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Rudolf Welter: Leer Gut Geschichten - Teil 1
I. Ein Kleidermacher

Eher scheuer Mensch. Muss aber beruflich in Körpernähe seiner Kunden kommen, beim Massenehmen, beim Anprobieren von Anzügen. Ungewollte erotische Situationen entstehen. Lebt allein stehend. Arbeitet handwerklich, traditionell, im kleinen Atelier, wo er nur noch Kunden, keine Kundinnen mehr empfängt. Wohnt über dem Atelier, lebt bescheiden, sammelt ungewöhnliche Kleidungsstücke, besucht Museen, in denen Kleider ausgestellt sind. Erfindet immer wieder kleinere Kleidungsstücke, die sein Leben erleichtern.
Sein Name: Max Nadelmann


Kleider nähen

Mein bescheidenes Schneideratelier liegt an der ruhigen Knopfgasse in einer Kleinstadt. Über dem Atelier wohne ich. Frühmorgens, ich bin ledig, entscheide ich mich, zuerst Einkäufe zu tätigen oder direkt zur Arbeit ins Atelier zu gehen. Mein Atelier ist wie gesagt bescheiden eingerichtet. Ich arbeite gerne handwerklich, mit wenigen maschinellen Hilfsmitteln. Dies bedeutet, dass ich zur Herstellung eines Herrenanzugs, meine Hauptaufträge, etwa zwei Wochen Zeit benötige, mehrere Anproben durch die Kunden miteinbezogen. Dies wiederum bedeutet, dass ein Anzug dementsprechend teuer ist. Aber meine Kundschaft schätzt eben Anzüge ab dem Schneidertisch eher als ab der Stange.

Die Aufnahme der Körpermasse der Kunden ist für mich ein Ritual. Der Kunde steht mit erhobenem Kopf ruhig aufgerichtet vor mir, damit ich Masse des Oberkörpers nehmen kann. Mit dem Messband werden dann auch die Bundweite und die Schrittlänge gemessen. Dem letzteren haftet für mich immer wieder etwas Heikles, ich möchte sagen, Erotisches an. Muss ich doch mit meiner flachen Hand das Ende des Messbandes möglichst weit zum Beinanfang des Kunden hochfahren, um zu einer genauen Schrittlänge zu kommen. So gerate ich halt, professionell bedingt, recht nahe an intime Körperteile des Kunden.

Dann geht es ans Schneidern. Ein Rohprodukt des Anzugs entsteht. Bald einmal wird der Kunde zu einer ersten Anprobe aufgeboten. Mit dem Rohprodukt steht der Kunde vor mir. „Bitte stehen Sie jetzt still und spreizen sie Arme und Beine ein bisschen. Anschließend werde ich Sie bitten, sich auf diesen Stuhl hier zu setzen, dann noch auf den Boden zu knien. Es sind alles Stellungen, in denen ich die Passung des Anzugs prüfen muss. Sie sollten in keiner Stellung in ihren Bewegungen eingeschränkt sein“. Während dieser Überprüfung zupfe ich da und dort am Stoff, stecke sorgfältig Kugelkopfnadeln, um notwendige Veränderungen der Weiten zu markieren. Bin dann ein Akupunkteur, der am Kunden zwar keine Körperenergien umlenkt, ihm aber eine gute Erscheinung des Körpers verpassen will.

Nach mehreren Anpassungen ist der Anzug fertig. Der Kunde kommt, um ihn abzuholen. „Das ganze Herstellungsprozedere, Herr Schneidermeister Nadelmann, hat mich zu Zeiten schon etwas ungeduldig gemacht. Ich fragte mich, ob ich doch einen Anzug ab der Stange hätte kaufen sollen“. Dann war er aber sehr zufrieden mit dem Anzug ab dem Schneidertisch.

Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ich bei einem Anzug für einen etwas beleibten Herrn die gemessenen Weiten grosszügig umsetzte. Das heißt, ich habe beim Zuschnitt gleich mögliche, zukünftige Veränderungen im Gewicht und Umfang des Herrn einkalkuliert. Der Anzug saß aber trotzdem und der Kunde schätzte den Bewegungsfreiraum, der im Anzug eingebaut war.
 
Dann werden alle Anzüge, die ich schneiderte, im Alltag über Jahre getragen. Hunderte Male häuten sich Beine der Träger aus Hosen, den Beinkleidern, die Arme aus den Ärmeln der Oberteile. Über Nacht werden die Anzüge vermutlich bei einigen Kunden an einen Bügel gehängt, um am Morgen die Körper wieder straff zu kleiden.

Gelegentlich betätige ich mich auch als Störschneider, besuche Männer, mit und ohne Ehefrauen, in ihren Wohnungen oder Villen. Dort werden Masse genommen, Anproben durchgeführt und manchmal liefere ich die fertigen Anzüge gleich noch an die meist noblen Adressen der Kunden. Es sind vielfach betuchte Kunden, die darum auch immer feines Tuchwerk aussuchen und wählen, die ich zu Anzügen verarbeite. Oft wählen die Kunden Stoffe, die nicht meinem Geschmack oder des Schnittes des Anzuges entsprechen. Wenn ich die Wohnungen oder die Villen betrete, komme ich mir mit meiner bescheidenen Wohnung über dem Atelier sehr eigenständig vor. Nein, die Wohnungen und Villen die ich meine, sind mir zu üppig, zu ölig. Schwere Vorhänge fallen zu Boden, schwere Möbelstücke verstellen Wege und doch kann ich gelegentliche Einladungen zu einem Kaffee nicht ausschlagen, wenn ich einen Anzug abliefere.

Die Gründe, warum diese Kunden nicht zu mir ins Atelier kommen, sind verschieden. Ich glaube, dass sich einige zu stark der Oberschicht zugehörig fühlen und einen Besuch hinab zu meinem Atelier nicht akzeptieren können. Andere sind nicht mehr mobil genug, wagen größere Unternehmungen außerhalb ihrer Wohnung nicht mehr zu meistern. Dann frage ich mich, wieso sich solche Männer noch teure Anzüge leisten, wenn sie diese kaum noch tragen und vorführen können in der Öffentlichkeit.

Früher schneiderte ich Kleider auch für die Ehefrauen in diesen Häusern. Das wurde mir als eher scheuer Mensch dann zu körperlich, zu fleischig: Vermessungen und Anproben von Rohlingen an Frauen unterschiedlicher Unter- und Oberweiten, spärlich mit Unterwäsche bekleidet und das meistens in Absenz der Ehemänner, nein das ging mir zu nahe. Ich gab es auf.



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