die soziale Matrix der Psychiatrie gewählt. Was sie zu dieser Zeit noch nicht wissen konnten, ist, daß das Buch selbst zur Matrix für spätere Entwicklungen von großer Wichtigkeit werden würde, nicht nur für die Psychiatrie, sondern für unser Verständnis von Verhalten im weitesten Sinne.
Paul Watzlawick, Palo Alto, Kalifornien, Sommer 1986


Inhalt:

Vorwort zur Ausgabe von 1987
Vorwort zur Ausgabe von 1968
1. Werte, Kommunikation und Kultur. Eine Einführung
2. Kommunikation und menschliche Beziehungen. Ein interdisziplinärer Ansatz
3. Kommunikation und Geisteskrankheit. Ein psychiatrischer Ansatz
4. Kommunikation und amerikanische Werte. Ein psychologischer Ansatz
5. Amerikanische Perspektiven. Ein integrativer Ansatz
6. Kommunikation und das System der "Checks and Balances". Ein anthropologischer Ansatz
7. Information und Kodifikation. Ein philosophischer Ansatz
8. Konvention und Kommunikation. Wo Validität vom Glauben abhängt
9. Psychiatrisches Denken. Ein epistemologischer Ansatz
10. Die Konvergenz von Wissenschaft und Psychiatrie
11. Individuum, Gruppe und Kultur. Ein Überblick über die Theorie der menschlichen Kommunikation
Nachwort zur deutschen Ausgabe



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